Erich Szelersky

Und Gott schaut zu


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Gemeinde um den richtigen Takt.

      »Groooßer Goohott wir lohoben Dich – Herr wir preiheisen Deiheine Güte ...«

      Gustav erfasste erneut den Blick seiner Mutter. Sie weinte vor Freude und Rührung. Gespart hatte sie, um ihm einen Anzug machen zu lassen. Da das Geld aber nicht reichte kaufte sie bei dem Schneider einen Anzug von einem Jungen, der ein Jahr zuvor zur Kommunion gegangen war. Der Junge war nur etwas größer als Gustav, und so brauchte der Anzug nur ein wenig geändert zu werden.

      »Mach ihn nicht ganz so eng«, hatte Mutter dem Schneider aufgegeben, »dann kann Gustav ihn länger tragen.«

      Gustav ging gemächlichen Schrittes in der langen Reihe der Kommunionkinder durch das Mittelschiff der Kirche auf den Altar zu. Neben ihm Dorothe, die Tochter des Dorfschmieds. Sie trug ein weißes Kleid, weiße Kniestrümpfe und einen Kranz auf dem Kopf. In der Hand hielt sie ebenso wie Gustav eine große, verzierte Kerze. So schritten sie, bis sie die Stufen erreicht hatten, die zum höher angeordneten Altar führten. Die Reihe der Kinder teilte sich. Die Jungen bogen nach links ab und stellten sich vor der ersten Bank auf der linken Seite auf. Die Mädchen taten dasselbe auf der rechten Seite. Nun waren die Geschlechter in der Kirche vollständig getrennt, denn auch die Erwachsenen hatten nach demselben Schema ihre Plätze eingenommen; die Männer links, die Frauen rechts. Pfarrer Broszka empfing sie. Seine Alba spannte sich um seinen dicken Bauch, der trotz des lose übergehängten Messgewandes nicht zu übersehen war. Die gelbe Stola, die er um den Hals trug, zeugte von der großen Bedeutung, die die Feier der Ersten Heiligen Kommunion im Kirchenkalender hatte. Alle hatten sich herausgeputzt. Die Frauen der Gemeinde hatten ihre besten Kleider angezogen und die Männer ihre Sonntagsanzüge. Alle wollten so gut aussehen wie es ihnen möglich war. Manche hatten sich Kleidung und Schuhe von Verwandten geliehen, denn für neue Kleidung fehlte den meisten das Geld. Eine ausgemergelte Gemeinde, die sich an diesem Sonntag in der Kirche eingefunden hatte. Arm, von der anstrengenden Arbeit verbraucht und früh gealtert, sahen die

      Gesichter viel älter aus als sie wirklich waren. Gustav betrachtete Pfarrer Broszka, als er zum Geläut der Messdiener den eucharistischen Wein aus dem goldenen Kelch trank. Er erwischte sich bei dem Gedanken, ob Pfarrer Broszka dies ohne Beichte dürfe und bei wem er wohl gebeichtet hat. Sein dicker Bauch waberte, als er sich den Mund abwischte. So wie an dem Tag im letzten Winter. Der Winter war lang und kalt. Ende Januar gingen die Vorräte zur Neige. Mutter versuchte, so gut es ging, für Essbares zu sorgen, doch außer ein paar Kartoffelschalen und etwas Kohl gab es nichts. Sie mussten argen Hunger schieben und wenn Mutter nicht immer wieder auf ihre Ration zu Gunsten der Kinder verzichtet hätte, wäre es noch schlimmer gewesen. Alle waren von der Not betroffen, zumindest die armen Leute, und das waren fast alle. Nur wenige brauchten sich keine Sorgen zu machen, nicht satt zu werden. Sie lebten weiterhin im Überfluss. Schlimm war nur, dass sie, bis auf ganz wenige Ausnahmen, die Probleme der Masse nicht einmal zur Kenntnis nehmen wollten. Selbst diejenigen, deren Lebensinhalt die Seelsorge der Armen und Leidenden war, ignorierten die bittere Armut, die sie umgab.

      Eines Tages schickte der Lehrer Gustav ins Pfarrhaus, um einen sehr wichtigen und eiligen Brief beim Pfarrer abzugeben. Er wurde von der alten Haushälterin in die Stube gebeten, weil Pfarrer Broszka sich nicht beim Mittagessen stören lassen wollte. Gustav trat in die große Wohnküche. An einem riesigen Tisch saß der Pfarrer und aß. Auf dem Teller vor ihm lag ein riesiges Stück Braten. So etwas hatte Gustav schon lange nicht mehr gesehen.

      »Was ist, Gustav?«

      Der Pfarrer schwenkte seinen Blick eher ein bisschen widerwillig von seinem Essen zu Gustav. Mit einer Serviette wischte er sich das Fett von seinem kauenden Mund. Gustav blickte hoch und streckte die Hand mit dem Brief aus.

