sein werden. Und die Reformen, die uns zukunftsfähig machen, werden wie Lokomotiven empfunden, die uns aus dem Paradies schleppen. Je langsamer sie vorankommen, desto länger, so scheint man zu hoffen, könne man Paradiesluft schnuppern."
Schon im Juli des Jahres 1998 hatte Die Zeit auf der Grundlage einer aufwendigen Repräsentativ-Befragung festgestellt: Reform macht Angst. Aller Stillstand geht vom Volke aus. Die Deutschen fordern keinen Umbau des Sozialstaats, soweit das Fazit der Wochenzeitung.
An der Akzeptanz von Sozialreformen mangelte es auch im Sommer 2005 noch. Auf die Frage „Wären Sie mit weiteren Kürzungen im Sozialsystem einverstanden?“ antworteten nur 26 Prozent der Befragten mit „ja“, 70 Prozent mit „nein“ 13. Und auf „Sind Sie damit einverstanden, dass man ab 2011 erst mit 67 Jahren in Rente gehen soll?“ antworteten nur 21 Prozent mit „ja“, aber 74 Prozent mit „nein“14.
Für die Politik darf aber die mehrheitliche Ablehnung von schmerzlichen Reformen des deutschen Sozialstaats nicht die Kapitulation bedeuten. Sonst würde die „Besitzstandsrepublik" angesichts der großen Probleme einer alternden Gesellschaft und der Herausforderungen des globalen Wettbewerbs ihre Zukunft verspielen. Politiker müssen die Bürger mit notwendigen Veränderungen konfrontieren und um Zustimmung für ihre Reformpläne werben. Der Sachstreit über Alternativen sollte die Wahlkämpfe bestimmen, nicht die wechselseitige Herabsetzung. Wenn die Politik als das Eldorado der Lügner und Betrüger erscheint, dann vor allem, weil Politiker einander so nennen, hatte Erhard Eppler, die Galionsfigur der SPD-Linken, zu bedenken gegeben15.
Die Selbstdemontage der Politiker
„Politiker sagen das, was ankommt,
und nicht das, worauf es ankommt.“
Hans-Olaf Henkel
Der Ruf der Politiker ist nicht der beste. Sie bringen sich selbst in Verruf. Keinen Vorwurf machen sie einander so häufig wie den der Lüge. Wer soll ihnen vertrauen, wenn sie sich gegenseitig diffamieren und als unglaubwürdig bezeichnen? Kaum steht das Resultat einer Wahl fest, bezweifeln die Unterlegenen die Legitimität des Ergebnisses. So zieh die Union 1976 den sozialdemokratischen Arbeits- und Sozialminister Walter Arendt und Kanzler Helmut Schmidt der Rentenlüge. 1990 warf der unterlegene SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine dem Sieger Helmut Kohl vor, die erste gesamtdeutsche Bundestagwahl mit einer Steuerlüge gewonnen zu haben. Edmund Stoiber, von Gerhard Schröder 2002 knapp geschlagen, attackierte im Nachgang die Regierung Schröder mit der Behauptung, sie habe sich an die Macht geschwindelt und gelogen. Ein auf Drängen der Union eingesetzter Lügen-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages sollte den Vorwurf erhärten − tat dies aber nur aus der Sicht der Opposition.
Die Selbstdiskreditierung der Politiker kommt wie ein Bumerang auf sie zurück. Sie ruiniert jedoch nicht nur deren Ruf. Schlimmer ist, dass sich viele Bürger mit Grausen von dem „schmutzigen Geschäft“ abwenden.
Im Juni 200516 nannten auf die Frage, welche Partei am ehesten glaubwürdig sei, nur 13 Prozent die SPD, 26 Prozent die Union, aber 40 Prozent der Befragten meinten „keine Partei“. Bis April 200817 hatten sich Skepsis und Distanz der Bürger zur politischen Führungselite nicht geändert. Nur 17 Prozent der Befragten bescheinigten Politikern Kompetenz und Fähigkeit, nur 28 Prozent Verantwortungsbewusstsein. Im gleichen Frühjahr sank das Ansehen der Politiker in der Allensbacher Berufs-Prestige-Skala auf den niedrigsten jemals gemessenen Stand. Nur noch sechs Prozent der Befragten schätzten den Beruf des Politikers.
Zu diesem Ansehensverlust haben auch die wechselseitigen Lügnervorwürfe beigetragen. Aber diese Vorwürfe sind nach der Meinung vieler Bürger berechtigt. Politik und Wahrhaftigkeit wohnen selten unter einem Dach, heißt es in Stefan Zweigs „Marie Antoinette“. Das glaubt auch fast jeder zweite Deutsche. Der Aussage: „Politiker können versprechen, was sie wollen, ich glaube ihnen nicht mehr“, stimmten 45 Prozent der befragten Bürger zu. Und 57 Prozent warfen Ihnen vor, Tatsachen zu verdrehen oder zu beschönigen, um dadurch die Wahlen zu gewinnen18. Viele Wähler fühlen sich von den Wahlkämpfern in die Irre geführt. Folgenlos bleibt dies nicht. Die Wahlbeteiligung sinkt, das Lager der Nichtwähler wächst.
