Erich Szelersky

Und Gott schaut zu


Скачать книгу

Wortlos folgte sie in den Gasthof und betrat ihr Zimmer.

      »Macht fünf Silbergroschen in der Woche, im Voraus zu zahlen.«

      Übertölpelt entnahm Maria ihrem Portemonnaie fünf Groschen und zahlte den Mann aus. Dann verabschiedeten sich die Cousinen. Alleine mit den Kindern auf dem Zimmer kamen ihr die Tränen. Hier konnte sie nicht bleiben. Sie musste schnell eine Lösung finden.

      Am Tag darauf ging sie zum Haus ihrer Cousine. Auf ihr Klopfen öffnete ein kleines Mädchen von höchstens fünf Jahren die Türe. Maria erschrak. Dem Körper des Kindes konnte man ansehen, dass es schon länger nichts Ordentliches mehr gegessen hatte. Das Gesicht war ausgezehrt, die Augen lagen in tiefen, dunkel umränderten Höhlen und der Blick des Kindes zeugte von der großen Not, die es litt, ohne zu wissen, wie ihm eigentlich geschah. Es hielt seine Mutter ängstlich an der Hand und blickte sie wortlos an, und seine Blicke durchdrangen die Mutter bis in ihre Seele.

      Maria trat ein. Der Raum war dunkel. An der Wand stand ein Schrank und in einer Ecke war eine offene Feuerstelle, in der kein Feuer brannte, obwohl es schon Herbst und kalt war. Der Mann ihrer Cousine und ein kleiner Junge arbeiteten an den Webstühlen. Für einen Moment blickte der Mann hoch und betrachtete argwöhnisch den Gast, ohne ihm jedoch weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Aus der Dunkelheit der Stube löste sich die Gestalt des Jungen. Marias Cousine fasste auch ihn an die Hand. Dann gab sie Maria ein Zeichen, ihr in den hinteren Raum des Hauses zu folgen. Das kleine Mädchen und der Junge blieben ängstlich zurück. Durch die geschlossene Tür hörte Mariaden eintönigen Takt der Handwebstühle. Nachdem die beiden Frauen sich gesetzt hatten schauten sie sich wortlos an. Maria kam es vor, als würde sich das gesamte Elend dieser Welt in dem Blick ihrer Cousine konzentrieren. Sie wagte nicht, etwas zu sagen oder gar zu fragen, doch ihre Blicke waren Fragen genug.

      »Das hast Du nicht erwartet«, begann die Cousine, die sich von den fragenden Blicken aufgefordert fühlte, etwas erklären zu müssen.

      »Du musst nichts erklären.«

      Maria legte die Hand auf die Schulter ihrer Cousine.

      »Doch, Maria; wir sind arm. Das war nicht immer so. Sicher, wir hatten nie viel, aber wir konnten uns immer sattessen. Seit ein paar Jahren wird es immer schlechter. Wir arbeiten und arbeiten. Fritz ist neun und arbeitet wie ein Mann, zehn Stunden und mehr am Tag. Selbst Elisabeth hilft schon, obwohl sie erst fünf ist. Es bricht mir das Herz. Aber wie sollen wir sonst die Mengen schaffen, die Herr Dierig von uns verlangt.«

      Sie hielt inne, denn sie sah Marias fragenden Blick.

      »Die Firma Dierig gibt uns das Garn und die Wolle, und wir weben daraus Leinen und Wollstoffe. So war es immer schon, soweit ich zurückdenken kann. Vor ein paar Jahren aber wurden uns die Löhne gekürzt. Auf einmal bekamen wir nur noch die Hälfte von dem, was wir früher bekommen hatten. Sie sagten, dass sie auf die modernen Maschinen umstellen würden und die würden schneller und besser weben als wir. Wir haben uns zuerst geweigert, für diese Löhne zu weben, doch dann hatten wir gar nichts mehr. Du hast vielleicht das große Gebäude am Ortsrand gesehen. Das ist die Fabrik, die Dierig gebaut hat. Darin stehen Maschinenwebstühle. Ich habe gehört, da gibt es keinen Menschen mehr drin. Wie das funktionieren soll weiß ich nicht; so ganz ohne einen Menschen. Wir versuchen jetzt, genauso schnell zu sein wie die Maschinen. Wenn wir überleben wollen müssen wir doppelt so viel Stoff weben wie früher. Das ist aber nicht zu schaffen, auch wenn wir Tag und Nacht weben, und die Kinder auch. Maria; wir verhungern, obwohl wir fleißig sind. Glaub mir, ich war immer fleißig; der Herr soll‘s bezeugen, aber mehr können wir nicht.«

      Sie weinte. Maria nahm sie in den Arm und tröstete sie, obwohl sie selbst nicht wusste, was aus ihr und ihren Kindern werden würde.

      »Wir können Dich nicht aufnehmen. Es reicht nicht einmal für uns. Kannst Du mich verstehen?«

      Maria nickte.

