Erich Szelersky

Und Gott schaut zu


Скачать книгу

Taler im Monat waren nicht viel, doch wenn man bedachte, dass eine Weberfamilie trotz aller Mühe auch nicht mehr als höchstens zweihundert Taler im Jahr verdiente, ging es ihr bei freier Kost und Logis erst einmal nicht so schlecht. Hinzu kam die Pension ihres Mannes. Wenn sie sparsam wäre könnte sie vielleicht etwas zurücklegen.

      Fürs erste würde sie mit den Kindern hier bleiben, wenn es auch noch so schrecklich war.

       Es ist in jedem Anbeginn

      Das Ende nicht mehr weit.

      Wir kommen her und gehen hin

      Und mit uns geht die Zeit.

      Gustav

      1852 bis 1866

       Kindheit und Jugend in Langenbielau, Schlesien

      Gustav Szlapszi war sieben Jahre alt, als er mit seiner Mutter und seiner Schwester auf dem Gut ankam. Die schwierigen Lebensverhältnisse nahm er noch nicht wahr. Dazu war er noch zu klein. Er lebte auf dem Gut und spielte mit seinen Gleichaltrigen. Die Gutsbesitzer waren ebenso wie alle anderen Gewerbetreibenden per Gesetz verpflichtet, von Kinderarbeit abzusehen. Das schützte Gustav aber nur bis zu seinem sechsten Lebensjahr. Im Sommer des Jahres 1853 wurde er zum ersten Mal zur Mithilfe bei der Ernte eingeteilt. Zusammen mit den anderen Kindern, die auf dem Hof aufwuchsen, musste er auf den Feldern helfen. Morgens ging er schon früh mit den Erwachsenen auf die Felder, und erst am Abend, wenn es dunkel wurde, kam er zusammen mit seiner Schwester nach Hause. Er empfand nichts Außergewöhnliches dabei. Alle machten es so. Es war Bestandteil ihres Lebens, doch Maria hatte in Krakau erlebt, dass Kinder anders aufwachsen konnten.

      Es gab in Langenbielau keine katholische Schule, die wurde erst 1859 gegründet, und deshalb erhielt sie keine Information darüber, dass Gustav mit sieben Jahren schulpflichtig wurde. Die protestantische Gemeinde in Langenbielau sah keine Veranlassung, Katholiken darüber zu informieren, und die Gutsbesitzer freuten sich über jedes Kind, das trotz der Schulpflicht, die in Preußen schon gesetzlich geregelt war, nicht zur Schule ging und somit als Arbeitskraft zur Verfügung stand.

      Durch Zufall erfuhr Maria, dass Martha und Gustav zur Schule gehen konnten. Friedrich I. hatte bereits 1717 die Schulpflicht in Preußen eingeführt, in dem er erließ, dass die Eltern überall dort, wo es eine Schule gab, ihre Kinder in dieselbe zu schicken hätten. Es gab allerdings nur wenige Schulen. Und dort, wo es Schulen gab, gingen auch viele Kinder nicht hinein, denn die meisten Familien waren darauf angewiesen, dass ihr Kind beim Broterwerb mitarbeitete. So blieben die meisten der Schule fern und damit Analphabeten. Durch den Schock der verheerenden militärischen Niederlage 1806 gegen Napoleon und der in deren Folge politischen Bankrotterklärung Preußens erkannte man die Notwendigkeit von Reformen, die auch das Schulwesen umfasste. Enorme Anstrengungen wurden unternommen, flächendeckend Schulen zu bauen und ausgebildete Lehrer einzustellen. 1840 führte Preußen die allgemeine Schulpflicht ein und verpflichtete die Eltern. Trotz der angedrohten Sanktionen im Falle des Nichterscheinens wurde das Gesetz jedoch oft genug unterlaufen. Die Kinder wurden weiterhin als billige Arbeitskräfte missbraucht, und die am Existenzminimum lebenden Familien wehrten sich nicht dagegen, da sie zum Überleben jeden Groschen brauchten. Hinzu kam, dass es den einfachen Menschen häufig auch an der Einsicht fehlte, dass eine bessere Bildung die Lebensperspektiven ihrer Kinder verbesserte. Die meisten der Lohnarbeiter waren selbst Analphabeten, und von den Kanzeln wurde ihnen erklärt, dass dies Gottes Wille sei und sie sich in ihr Schicksal, in einer ständisch strukturierten Gesellschaft am unteren Ende zu leben, zu fügen hätten. Kaum einer stellte sich die Frage, warum ihnen Hunger als Prüfung Gottes auferlegt würde und warum Gott anderen diese Prüfung ersparte.

