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Brücken bauen. Mauern einreißen.


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kratzte Frank sich am Kopf. Seine aschblonden Haare wirbelten herum.

      Ulrich ordnete die Karten. »Wahrscheinlich besser, als an deine Dosenöffner zu denken, was?«

      Frank schaute verlegen auf den Tisch. Das Thema war ihm unangenehm, denn er durfte sein Abitur machen, im Gegensatz zu mir. Ich lehnte mich zurück und senkte feierlich die Stimme, wie der Ansager bei der Ersten-Mai-Demonstration. »Jeden Tag erfülle ich die Norm. Wenn ich weiter so fleißig bin, kann ich eine Lehre zum Industriedesigner anfangen. Vielleicht in zwei Jahren.«

      Frank legte alle seine Karten auf einmal ab. »Rommé!«

      Wir starrten auf sein Blatt.

      Frank trank seine Cola in einem Zug leer, stand auf und ging aufs Klo.

      »Du hast geschummelt«, rief Ulrich ihm nach. Die Dame an der Bar bekam vom Wirt ein neues Bier hingestellt. Der Schaum lief über den Glasrand.

      Ulrich mischte die Karten erneut, schaute nicht hoch. »Also Hanna, wenn du so weiterschwimmst, schaffst du es tatsächlich bis nach Gedser.«

      Ich nahm jede Karte, die er mir zuwarf, einzeln auf. »Einen Versuch wäre es wert.«

      Ulrich hob sein Bierglas und trank einen Schluck. Sein Auge zuckte komisch. »Du hättest auch nur einen Versuch«, sagte er leise. Frank kam vom Klo und setzte sich wieder. »Mir ist gerade was eingefallen. Wenn du mal längere Zeit in der Warnow trainieren willst, anstatt immer nur Bahnen zu ziehen, kannst du meinen Neoprenanzug haben. Ich borge ihn dir.«

      Ulrich hielt beim Sortieren inne und sah mich an.

      »Ja.« Ich sah von einem zum anderen. »Ich würde gern mal die Warnow rauf- und runterschwimmen.«

      »Die Warnow rauf und runter«, wiederholte Ulrich.

      »Ich bring ihn am Freitag einfach mit«, beschloss Frank und nahm seine Karten auf.

      Auch dieses Spiel gewann er. Danach hatten wir alle keine Lust mehr und verließen die Klause.

      Draußen goss es in Strömen. Frank rannte dem Bus entgegen, der gerade um die Ecke kam. Auch ich wollte loslaufen, doch Ulrich hielt mich am Arm fest.

      »Warte, ich fahre dich nach Hause.«

      »Quatsch, das ist doch ein Umweg für dich!«

      Doch er zog mich zu seinem uralten Skoda, der fast auseinanderfiel. Beim Einsteigen stieß ich mir den Kopf, weil ich so erschöpft vom Training war. Drinnen roch es nach Benzin. Langsam fuhren wir durch den Regen. Die Rücklichter der Autos schimmerten rot durch die nasse Windschutzscheibe, über die der Scheibenwischer ratschte.

      Die Friedrich-Engels-Straße war menschenleer und dunkel, weil mal wieder einige Laternen nicht funktionierten. Ulrich hielt vor unserem Haus und stellte den Motor ab. Die Stille war fast unheimlich.

      »Wie geht es deinem Vater?«

      Erstaunt sah ich ihn an. Normalerweise fragte das niemand. »Gut. Er liest neuerdings wieder alleine seine Bücher.«

      Ich legte die Hand auf den Türgriff. Ulrich drehte sich zu mir. »Creme dich mit Vaseline ein, so fett es geht. Wegen der Kälte. Und zieh Strümpfe an, bevor du in die Flossen steigst, sonst scheuerst du dich auf.«

      Er beugte sich vor und fummelte am Rückspiegel herum. »Und nimm Schokolade mit, als Energiereserve.«

      »O. k.« Ich schob die Tür auf und stieg aus.

      »Warte!« Ulrich lehnte sich über den Beifahrersitz. Kalter Regen fiel mir auf den Rücken, als ich mich zu ihm hinunterbeugte.

      »Zieh schwarze Handschuhe an.«

      Ich wusste, was er meinte, und nickte.

      Er schaute mich lange und nachdenklich an, mir wurde dabei etwas unwohl.

      »Warum, Hanna?«

      Ich wusste nichts zu sagen. Wie sollte ich das erklären? Ich konnte Andreas einfach nicht allein schwimmen lassen.

      »Ist es wirklich so schlimm?«

      Ich atmete tief ein, schaute ihm in die Augen und nickte. Das war das Beste.

