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Morde und Leben - Leber und Meissner


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ausgesehen haben als siebzehn, sie fühlte sich aber wahrscheinlich, als wäre sie jünger. Vielleicht mussten sie gar nicht nach jemandem suchen, der einen Groll gegen Birte gehegt hatte, sondern nach jemandem, den diese Zerrissenheit zwischen Jugend und Erwachsensein besonders ansprach, der diesen Zustand aufreizend fand. Man konnte im Nachhinein nicht sagen, ob Birte diesen Zustand ausgespielt und die Männer um ihren kleinen Finger gewickelt hatte, hatten sie es mit einem Lolitasyndrom zu tun? Das waren alles nur Mutmaßungen, die sich aus heutiger Sicht nur schwer belegen ließen, aber ausschließen konnte man sie auch nicht.

      Träfe das Lolitasyndrom zu, würde sich der Kreis der in Frage kommenden Täter auf Männer mittleren Alters verengen, Mitschüler zum Beispiel schieden aus. Sie gingen um 12.00 h in die Mittagspause und trafen in der Kantine einen Kollegen von der Abteilung Sexualdelikte, setzten sich zu ihm an den Tisch und unterhielten sich mit ihm über ihre Vermutung zum Lolitasyndrom. KHK Jansen, ein alter Bekannter der beiden Kommissare, hörte sich an, welcher Vermutung die beiden nachgingen und sagte ihnen:

      „Ihr dürft Euch nicht allzu früh auf das Lolitasyndrom einschießen“, er war ein erfahrener Kollege und wusste mit Sicherheit, wovon er sprach.

      „Mir sind solche Lolitas in Moers gar nicht bekannt, ich habe einmal in Duisburg in so einem Fall ermittelt, aber das liegt Jahre zurück, Verbrechen im Lolitamilieu sind ausgesprochen selten.“ Die beiden Kommissare aßen lustlos ihre Rinderrouladen und nickten zu dem, was ihnen KHK Jansen erzählte, sie wussten, dass sie nicht allzu früh ihren Blickwinkel verkleinern durften, ließen aber die Möglichkeit des Lolitasydroms nicht außer Acht. Am Nachmittag fuhren sie nach Asberg zum Tennisclub, um dort bei einigen Teamkolleginnen von Birte Auskünfte über sie einzuholen und trafen gleich auf ihren Trainer. Er war ein braungebrannter Mitdreißiger, durchtrainiert und gutaussehend, er war sich seiner athletischen äußeren Erscheinung sehr wohl bewusst, das merkten die Beamten an der Art und Weise wie er ihnen gegenübertrat, mit körperbetonten Bewegungen, immer darauf bedacht, ein gutes Bild abzugeben.

      Aber KHK Leber und KOK Meissner ließen sich dadurch nicht ablenken und stellten ihm gezielte Fragen zu Birte, zum Beispiel:

      „Wie lange hat sie schon bei Ihnen trainiert, hat sie immer nur bei Ihnen trainiert und wie würden Sie Ihr Verhältnis zu ihr beschreiben?“ Der Trainer, dessen Name Gerd Hoberger war, sagte zunächst:

      „Ich habe aus der WAZ vom Tode Birtes erfahren und bin tief berührt gewesen, Birte ist mir im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen und ich habe ein freundschaftliches Verhältnis zu ihr entwickelt, wir haben uns beide sehr gut miteinander verstanden und Birte hat in mir so etwas wie eine Vaterfigur gesehen, ihr eigener Vater ist wohl nur selten für sie da gewesen. Birte ist am Ende eine sehr gute Tennisspielerin gewesen, die regelmäßig für den TC Asberg bei Turnieren angetreten ist und viele Pokale gewonnen hat.“ Die Beamten fragten auch, ob sich Gerd Hoberger auch schon einmal nach dem Tennis mit Birte getroffen hätte und der Trainer merkte, worauf diese Frage abzielte. Er wies den Verdacht der Polizisten entrüstet von sich und die Beamten sagten, quasi zu ihrer Entschuldigung, dass sie in alle Richtungen ermitteln müssten, das sollte er verstehen. Sie ließen sich am Schluss ihrer Befragung ehemalige Tennispartnerinnen von Birte zeigen und unterzogen auch sie einer Befragung.

      Auch sie wussten natürlich längst vom Tode Birtes und sagten durch die Bank, dass sie alle entsetzt gewesen wären, als sie von der Ermordung ihrer Tenniskollegin in der Zeitung gelesen hätten. Die Beamten fragten sie:

      „Könnt Ihr Euch jemanden als Täter vorstellen?“, aber die Mädchen zuckten nur ihre Schultern. Die Polizisten fragten weiter nach dem Verhältnis des Trainers zu Birte, und die Mädchen witterten den Verdacht, der sich hinter dieser Frage verbarg, aber niemand von ihnen konnte sich vorstellen, dass da zwischen den beiden etwas gelaufen wäre, das hätten sie sofort mitbekommen, sagten sie. Die Kommissare bedankten sich für die Auskünfte und gingen auf die Außenanlage, sie sahen wie sich die Tennisschüler zum Teil abquälten, wie sie die Aufschläge versiebten und sich mit der Rückhand schwertaten. Bei manchen war man beinahe gewillt, ihnen vom Tennisspielen abzuraten, so wie sie sich anstrengten, wie sie schwitzten und völlig außer Atem dem Ball hinterherhetzten, weil sie zu viel Übergewicht hatten und sich schon allein deshalb nicht für diesen Sport eigneten. Die Tennisanlage war in einem ausgezeichneten Pflegezustand, dafür war der Platzwart zuständig, der nach jedem Spiel das Spielfeld abzog und die Linien nachfuhr. Die Beamten gingen zu ihm, stellten sich vor und fragten auch den Platzwart nach Birte Schoemakers. Der Platzwart war ungefähr fünfzig Jahre alt und sah für sein Alter recht passabel aus.

