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Brücken bauen. Mauern einreißen.


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und setzte vorsichtshalber noch nach, damit auch keine Missverständnisse aufkamen: »zu meinem Onkel…«. Beinahe hätte ich noch »Hans« hinzugefügt, aber mein Gehirn konnte noch gerade signalisieren, dass dieser Herr Onkel Hans sehr wahrscheinlich nicht kannte.

      »Hauptstadt oder West?« Ich schluckte und überlegte fieberhaft, was dieser Kerl damit meinen konnte. Wieso Hauptstadt? Berlin war alles, aber doch keine Hauptstadt. Es war eine Insel, ein Abenteuerspielplatz, eine Zeitbombe, ein Käfig, ein Paradies. Aber eine Hauptstadt?

      Also meinte ich, vor Naivität und Aufrichtigkeit strotzend, diesen Mann aufklären zu müssen und stellte richtig: »Aber das ist doch Bonn!« Meine Schwester kicherte los, sie kugelte sich zusammen und ihr liefen Tränen über die Wangen, um nicht lauthals loszulachen.

      Der VoPo verzog keine Miene, wedelte mit seiner Waffe herum und knurrte dann fatalistisch:

      »Zurücksetzen, richtig einordnen und ab nach WEST-Berlin. Für so was wurde die Transitstrecke gebaut«. Also setzte ich brav zurück, ordnete mich richtig ein und fuhr, immer noch mit schlotternden Knien, über die berühmt-berüchtigte Transitstrecke in die vorher-und-jetzt-endlich-wieder-aber-damals-auf-gar-keinen-Fall-Hauptstadt, die mit keiner anderen Stadt der Welt zu vergleichen war und ist und die ich über alles liebe.

      Jenseits der blauen Grenze

      Dorit Linke

      Auszug aus »Jenseits der blauen Grenze« (Magellan Verlag)

      Unsere Taschen liegen vergraben unter einem Hagebuttenstrauch. Findet sie jemand, ist alles vorbei. Die Feldflasche habe ich mit Muttis Gürtel am Körper befestigt. Er hat eine goldene Schnalle und ist so hässlich, dass sie ihn nicht vermissen wird.

      Nachher müssen wir im richtigen Moment loslaufen und kriechen, so wie wir es beim Pioniermanöver gelernt haben.

      Bloß nicht ins Licht der Scheinwerfer geraten, das kilometerweit über den Strand wandert. Die Stelle, die wir uns ausgesucht haben, ist gut, weit weg vom Grenzturm.

      Es ist viel NVA um uns herum. Direkt hinter uns steht ein Schild.

      Sperrzone. Betreten und Befahren verboten.

      Opa hat mir gesagt, dass ich auf die Posten aufpassen soll. Die werden an uns vorbeilaufen, außerdem werden Autos mit gleißenden Scheinwerfern herumfahren. Er hat mir auch gesagt, dass die Suchscheinwerfer nach einer Stunde zum Kühlen ausgeschaltet werden müssen. So einen Moment werden wir nutzen, um runter an die Ostsee zu laufen.

      Am Wasser liegt ein Findling, hinter dem wir uns verstecken können. Wir werden rasch unten sein. Der Sandstrand ist hier nicht so breit wie in Warnemünde. Später in der Ostsee tauchen wir einfach unter, wenn das Scheinwerferlicht auf uns zukommt.

      Mutti habe ich einen Zettel unter die Bettdecke gelegt. Sie soll sich keine Sorgen machen. Wird sie wohl trotzdem. Sie wird mich nicht in Kühlungsborn vermuten, sondern an der Neptunschwimmhalle auf mich warten. Gestern habe ich mich beinah verraten, weil ich ihr beim Wetterbericht über den Mund gefahren bin. Normalerweise interessiere ich mich dafür nicht.

      Fünfzig Kilometer bis nach Fehmarn. Das ist echt weit.

      Wenn die Strömung mitspielt, schaffen wir die Strecke in fünfundzwanzig Stunden. Momentan herrscht ablandiger Wind. Hoffentlich bleibt es dabei. Wenn es dunkel ist, werden wir losschwimmen, dann sind wir schon ein Stück vom Land entfernt, wenn die Boote in der Morgendämmerung nach Flüchtlingen suchen. Kommt eine Patrouille, tauchen wir unter und atmen durch unsere Schnorchel, die ich gestern im Keller mit Plastikschläuchen verlängert habe. Als Nachbarin Lewandowski mich damit hantieren sah, wollte sie wissen, wozu das gut sei. Ich habe ihr von den Karpfen im Dobbertiner See erzählt, die ich beobachten wollte.

      Neunzehn Grad Wassertemperatur, das ist gut. Weiter draußen wird es kälter sein. Das wird hart. So viel trainieren kann man gar nicht. Doch wir werden es schaffen. Endlich ist es so weit! Ich bin aufgewühlt und gleichzeitig ruhig, auf unser Vorhaben konzentriert.