      »Vor ein paar Jahren«, ihre Cousine schluchzte und die Worte kamen nur zögernd aus ihrem Mund, »haben die Männer sich gewehrt. Sie sind nach Peterswaldau zu der Fabrik von der Firma Zwanziger gezogen, weil der die Weber noch mehr ausbeutet und dazu noch lügt. Er sagte, dass er für unsere Stoffe nichts bekommt und uns deshalb auch nicht richtigen Lohn geben kann. Aber das stimmt nicht. Der Pfarrer hat gesagt, dass Zwanziger sich gebrüstet hätte, noch immer mit unseren Stoffen gut gegen die Maschinenware aus England bestehen zu können, weil wir bessere Qualität hätten. Da sind die Männer los und haben vor der Fabrik vom Zwanziger gestanden und gefordert, bessere Löhne zu bekommen. Wir sind hinterher und haben unseren Männern beigestanden. Auch Fritz war dabei; wie viele Kinder. Der Zwanziger hat aber nur die Polizei gerufen und die hat Soldaten geholt. Und die haben geschossen. Stell Dir vor, auf Kinder auch. Elf von uns sind tot geblieben, viele verletzt. Den Alois, das ist mein Mann, haben sie nach Breslau gebracht und zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Wie einen Schwerverbrecher. Nach einem halben Jahr haben sie ihn raus gelassen gegen hundert Peitschenhiebe. Man kann heute noch die Narben auf seinem Rücken sehen.«

      Sie begann erneut zu weinen.

      Maria wollte sie trösten, doch ihre Cousine wandte sich ab.

      »Geh jetzt Maria, wir haben schon zu lange gesprochen. Ich muss wieder an die Arbeit.«

      Sie machte eine ungelenke Bewegung in Richtung der Stube, wo ein Webstuhl auf sie wartete.

      Maria stand auf und ging. Als sie die Stube zur Türe der kleinen Kate durchquerte spürte sie die Blicke, die sie verfolgten. Draußen vor dem Haus rang sie nach Luft. Es kam ihr vor, als müsste sie ersticken. Die Sorge um ihre Kinder machte sie halb wahnsinnig. Wohin? Was soll werden?

      Es hatte sich in dem Dorf schon herumgesprochen, dass eine Neue angekommen war. Die Leute tuschelten, denn die Gerüchte nahmen kein Ende. »Zwei Kinder hat sie, eins von einem Russen und eins von einem Polen, die katholische Hure.«

      Aus Krakau war sie geflohen, weil sie einer deutschen Minderheit angehörte. Nun war sie als Katholikin in einer protestantischen Gegend. Die gegenseitige Abneigung der beiden Religionsgruppen war ein Problem wie überall; schwerwiegender waren allerdings die sozialen Verhältnisse. Jeder Neue wurde zuerst einmal als ein Wettbewerber um einen der begehrten Arbeitsplätze angesehen, denn davon gab es nicht genug, um allen Einwohnern einen halbwegs ausreichenden Broterwerb zu sichern. Und so wurden Gerüchte in die Welt gesetzt, um Maria möglichst auszugrenzen. Jeder zeigte ihr seine Abneigung. Doch selbst wenn sie gewollt hätten; keiner der Heimarbeiter konnte sich eine Frau mit zwei Kinder leisten. Sie hätte bei den Löhnen, die gezahlt wurden, nicht den Lebensunterhalt für sich und die Kinder verdienen können.

      Maria erkannte sehr schnell, dass sie eine andere Lösung finden musste. Am nächsten Morgen machte sie sich auf die Suche nach Arbeit. Sie zog ihre besten Sachen an und fragte in den umliegenden Gütern nach Arbeit. Überall bekam sie Absagen. Jetzt war nur noch eines geblieben. Voller Sorge weil dies vielleicht ihre letzte Chance war, klopfte sie an die schwere Türe aus schlesischer Eiche. Eine freundliche Frau ließ sie herein, und es dauerte auch nicht lange bis sie zu dem Verwalter des Gutes geführt wurde. Sie erklärte ihm, dass sie Arbeit suche, und dass sie nicht mehr weiter wisse. Der Verwalter, ein untersetzter, schon etwas älterer Mann mit einer Halbglatze, die er mit ein paar grauen Haaren zu kaschieren versuchte, hörte sich an, was sie zu sagen hatte. Dann straffte er seinen Rücken, zwirbelte seinen Bart und sah sie an.

      »Du kannst in der Ziegelei arbeiten. Zehn Taler im Monat, Kost und Logis frei. Morgen meldest Du Dich beim Ziegler

      Lanzkus. Der zeigt Dir, was Du zu tun hast und wo Du schlafen kannst.«

      Dann drehte er sich um. Es war alles gesagt. Maria ging.

      »Danke.«

      In einer Ziegelei. Was würde auf sie zu kommen? Doch der erste Schritt war getan. Sie war erst einmal untergekommen und hatte eine Chance, den Winter zu überleben.

      Tags drauf, als sie sah, wo sie zukünftig würde leben müssen, war sie erschüttert. Sie hatte eine Kammer in einem der Nebengebäude des Gutes. In der Kammer standen ein Ofen und ein Bett. Auf ihren Wunsch hin war ein zweites Bett für Gustav und Martha aufgestellt worden. Als der Vorarbeiter wieder gegangen war sah sie sich um. Es war traurig,