      „Haben Sie Birte gekannt?“, fragten sie ihn und er antwortete:

      „Ich habe Birte natürlich gut gekannt, schließlich ist sie seit Jahren zum Training gekommen. Als ich von ihrem Tod in der WAZ gelesen habe, ist mir ein abgrundtiefer Schreck durch die Glieder gefahren, ich habe Birte sehr gemocht, sie ist immer so freundlich gewesen und hat mich herzlich gegrüßt, wenn sie auf dem Platz gewesen ist.“

      „Wie würden Sie ihr Verhältnis zu ihr beschreiben?“, fragten die Beamten ihn direkt und als er sie verständnislos anblickte, sagten sie ihm, sich entschuldigend:

      „Wir müssen in alle Richtungen ermitteln, bitte verstehen Sie das!“ Es wäre ein Verhältnis zwischen einem Platzwart und einer Tennisschülerin gewesen, mehr nicht, sagte er knapp und sie sollten den Verdacht, den sie gegen ihn hegten, gleich wieder fallenlassen, brachte er leicht erbost hervor. Die Beamten bedankten sich bei ihm für die Auskünfte und liefen auf der Anlage weiter, sie konnten deutlich den Verkehr auf der B 60 hören, die direkt an der Tennisanlage vorbeilief, die Tennisspieler aber nicht weiter störte. Inzwischen war aus der B 60 die L 140 geworden, vermutlich wollte der Bund die Unterhaltskosten für die Bundesstraße auf das Land abwälzen, denn das Land NRW war vom Zeitpunkt der Umwidmung zur L 140 für die Straße zuständig.

      Die Beamten stiegen wieder in ihren Wagen und fuhren zur Polizeiinspektion zurück, sie trafen dort Frau Fahrenholz an und berichteten ihr in ihrem Dienstzimmer vom Gang ihrer Ermittlungen, sie erzählten ihr von ihrem Gespräch mit Birtes Eltern und von ihrem Besuch beim Tennisclub Asberg, sie erwähnten auch, dass sie sich mit den Gedanken an ein Lolitasydrom getragen hätten. Die Kriminaldirektorin entgegnete aber, wie auch schon ihr Kollege KHK Jansen, dass solche Fälle extrem selten wären.

      „Natürlich sollen Sie in diese Richtung ermitteln, wenn Sie Anhaltspunkte haben, versteifen Sie sich aber um Gottes Willen nicht darauf!“, daraufhin verließ sie ihre Kommissare wieder, KOK Meissner holte für seinen Kollegen und sich einen Kaffee und beide dachten sie über ihre Begegnungen mit den Leuten vom Tennisclub nach, sowohl der Trainer als auch der Platzwart passten beide in ihr Lolitaschema, aber sie waren vorsichtig mit allzu schnellen Vorverurteilungen.

      „Warum ist denn der Vater von Birte am Vormittag wohl so schweigsam gewesen?“, fragte KOK Meissner und sein Kollege antwortete:

      „Das verdeutlicht doch nur, dass er sich viel zu wenig um seine Tochter gekümmert hat, er hat einfach nichts zu sagen gewusst, weil er die Lebensumstände seiner Tochter nicht gekannt hat. Ihre Mutter hat zwar einiges über Birte zu berichten gewusst, ich bezweifle aber, dass ihr alles über sie bekannt ist, sie hat sich ein Bild von ihrem Kind zurechtgelegt und alles, was nicht dazu passte, ausgeklammert.“ Sie träfen sich am nächsten Tag erst einmal mit Anna in der Röhre, vielleicht brächte sie die Begegnung mit ihr weiter.

      Die Röhre war eine uralte Szenekneipe in Moers, die die beiden Kommissare noch aus ihrer Jugendzeit kannten, denn gelegentlich fuhr KOK Meissner als Jugendlicher von Duisburg nach Moers, wenn sich in Duisburg keine rechte Kneipe für seine Vergnügungen fand. Das Angesagteste in Duisburg war damals das Old Daddy, die Discos Pulp oder Delta gab es noch nicht, es gab eigentlich noch nirgendwo solche Massendiscos, wie es auch das PM in Moers eine war. In der Röhre spielten von Anfang an Livebands im Keller, und das war genau das, was die meisten zu der Zeit haben wollten. KHK Leber ging es in seiner Jugendzeit genauso, auch er fuhr mit Freunden von Krefeld nach Moers, wenn sie in Krefeld keine Kneipe fanden, die ihnen gefiel. Es könnte sein, dass sich die beiden schon damals über den Weg gelaufen waren, sie kannten sich aber noch nicht. In der Röhre trank man unendlich viel Bier, stand herum und bewegte sich zur Musik, so machten es eigentlich alle Besucher dieser Kneipe. Wenn einem ein Mädchen gefiel,