      »Hier, vom Herrn Lehrer. Den Brief soll ich Ihnen geben.«

      »Danke, ist gut Gustav«, war die Antwort und schon fasste ihn die Haushälterin an die Schulter und schob ihn zur Tür.

      Am Abend erzählte er seiner Mutter, was er erlebt hatte. Mutter hatte ihn angeschaut, als sie hörte, was Pfarrer Broszka alles zu essen hatte. Dann nahm sie seine Hand und sagte:

      »Sei Gott gefällig, Gustav, dann wird es Dir auch wohl ergehen.«

      Gustav wusste nicht so recht, was er damit anfangen sollte. Er hatte nichts getan, was Gott nicht hätte gefallen können, aber Mama würde es sicher besser wissen. Er wollte an Gott glauben, doch dafür bedurfte es weder übler Drohungen noch ständiger Ermahnungen.

      Kinderarbeit

      Drei Jahre wohnte Maria mit den Kindern inzwischen bei ihrer Cousine. Morgens stand sie schon sehr früh auf und webte eine Stunde, bevor sie die Kinder weckte und ihnen das Frühstück machte. Sie bemühte sich sehr, ihrer Cousine und ihrem Mann ihre Dankbarkeit mit fleißiger Arbeit zu vergelten. Auch gab sie ihnen die Hälfte ihrer Pension. Alles in allem reichte das. Sie verhungerten nicht, und sonntags gab es häufiger auch schon einmal wieder ein Stück Fleisch. Doch eines führte immer wieder zu Kontroversen. Während Gustav in die Schule ging, arbeitete der Junge ihrer Cousine am Webstuhl. Immer wieder hatte sie Maria gefragt, wann Gustav beim Weben mithelfen würde. Dann bräuchte ihr Mann nicht vierzehn Stunden zu arbeiten, denn die Arbeit fiel ihm immer schwerer. Maria hatte sich aber jedes Mal, wenn ihre Cousine das Thema ansprach, geweigert. Ihre Kinder sollten auf die Schule gehen, und davon ließ sie nicht ab. Wahrscheinlich war es Eifersucht oder Neid; in jedem Fall führte diese Frage zu Spannungen, die sich zwangsläufig einmal entladen würden. Und dann war es auch so weit.

      »Ihr könnt hier nicht länger bleiben, Maria. Es ist zu eng für uns alle hier im Haus. Deine Kinder werden größer. Es geht nicht mehr.«

      »Aber wo soll ich denn hin mit den Kindern?«

      »Ich weiß, dass dies nicht leicht ist. Aber in ein paar Monaten, wenn der Frühling kommt, kannst Du vielleicht auf einem Gut anfangen. Dann geht die Arbeit auf den Feldern los.«

      Maria wusste, warum ihre Cousine sie rausschmiss.

      »Stört Dich, dass Gustav und Martha in die Schule gehen und Dein Sohn nicht?«

      »Nein. Das hat damit nichts zu tun. Es ist einfach zu eng. Das Haus ist zu klein für uns alle und ein anderes können wir nicht bauen. Dazu fehlt es an Geld.«

      »Und wenn Gustav arbeiten würde? Ging es dann?« Die Cousine überlegte, was sie darauf sagen sollte.

      »Wenn Gustav arbeiten würde könnte er mit meinem Sohn das Bett teilen. Dann kann einer sich ausruhen, wenn der andere arbeitet. Das könnte gehen und wir würden mehr schaffen.«

      »Also doch. Es ist Dir ein Dorn im Auge, dass Gustav zur Schule geht und Dein Sohn nicht.«

      »Nein. Das ist mir völlig egal.«

      »Das glaube ich Dir nicht. Schick Deinen Sohn doch auch auf die Schule. Es steht ja sogar im Gesetz.«

      »Das können wir uns nicht leisten. Wir brauchen unseren Jungen hier bei der Arbeit.«

      »Aber keiner weiß, wie lange Ihr noch Aufträge für das Weben von Stoffen bekommt.«

      »Das weiß nur der Herrgott, aber das ist jetzt auch nicht wichtig.«

      Marias Cousine kam immer mehr in Rage.

      »Mein Mann ist ehrlich, fleißig und gottesfürchtig und kann auch nicht lesen. Da muss doch sein Sohn auch nicht Schreiben und Lesen lernen, oder?«

      Sie machte eine Pause.

      »Und so ein Dahergelaufener schon gar nicht.«

      Damit war Gustav gemeint. Maria verstand das sofort. Sie ließ ihre Cousine einfach stehen und verließ das Haus. Verzweiflung ergriff sie. Wo sollte sie hin? Ziellos lief sie durch die kleinen Straßen, vorbei an den Weberhäusern mit ihren vielen eigenen Schicksalen. Ohne es zu planen führte ihr Weg sie nach Reichenbach. Als sie wieder klarer denken konnte wurde ihr bewusst, dass sie vor der Schule stand, in der ihre Kinder waren. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Die Schule musste bald zu Ende sein. Sie wollte warten und Gustav und Martha abholen. Jetzt, da ihre