Populismusgefahr
„Diejenigen, die zu klug sind, um sich in der Politik zu engagieren,
werden dadurch bestraft, dass sie von Leuten regiert werden,
die dümmer sind als sie selbst.“
Platon
Es sind nicht nur die Lügnervorwürfe, die das Ansehen der Politiker ruinieren, sondern auch das wohlfeile Herausreden auf den Irrtum. Es hat in der Politik Methode. Wenn Politiker den Täuschungsvorwurf zurückweisen, aber Selbsttäuschung konzedieren, dann müssen sie sich Fahrlässigkeit und mangelnde Kompetenz vorhalten lassen. Täuschung und Selbsttäuschung haben für Politiker eine in gleicher Weise verheerende Konsequenz: die der Selbstabwertung. Sie verbrauchen das Vertrauen, auf das die Demokratie angewiesen ist.
Aber diese Gefahr schreckt zur Demagogie neigende Populisten nicht. Sie machen sich das politische Desinteresse und den Mangel an politischem und wirtschaftlichem Wissen zunutze und versprechen das Blaue vom Himmel. Populisten haben es in einer Gesellschaft der Unwissenden und Uninteressierten leicht, die Lufthoheit über den Stammtischen zu erobern. Sie täuschen „Bürgernähe“ vor, geben sich als die wahren Volksvertreter aus und sind doch nur Scharlatane. Sie sind Opportunisten, häufig rhetorisch glänzende Demagogen, schüren Ängste, Neid und Begehrlichkeiten, appellieren an das von den Nationalsozialisten missbrauchte „gesunde Volksempfinden“. Sie reden dem Volk nach dem Munde, operieren mit Schlagworten und Scheinlösungen, schüren Emotionen, bedienen Vorurteile. Nur Verantwortlichkeit und Nachhaltigkeit ist ihre Sache nicht. Die großen Vereinfacher machen haltlose Versprechungen, häufig wider besseres Wissen und ohne Gewissen.
Wenn es wirtschaftlich bergab geht, geht es für sie bergauf. Attraktiv sind populistische Parteien vor allem für Wähler, die sich benachteiligt fühlen. Das ist einer der Gründe für die Erfolge rechts- und linkspopulistischer Parteien in den neuen Bundesländern. Helmut Schmidt hat sich im September 2008 besorgt über den Stimmenzuwachs populistischer Parteien geäußert, eine Gefahr, die im Zuge eines wirtschaftlichen Abschwungs noch größer werden könnte. Eine andere nicht zu unterschätzende Gefahr ist, dass der politische Populismus auch in den Parteien der Mitte an Boden gewinnt und den Mut zur Wahrheit vollends verdrängt. Anzeichen für diesen „Lafontaine-Effekt“ gab es 2008 bei den beiden geschwächten Volksparteien.
Über die richtige Reaktion der Mitte-Parteien auf die populistische Gefahr lässt sich streiten. Ausgrenzungs- steht gegen Einbindungstheorie. Eine rechtspopulistische Protestpartei , die sogenannte Schillpartei, die 2001 von 19,4 Prozent der Hamburger Wähler in das Landesparlament gewählt worden war, hat nur wenige Jahre zusammen mit der CDU und der FDP die Hansestadt regiert. Sie hat sich in inneren Kämpfen aufgerieben, nach dem Rauswurf Schills durch den Hamburger Ersten Bürgermeister von Beust aus dem Senat und den darauf folgenden Neuwahlen an Bedeutung verloren und sich aufgelöst. In Berlin tolerierte die PDS ab Mitte 2001 zunächst einen rot-grünen Minderheitssenat unter dem Bürgermeister Klaus Wowereit, ab Oktober 2001 bildete sie mit der SPD eine rot-rote Landesregierung. Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2006 aber büßte sie 9,2 Prozent der Stimmen ein. Durch die Einbindung in die Verantwortung, durch das Mittragen des harten Sparkurses hatte die PDS ihren Oppositionsbonus verloren.
Doch eine verantwortliche, der Wahrheit verpflichtete politische Partei muss sich von populistisch-opportunistischen Parteien abgrenzen und den Wählern vor der Wahl sagen, welche Bündnisse sie nach der Wahl eingehen will. Die Frage, wer mit wem regieren soll, ist in einem Mehrparteien-System die wichtigste Frage, die die Wähler entscheiden müssen. Das können sie aber nur, wenn sie ihnen auch vorgelegt wird.
Конец ознакомительного