      Ulrich packte den Griff und knallte die Tür zu. Erst beim dritten Versuch startete der Motor. Der Skoda knatterte so laut, dass Nachbarin Lewandowski die Gardine zur Seite schob und einen Kontrollblick aus dem Fenster warf.

      Nun hatte ich also einen Neoprenanzug.

      Das musste ich unbedingt Andreas berichten. Und die Hinweise waren auch sehr wichtig für uns. Ich ging auf die Haustür zu, blieb erneut stehen und schaute Ulrich hinterher.

      Plötzlich hatte ich Schiss, dass er mich verraten würde. Nicht aus Bösartigkeit, sondern weil er sich Sorgen machte.

      Es stimmt nicht, was ich eben gedacht habe. Wir haben doch noch einmal festen Boden unter uns. Als meine Knie ihn gerade beim Schwimmen berührten, habe ich mich richtig erschrocken, dachte an ein Tier, den weißen Hai, natürlich Quatsch. Wenn man in der Nacht durch schwarzes Wasser schwimmt und überhaupt nichts sieht, kommt man auf blöde Ideen.

      »Sind wir etwa wieder am Strand?«, fragt Andreas in die Dunkelheit.

      »Nein, das ist nur eine Sandbank.«

      Ich drehe mich auf den Rücken, setze mich und schaue hoch in den Himmel. Angenehm, sich kurz fallen zu lassen, den Boden zu spüren, obwohl wir noch nicht lange im Wasser sind und uns nicht ausruhen müssen. Ich versuche, den Horizont zu erkennen, doch es ist noch zu dunkel. Das Meer schimmert im Sternenlicht.

      Andreas kommt zu mir, legt sich an meine Seite, flüstert: »Auf halber Strecke würde eine Sandbank viel mehr Sinn machen.«

      Ich schaue hoch in den Himmel, höre das Plätschern der Wellen. Seltsame Situation. Wir bewegen uns in die Ungewissheit, so wie es früher die Seefahrer taten. Ohne Karte, mit ungewissem Ziel und nur mithilfe der Sterne. Immerhin haben wir einen Kompass und ein Ziel, den Westen.

      1989

      Gerd Keil

      Es begann das offiziell vorletzte Jahr meiner Haftzeit. Doch in diesem Jahr sollte es eine Menge Veränderungen geben; viele mehr, als ich zu Beginn dieses so schicksalhaften Jahres geglaubt hätte. Doch dazu später mehr. Noch immer arbeitete ich Tag für Tag im Großtagebau Welzow-Süd, und zwar mit dem gleichen Brigadier, der in der Zwischenzeit ein wenig nachlässiger geworden war; wohl deshalb, weil auch sein Entlassungsdatum unaufhaltsam näher rückte.

      Der Winter neigte sich ebenfalls seinem Ende zu und wir konnten die ersten wärmenden Sonnenstrahlen erhaschen. Irgendetwas war aber anders. Irgendetwas lag in der Luft. Man konnte beinahe spüren, dass sich etwas zusammenbraute. Etwas Unheilvolles, etwas Besorgniserregendes, etwas Dramatisches, etwas Einmaliges. Ich konnte es mir nicht erklären, und so beschloss ich, es auf mich zukommen zu lassen. Schlimmer, da war ich mir eigentlich sicher, konnte es sowieso nicht mehr werden. Was auch passierte, es musste etwas Besseres oder zumindest Anderes sein.

      Der Frühling begann und jedes Mal, bevor wir in die Schleuse unseres Gefängnisses marschieren mussten, fand eine Zählung statt. Dieses Mal waren es zwei Personen zu viel. Zwei zu viel? Hierher kam doch niemand freiwillig. Wie in Gottes Namen konnten wir dann Zwei zu viel sein?

      Wir marschierten alle in die Schleuse. Dort stand auch dieses Mal der Bus vom Typ Ikarus 66 bereit. Wieder wurden die Namen der Häftlinge verlesen, und wieder stieg einer nach dem anderen in den Bus. Als Letzte stiegen wie immer die Wächter mit ihren Hunden – Rottweilern, Riesenschnauzern, Schäferhunden – und den Maschinenpistolen ein. Außer mir und dem anderen politischen Häftling befanden sich nun alle im Bus. Unsere Namen hatte niemand vorgelesen, und so standen wir da wie bestellt und nicht abgeholt. Man informierte uns darüber, dass wir auf Transport gingen.

      Nachdem wir das Gefängnisgelände wieder betreten hatten, schloss sich die Schleuse auf unserer Seite. Erst dann öffnete sich die Schleuse auf der anderen Seite und der Bus fuhr los. Wohin aber sollten wir transportiert werden? Wir hofften,