Erich Szelersky

Und Gott schaut zu


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      Deine Ur-Ur-Großeltern

      Krakau 1848

      Ich beginne mit meinen Aufzeichnungen in Krakau. Dort hat unsere Familie einmal gelebt.

      Das war in der Zeit der nationalen Bewegungen. Auch die Polen strebten nach einem geeinten Vaterland.

      »Jeszcze Polska nie zgineta.«

      »Noch ist Polen nicht verloren.«

      Überall in den Straßen von Krakau war das von Jozef Wybicki ein paar Jahrzehnte zuvor nach der dritten polnischen Teilung komponierte patriotische Kampflied, in dem zum bewaffneten Widerstand gegen die Besatzungsmächte aufgerufen wird, zu hören. Polnische Nationalisten zogen fahnenschwenkend durch die Straßen und forderten die Wiederherstellung des polnischen Nationalstaates.

      Die alte polnische Königsstadt Krakau war ein Hexenkessel. In dieser Zeit, etwa zwischen 1830 und 1850, lebte hier unsere Familie, Dein Ur-Urgroßvater Gregor Slapszi, seine Frau Maria, seine Tochter Martha und Gustav, Dein Urgroßvater.

      Ich weiß nicht, ob und wie lange wir schon vorher in Krakau ansässig waren, das ließ sich nicht mehr feststellen, aber sicher belegt ist, dass Dein Ur-Ur-Großvater, Gregor Szlapszi bis zu seinem Tod im Jahr 1849 als preußischer Beamter in der Verwaltung in Krakau gearbeitet hat.

      Die alte polnische Königsstadt hatte damals schon eine wechselvolle Geschichte hinter sich, doch seit dem Wiener Kongress 1815 waren die Verhältnisse besonders verworren. Russland hatte ein Königreich Polen proklamiert, das weite Teile des polnischen Territoriums umfasste und zu dessen König sich der Zar selbst ernannt hatte. Österreich und Preußen konnten diesen Machtzuwachs des Zarenreiches nicht verhindern. Als es um Krakau ging waren sie jedoch unnachgiebig. Da alle drei Staaten gleichermaßen Anspruch auf die zweitälteste Universitätsstadt Mitteleuropas erhoben, kam als Kompromiss ein sehr künstliches Gebilde, die Republik Krakau zustande, die in den darauffolgenden Jahren immer wieder Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen wurde.

      Krakau wurde unter das Protektorat Österreichs, Russlands und Preußens gestellt. Die Betroffenen wurden nicht gefragt. Achtundachtzigtausend Menschen lebten damals in der Stadt, fast ausschließlich Polen. Die Amtssprache war polnisch, man dachte polnisch, fühlte sich polnisch und sehnte sich nach der Wiederherstellung des polnischen Nationalstaates, den die Großmächte mit seiner Zerschlagung zwischen 1772 und 1795 vernichtet hatten.

      In dieser Zeit zunehmender patriotischer Gesinnung entwickelte sich Krakau zu dem maßgeblichen Zentrum des polnischen nationalen Widerstandes.

      Gregor Szlapszi war einer der Beamten in preußischen Diensten.

      Die politische Lage in den 1840-er Jahren war eine hochexplosive Mischung und so war es auch nicht verwunderlich, dass es immer wieder zu Aufständen kam. Um der Revolten Herr zu werden, wurde die Polizei unter österreichische Leitung gestellt. Als das auch nichts half besetzten russische, österreichische und preußische Truppen Krakau. Die Soldaten befanden sich in einer Art Kriegszustand. Überall in der Stadt wurde patroulliert und kontrolliert, und wer sich verdächtig machte wurde verhaftet. Die Lebensverhältnisse waren sehr schwierig und sie wurden noch schwieriger.

      Im Februar 1846 konnte ein Volksaufstand nur von zusätzlich herbeieilenden österreichischen Truppen niedergeschlagen werden. Daraufhin lösten die drei Besatzungsmächte die Republik Krakau kurzerhand auf.

      In der Hoffnung, die Ruhe auf diesem Wege besser sicherstellen zu können, annektierte das Kaiserreich Österreich Krakau und gliederte die Stadt in das Kronland Galizien ein. Anfangs beruhigte sich die Lage, doch als die Österreicher 1849 die Burganlagen auf dem Wawel in eine Festung zum Schutz gegen die panslawischen Pläne der Russen, zu deren Grenze es nur ein paar Kilometer waren, umbauten, kam es erneut zu Unruhen.

      Auf dem Wawelhügel, einem Ausläufer des Tschenstochauer Juragebirges, hatte der polnische König residiert. Dort jetzt die verhassten Besatzungssoldaten zu sehen war eine Provokation für jeden patriotischen Polen. Täglich gab es Anschläge. Besonders die neu errichteten Kasernenmauern waren immer wieder Ziel von Aktionen.