      Andreas sieht blass aus. Zum Glück ist er dabei, ohne ihn könnte ich es nicht. Gerade hat er mir zugelächelt.

      Er hat Angst. Ich auch, aber darüber darf man nicht nachdenken. Andreas hält Die schwarze Feluke in der Hand. Für Sachsen-Jensi, in Folie eingeschweißt. Das einzige Mosaik-Heft, das ihm in seiner Sammlung noch fehlt, erschienen im November 1982. Im Westen bekommt er das nicht, wir müssen es ihm mitbringen. Das haben wir ihm versprochen.

      Piraten auf dem Cover, Fischerboote, hochschlagende Wellen, Leuchtfeuer und Männer mit Turbanen. Andreas betrachtet das Bild, das so blau ist wie die Dämmerung, die uns umhüllt. Bestimmt möchte er durch das Heft blättern, doch das geht wegen der Folie nicht.

      Ins Heft habe ich einen Zettel gelegt, da steht die Telefonnummer meiner Eltern drauf. Falls etwas passiert und jemand das Heft findet, weiß er, wo er anrufen muss.

      Was würde Sachsen-Jensi sagen, wenn er uns sehen könnte, hier in den Dünen, wartend, mit Blick auf die Ostsee? Hitze in meinem Magen, vor Aufregung! Ein angenehmes Gefühl. Ich bin glücklich, dass wir aufbrechen werden, fühle mich das erste Mal seit Monaten wieder leicht, fast unbeschwert. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Es riecht nach Salzwasser und nach Algen. Ich öffne die Augen wieder. Hagebuttenfrüchte baumeln zwischen mir und dem spiegelglatten Wasser, einige Meter entfernt wächst Strandhafer.

      Sachsen-Jensi würde uns davon abhalten, weil er ein Angsthase ist. Ich lächle. Vor vielen Jahren hab ich ihm im Matheunterricht mal Hagebuttensamen in den Kragen geschmissen und darauf herumgerieben. Er hat sich so affig gekratzt, dass Frau Bauermeister ihn aus der Klasse warf.

      Andreas öffnet den Reißverschluss seines Neoprenanzugs und schiebt das Mosaik-Heft zu seinen Dokumenten: Personalausweis, Geburtsurkunde, Abschlusszeugnis der zehnten Klasse. Das Päckchen mit meinen Dokumenten habe ich zwischen Neoprenanzug und Badeanzug geschoben. Im Westen müssen wir schließlich beweisen können, wer wir sind.

      Andreas hat wohl meinen Blick bemerkt. Er öffnet den Reißverschluss wieder und holt Die schwarze Feluke heraus.

      »Nimm du es«, sagt er leise. »Kannst besser schwimmen.«

      Das stimmt. Sofort habe ich wieder Angst. Ich will nicht darüber nachdenken, kann die Hand nicht ausstrecken.

      »Nun mach«, sagt er drängend.

      Unsere Finger berühren sich, als ich das Heft an mich nehme. Ich schlucke schwer, kann ihn nicht ansehen, schaue hinüber zur Ostsee.

      »Wir werden es schaffen«, sage ich.

      Wir müssen uns das immer wieder sagen, das ist ganz wichtig. Es wird hart werden. Wir müssen daran glauben, sonst halten wir nicht durch.

      Um einundzwanzig Uhr werden wir losschwimmen, sobald der Mond untergegangen ist. Er ist kaum zu sehen, es ist fast noch Neumond, zwischen den Baumwipfeln ist die schmale Sichel zu erkennen. Sie spendet wenig Licht, trotzdem ist es besser, wenn sie nicht mehr da ist. Hat Opa gesagt.

      Leichter Wind von Südost, genau richtig.

      Der Tag ist schön gewesen, heiß und schwer. Wir sind schon früh angereist. Um keinen Verdacht zu erregen, wollten wir nicht erst mit der Dämmerung ankommen. Nachdem wir baden waren, haben wir ein Softeis auf der Promenade gegessen, umgeben von FDGB-Urlaubern. Ich kam mir wie eine Lügnerin vor. Für alle anderen war es ein normaler Tag an der Ostsee, aber nicht für uns. Wir schauten auf das blaue Wasser hinaus und wussten, was in der Nacht geschehen würde. Einmal jedoch vergaß ich es völlig, aß mein Eis und schaute einem Kind zu, das mit seinem Wasserball spielte, fühlte die Sonne, roch den Sommer. Einen Moment lang war ich glücklich. Dann fiel es mir wieder ein und ich hatte ein Kribbeln im Bauch wie beim Karussellfahren.

      Am Nachmittag haben wir versucht, am Strand vorzuschlafen, weil wir in der Nacht nicht dazu kommen würden. Es hat aber nicht geklappt, wir waren viel zu aufgeregt. Ich bin nur einmal kurz weggedöst. Andreas zappelte in den Dünen neben mir herum und konnte nicht zur Ruhe kommen.

      Später haben wir in einer Speisegaststätte Nudeln mit Tomatensoße gegessen, als Grundlage.