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Brücken bauen. Mauern einreißen.


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leben oder reicht der Arm der Stasi auch noch bis in den Westen? Wie wird das Leben dort weitergehen? Schließlich ist das Leben in Deutschland ein ganz anderes als das, das wir aus dem Unrechtssystem in der DDR kennen. Diese Fragen ließen mich immer wieder sehr nachdenklich werden. Eines aber war sicher: Ich wollte weg. Raus aus diesem Staat, der seine Bewohner einsperren muss, um sie am Gehen zu hindern.

      Wir mussten alle einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stellen und unterschreiben, dass wir während der Haftzeit niemals physisch oder psychisch misshandelt worden waren. Diese Unterschrift mussten wir noch während der letzten Tagen der Haft leisten. Wir wurden auch darüber belehrt, dass wir mit keinem Wort erzählen durften, was wir während der Haftzeit gesehen und/oder erlebt hatten. Falls wir uns nicht daran hielten, würden nicht nur wir selbst, sondern auch gleich die ganze Familie verhaftet werden.

      Es nahte der Tag der Tage, wie wir sagten. Schon am Morgen sollten wir all unsere Sachen zusammenpacken. Alles, was dem Knast gehörte, gaben wir ab, zum Beispiel die Bettwäsche, das Besteck mitsamt der Bestecktasche, die Tasse, den Teller oder Dinge für die tägliche Hygiene. Die Stunden, die uns hier noch verblieben, vergingen so zäh und so langsam, als wären es Monate oder sogar Jahre.

      Der Obermeister, der uns schließlich zum Bus begleitete, war nur noch das Abbild eines Menschen. Den versteinerten Blick und die eiskalte Sprache werde ich wohl nicht mehr vergessen. Als ich an der Reihe war und gefragt wurde, ob ich die DDR wirklich verlassen wolle, hätte ich beinahe angefangen zu lachen. »Natürlich will ich die DDR verlassen«, sagte ich. Dann lief ich los.

      Die fünf, vielleicht sechs Meter ging ich sehr langsam, denn ich wollte diese Minuten spüren, ich wollte sie fühlen, riechen, sehen, ich wollte am liebsten die Zeit in Slow Motion erleben. Da stand er: der Bus. Für viele andere wäre es ein ganz normaler Bus vom Typ Mercedes gewesen. Für mich und für die anderen elf war er alles, aber kein normaler Bus. Schon auf den Stufen, die in das Fahrzeug führten, lag ein Teppich, die Sitze hatten Polsterbezüge und sehr hohe Lehnen. Ich setzte mich gleich in die zweite Reihe. Als ich mich anlehnte, merkte ich, wie weich das Polster, aber auch wie hoch die Rückenlehne war, denn ich konnte mich mit meinen knapp zwei Metern ganz anlehnen. Als ich saß, schloss ich erst mal die Augen.

      Ich war angekommen, ich war da, wo ich zum Schluss nur noch hinwollte, ich war am Anfang eines neuen Lebens. Ich fühlte mich tatsächlich wie neu geboren. Ich begann, den Bus ganz genau zu betrachten, denn ich wollte keine einzige Kleinigkeit verpassen. Dieser Moment, da war ich mir sicher, würde in meinem Leben niemals wiederkommen. Also saugte ich die Luft ganz langsam durch meine Nase ein, und bevor ich wieder ausatmete, wartete ich so lange ich konnte. Ich glaubte, wenn ich schneller atmete, verginge die Zeit schneller.

      Dann fuhr der Bus los. Nicht das laute Aufheulen des Motors, sondern nur der kraftvolle Zug der PS-starken Maschine beendete die Ruhe oder besser die Stille, die bis dahin das vorherrschende Geräusch im Bus gewesen war. Als wir uns auf freier Strecke befanden, fingen wir an, noch mehr zu genießen. Die Sängerkarriere stand wohl niemandem bevor, aber für die Hymne Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland reichte es. Als wir die ersten Zeilen gesungen hatten, passierte noch etwas, das ich so vorher noch nie erlebt hatte: Es sangen tatsächlich alle mit, sogar der Busfahrer. In diesem Moment bekamen wir alle Gänsehaut. Nie wieder kontrolliert werden, nie mehr vor einem Vernehmer sitzen, nie wieder sich nach allen Seiten umschauen müssen, bevor man etwas ausspricht, nie mehr … so viel mehr.

      Es war früh am Morgen, als wir ankamen. Ich hatte nicht geschlafen, war aber auch überhaupt nicht müde. Ich glaubte, noch Tage so durchmachen zu können, ohne auch nur einen einzigen Augenblick darüber nachzudenken, was mein Körper dazu sagen würde. Ich war wie in Trance. Ich hatte Angst, dass dies nur ein Traum sein könnte, und wenn ich wach würde, wäre alles vorbei.

      Als wir an unserem Ziel ankamen, standen wir vor dem Auffanglager in Gießen. Dort angekommen, atmeten wir das erste Mal die Luft der Freiheit – die Freiheit, zu leben, wie jeder Mensch das möchte. Ohne Bevormundung, ohne das Gefühl, in einem einzigen großen Gefängnis zu sitzen. Nie wieder Vernehmungen, nie wieder »Raus«, »Ausziehen«, »Bücken«, »Schlafhaltung einnehmen« oder »Kommen Sie«, »Gehen Sie«, »Bleiben Sie stehen«, »Gesicht zur Wand«, sondern nur noch den Duft der Freiheit riechen, ein neues Leben beginnen. In den ersten Jahren nach dem Freikauf feierte ich in jedem Jahr, am 08. April, meinen zweiten Geburtstag.