      Auch Maria war gottesfürchtig und fügte sich soweit es sie selbst betraf. Für ihre Kinder erhoffte sie sich jedoch eine bessere Zukunft. Gregors Eltern waren in seiner Kindheit zum katholischen Glauben konvertiert, damit er auf die Klosterschule gehen und preußischer Beamter werden konnte. Jetzt war Gregor tot und sie lebten in einem Dorf, in der es nicht einmal eine katholische Schule gab. Ihre Kinder mussten auf die Schule, und wenn es die evangelische war, auch gut. Sie setzte alle Hebel in Bewegung, dass Gustav und Martha auf die Schule konnten. Sie erwog sogar, mit ihren Kindern erneut zu konvertieren und protestantisch zu werden, was die Aufnahme in die Schule sehr erleichtert hätte, doch sie zögerte. Was würde Gregor sagen? Es ist schwer, sich zu emanzipieren, wenn man jahrhundertelang eingetrichtert bekommen hat, wie man zu leben und zu denken hätte. Natürlich nur, um Gott zu gefallen und die ewige Seligkeit zu erlangen. In Wahrheit dienten all diese Aussagen und Maßnahmen nur einem Ziel: der Bewahrung bestehender Strukturen durch Unterdrückung. Und dies zur Bevorzugung der Unterdrücker.

      Martia brauchte eine Lösung zum Wohle ihrer Kinder. In ihrer Not wandte sie sich an den Gutsverwalter. Sie hoffte, er würde ihr helfen können. Einmal im Monat durfte das Gesinde um ein Gespräch beim Gutsverwalter nachfragen. Als sie bei ihm vorsprach hörte er sich ihr Anliegen an. Nach einer Weile nickte er zustimmend mit dem Kopf.

      »Komm heute Abend gegen acht Uhr zu mir. Ich werde schauen, ob ich etwas für Dich tun kann.«

      Am Abend klopfte Maria an die Tür des Gutsverwalters. Er öffnete persönlich die Tür und bat sie herein. Diese Freundlichkeit hatte Maria nicht erwartet. Sein Salon war geschmackvoll eingerichtet. Er bot Maria einen Platz an. Unsicher strich sie sich den Rock gerade und setzte sich.

      »Du bist neu in der Gegend, nicht wahr?«

      Er grinste jovial

      »Ja, mein Herr.«

      Du willst also, dass Deine Kinder in die Schule gehen?«

      »Ja. Ich möchte, dass die Kinder etwas lernen.«

      Maria entwickelte ihren Kampfgeist.

      »Und es ist Gesetz.«

      »Gesetz? Was heißt das schon? Wir brauchen hier jede Hand. Das weißt Du doch?«

      »Ja, schon. Aber meinen Kindern soll es einmal besser gehen als mir.«

      Der Gutsverwalter grinste und schob sich etwas näher an sie heran.

      »Für uns ist eine Arbeitskraft sehr wertvoll. Sie zu verlieren kostet seinen Preis. Wer soll die Garben binden und beim Verladen helfen? Wir müssten einen anderen einstellen.«

      »Was kann ein Kind von sieben Jahren schon leisten?«

      »Immerhin bittest Du um zwei Arbeitskräfte.«

      Maria stutzte. Er bemerkte den ungläubigen Blick in ihren Augen und setzte sich neben sie. Dabei lächelte er sie an.

      »Es gibt aber immer einen Weg.«

      Dann ging alles sehr schnell. Ohne ihr einen Augenblick Zeit zu lassen umarmte er sie und küsste ihren Mund. Sie drehte sich um und versuchte aufzustehen. Er hielt sie zurück und presste sie in die Polster des Sofas. Maria wehrte sich und als er immer zudringlicher wurde schlug sie ihm ins Gesicht. Der Gutsverwalter zuckte zurück. Er sprang auf und richtete seine Krawatte. Maria rannte aus dem Haus. Draußen brach sie in Tränen aus. Was nun? Nach einigen schlaflosen Nächten fasste Maria einen Entschluss. Sie blieb im Bett liegen und schickte Gustav zu Lanzkus. Er sollte ihm sagen, dass sie krank sei und nicht zur Arbeit kommen könne. Als Gustav weg war machte sie sich auf den Weg nach Reichenbach. In Reichenbach gab es eine katholische Gemeinde und eine katholische Schule. Martha hatte sie eingeschärft, keinem ein Wort zu erzählen, ganz gleich, was passieren würde.

      Reichenbach war weit, und sie musste anfangs sehr aufmerksam sein, denn sie wollte nicht von anderen Bediensteten des Gutes bemerkt werden. Als sie die Dächer der Häuser und den alles überragenden Turm der Kirche der alten Stadt erkennen konnte beschleunigte sie ihre Schritte. Außer Atem kam sie in der Stadt an und ging sofort zu der katholischen Kirche.

      In der Kirche war es menschenleer. Am Altar brannte das ewige Licht. Sie kniete nieder und bekreuzigte sich. Langsam ging sie im Mittelschiff auf den Altar zu. In der ersten Bankreihe kniete sie nieder und betete. Sie erhoffte sich Hilfe für ihr Problem. Die Kinder mussten in die Schule. Das war ihr