      Die Auseinandersetzungen mit den polnischen Nationalisten und die Bedrohung durch die Russen in Verbindung mit der Sorge um einen Krieg, der in dieser Lage durchaus hätte ausbrechen können, machte unserer Familie das Leben noch schwerer. Sie lebten in ständiger Sorge um ihr Leben und ihre und ihrer Kinder Zukunft. So hatten sie noch ein Jahr zuvor als bekennende Katholiken völlig ungehindert die Kirche besuchen können, um gemeinsam mit den polnischen katholischen Gläubigen die Messe zu feiern. Dies war anders geworden. Man verwehrte ihnen als Glaubensbrüder den Eintritt zwar nicht, doch von einem freundlichen Miteinander konnte selbst in der Kirche keine Rede mehr sein, im Gegenteil, Hass schlug ihnen ständig, und sogar in der Kirche, entgegen.

      Gregor Szlapszi und seine Familie waren preußisch, sprachen deutsch und legten Wert auf ihre preußische Staatszugehörigkeit. Für die Polen gehörten sie der verhassten Minderheit einer Besatzungsmacht an. Was aber für Gregor Szlapszi und seine Familie noch schlimmer war; ihnen fehlte als Preußen auch der Rückhalt der österreichischen Behörden, die zuerst an die Sicherheit ihrer Landsleute dachten und die im Sinne ihrer Regierung handelten, wenn sie die Lebensverhältnisse preußischer Beamten nicht erleichterten, sondern eher noch erschwerten. Nachdem man Schlesien im Siebenjährigen Krieg vor nicht einmal hundert Jahren an Preußen verloren hatte, war man in Wien fest entschlossen, Galizien und Krakau, das seit der ersten Teilung Polens 1772 zu Österreich gehörte, der Habsburger Krone zu erhalten. Und wenn die preußischen Beamten weggingen, würden immer mehr Verwaltungsaufgaben österreichischen Staatsbediensteten zufallen. Etwaige Ansprüche aus Potsdam würden somit immer unwahrscheinlicher.

      Gregor Szlapszi verließ die Wohnung nur noch wenn es absolut notwendig war. Seiner Frau und den Kindern verbot er, die Wohnung zu verlassen. Morgens ging er, für eine Droschke fehlte ihm das Geld, aufmerksam seine Umgebung beobachtend, in die Gewerbekammer, wo er in der Abteilung für die Genehmigung und Überwachung gefährlicher Anlagen, wozu damals auch der Betrieb der Eisenbahn gehörte, tätig war.

      Gregor Szlapszi befand sich mit seiner Familie zwischen den Fronten. Trotzdem erfüllte er seinen Dienst mit preußischer Gründlichkeit. Im Herbst 1851 wurde er jedoch Opfer eines Anschlages, bei dem er ums Leben kam. Er selbst war gar nicht das eigentliche Ziel der Attentäter, die eine selbstgebaute Bombe in das Gebäude der Gewerbekammer warfen. Er war nur ein Opfer des Anschlags auf eine Einrichtung der preußischen Besatzer. Daraufhin entschloss sich Maria Szlapszi, mit den Kindern von Krakau wegzuziehen.

      Viele Möglichkeiten eines Umzuges gab es für sie nicht. Nur eines war für sie klar. Sie wollte ins preußische Hoheitsgebiet, und da bot sich Schlesien an. In Langenbielau lebte eine Cousine und so fiel ihre Entscheidung schnell. Sie verkaufte Möbel und Hausrat an Mendel Seligmann, einen jüdischen Händler, der im Krakauer Judenviertel lebte. Es spricht für die liberale Haltung der Krakauer Bevölkerung zu dieser Zeit, dass die jüdische Gemeinde eine eigene Synagoge und einen eigenen Friedhof hatte, die weder von der österreichischen noch von der napoleonischen Besatzungsmacht fünfzig Jahre zuvor angerührt worden waren. Mendel Seligmann war Kaufmann und hatte nichts zu verschenken, doch er erkannte die Not der Witwe mit ihren minderjährigen Kindern und zahlte etwas mehr als andere. Am Abreisetag packte Maria vier Koffer und ein paar Säcke zusammen und verließ das Haus mit Ziel Poststation, wo sie die Kutsche in die neue Heimat nehmen wollte. Die beschwerliche Reise auf den nur teilweise gepflasterten Straßen dauerte vier Tage.

      In Langenbielau wurden sie erwartet, denn Maria hatte ihre Ankunft in einem Brief angekündigt. Ihre Cousine stand an der Station als die Kutsche ihr Ziel erreichte. Ihre Begrüßung war herzlich und Maria glaubte sich in Geborgenheit. Endlich wieder, denn seit Gregors Tod hatte sie nur in Sorge gelebt, wie sie sich und ihre Kinder durchbringen sollte. Sie bekam eine Rente von der preußischen Regierung, aber die würde auf Dauer nicht reichen, um sich und die Kinder zu versorgen.

      Nach der Begrüßung nahm ihre Cousine ihr zwei Koffer ab und führte sie zu einem kleinen Gasthof.

      »Hier kannst Du wohnen. Ich habe Dir ein Zimmer bestellt.«

      Maria verschlug es die Sprache. Sie hatte erwartet, dass sie bei ihrer Cousine