      Gleich am zweiten Tag in der Freiheit sollte es aber doch wieder eine Vernehmung geben. Nein, nicht so wie im Stasigefängnis, hier ging es darum, dass die Deutschen Behörden wissen wollten, was mit uns gemacht worden und wie es um unseren Gesundheitszustand bestellt sei. Ich erzählte und erzählte, ohne auch nur einen einzigen Moment daran zu denken, dass ich doch vorher unterschrieben hatte, niemals etwas zu erzählen. Diese erpresste Unterschrift war für mich nicht mehr gültig, als wir angefangen hatten, die Nationalhymne Deutschlands zu singen.

      Dann kam die Frage nach meinem künftigen Wohn- und Arbeitsort. Ich sagte schneller, als ich gefragt wurde: »Ich liebe die See, den Nordwind und die Freiheit. Ich möchte nach Hamburg.« Eigentlich sollte ich zurück nach Berlin, genauer gesagt nach Berlin-Wilmersdorf. Das war mir viel zu nah an der Mauer und ich hatte große Angst, dass die Stasi mich dort finden und wieder einsperren würde. Ich bat so lange darum, doch nach Hamburg gehen zu dürfen, bis man meinem Wunsch nachgab.

      Noch knapp drei Wochen blieb ich in Gießen, dann hatte ich alle Papiere, eine Wohnung und auch einen Arbeitsplatz. Es ging nun dorthin, wo die Luft nach Freiheit riecht, der Wind so schön von vorn ins Gesicht bläst, in die große Freiheit, zum Tor zur Welt, mit Möwen, die lautstark verkündeten, dass ich nun wirklich in Freiheit lebte und nie wieder nach Berlin zurück musste. Das war ein solch wundervolles Gefühl, dass ich es mit Worten nicht beschreiben kann. Die Sonne kam heraus, verdrängte den Frühling und brachte den Beginn einer wunderschönen Zeit.

      Ich hatte einen großen Wunsch, den ich mir sogleich erfüllte, nachdem ich angekommen war: Ich holte mir einen großen, einen richtig großen Eisbecher. Die Kellnerin in dem Café, in dem ich saß, muss entweder geahnt haben, woher ich komme, oder mich für völlig verrückt gehalten haben. Ich sah das Eis an, als wenn ich noch nie in meinem Leben etwas Vergleichbares gesehen hätte. Sechs Kugeln Eis und Früchte, die ich bis dahin noch nicht einmal vom Namen her kannte. Es war so lecker, dass ich glaube, den Geschmack nie wieder zu vergessen. Ich denke sehr gerne daran zurück.

      Ich kaufte mir alles, was ich brauchte. Ganz besonders wichtig schienen mir eine Eckbank und ein Esstisch zu sein. Warum, weiß ich heute nicht mehr, aber das sind die einzigen Möbel, die noch heute in meiner Wohnung stehen. Ebenso mussten natürlich ein kleiner Fernseher, ein Radio, ein Bett, ein Schrank und Bekleidung gekauft werden. Ich hatte doch nichts außer den Sachen, die ich anhatte, und meine Eisenbahnuniform. Ich zog sie natürlich nicht mehr an, aber wegwerfen wollte ich sie auch nicht. Zumindest nicht gleich. Zu dieser Zeit hatte ich andere Dinge im Kopf, um die ich mir Gedanken machte und machen musste. Was wird aus mir und meiner Freundin? Werde ich sie wiedersehen? Wenn ja, wann? Was ist mit meinem Bruder? Ist auch er freigekauft worden oder sitzt er noch immer in Haft? Wo sind meine Eltern beerdigt?

      Der Sommer kam und mit ihm mein Telefon. Ich bekam einen Telefonanschluss, obgleich ich diesen erst kurz zuvor beantragt hatte. Hielt dabei die Stasi die Fäden in der Hand, in der Hoffnung, ich würde nun mit irgendjemandem aus der Gruppe kontaktieren? Ich konnte mich nicht von dem Gedanken befreien, dass die Stasi noch immer so viel Macht über mich hatte, dass ich mir ein tatsächliches Ausmaß gar nicht ausmalen konnte oder wollte.

      Die Arbeit hier im Hamburger Hafen war zwar körperlich schwer, aber wir waren ein so tolles Team, dass ich mich beinahe von Anfang an als wirklich angekommen fühlte. Meine Vergangenheit hat hier kaum irgendjemanden interessiert. Ich war einer aus dem Osten, aber da ich meine Arbeit machte, war ich auch ein gern gesehener Kollege, mit dem man eine Menge Spaß haben konnte. Wenn aber der Feierabend herangerückt war und wir alle nach Hause fuhren, beschäftigte mich zunehmend der Gedanke, wie es meiner Freundin ging.

      Zurück in den Osten würde ich nie mehr kommen, denn ich hatte in meinem Pass einen Stempel, der besagte, dass ich für die nächsten neunundneunzig Jahre in der DDR als unerwünschte Person gelte.

      Damit