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Brücken bauen. Mauern einreißen.


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mehr. Was war das, Vertrauen? Für mich nur noch etwas, das ich am besten niemandem mehr entgegenbringen sollte und wollte. Ich hatte in schmerzvollen Lektionen erfahren müssen, wie es ist, wenn man den falschen Menschen Vertrauen schenkt. Gab es hier in Hamburg, im Hafen oder womöglich sogar unter den Kollegen so jemanden? Ich wusste es nicht und daher hatte ich für mich beschlossen, so gut wie nichts von mir zu erzählen. Wir sprachen auf der Arbeit oft miteinander, aber von mir erzählte ich nichts. So fraßen sich die schmerzvollen Lektionen immer mehr in mich hinein.

      Ich arbeitete fleißig weiter, freute mich über jeden neuen Tag, über die Möwen, die Seeluft, den Wind, einfach über alles, was ich mit meinen fünf Sinnen aufsaugen konnte. Die Zeit soll ja alle Wunden heilen, hat mal ein Kollege gesagt. Ich weiß nicht, die Zeit verändert vielleicht den Blickwinkel, aber alle Wunden heilen? Nein, das wohl nicht.

      Es wurde Herbst. Die Zeit war so schnell vergangen, dass ich gar nicht richtig realisieren konnte, dass ich mich nun wirklich in Freiheit befand. Bevor der Herbst die Blätter der Bäume bunt färben würde, wollte ich einmal die Freiheit sehen und fühlen. Hamburg wird gern und auch zu Recht als das Tor zur Welt bezeichnet. Das Tor zur Welt – da kam mir und meinem besten Freund eine Idee. Was liegt näher, als in den nächsten Flieger zu steigen und die Freiheit über den Wolken und in der Stadt der Städte zu genießen? Richtig, auf nach New York. Wir waren so lange in der DDR eingesperrt gewesen, dass wir einen echten Bedarf an Freiheit hatten.

      Wir erlebten diese Woche in New York, waren im Central Park, beim Rockefeller Center, auf der Brooklyn Bridge, am World Trade Center und natürlich auch bei der Freiheitsstatue. New York ist eine so tolle Stadt, die anscheinend wirklich niemals zur Ruhe kommt oder etwa schläft. Wunderschön! Es ist im wahrsten Sinne des Wortes die Stadt der Städte.

      Als wir nach dieser Woche wieder zurück in Hamburg waren, hatte sich vielmehr in der DDR eine ganze Menge ereignet. Von den Kollegen erfuhren wir, dass sich die Bevölkerung dort gegen die Diktatur zu erheben schien. Mein erster Gedanke, als ich das hörte, war, dass die Bevölkerung das im Jahre 1953 schon einmal getan hatte. Damals jedoch waren Panzer der Russen durch die Straßen gerollt und viele der Menschen waren verhaftet und in Farce-Verhandlungen zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Der Aufstand selbst war blutig niedergeschlagen worden. Wenn das wieder passierte, dann würde ich meine Freundin wahrscheinlich nie wiedersehen. Wenn sie frei war und noch dort lebte, dann war sie garantiert bei jeder Demonstration dabei und das nicht in der vorletzten, sondern in der ersten Reihe. Da war ich mir sicher. So hoffte ich, dass dieser Aufstand zu Freiheit und Demokratie führen und nicht blutig beendet werden würde.

      Aber bis das Volk in der DDR an diesem Punkt ankam, würden bestimmt noch Monate oder Jahre vergehen, da war ich mir sicher. Schließlich hatte ich lange genug dort gelebt, um mir vorzustellen, wie die Stasi, die SED und die Volkspolizei auf diese Erhebung der Bevölkerung reagieren würden. Entsprechende Befehle und Weisungen aus der Partei- und Staatsführung würden auch nicht lange ausbleiben. Würden auch dieses Mal russische Panzer kommen, um alles niederzuschlagen? Da war ich mir nicht so sicher, denn seit Michail Gorbatschow in Russland an der Macht war, vollzog sich anscheinend auch dort langsam aber sicher ein Wandel. Aber ein schneller Wandel, da war ich mir wieder sicher, würde auch in Russland nicht geschehen.

      Die Wahl, die keine war, hatte all dies wohl ausgelöst. Als im Frühjahr verkündet worden war, wie viele Menschen an der Wahl beteiligt waren und dass natürlich die SED die meisten Stimmen bekommen hatte, war wohl jedem, der eins und eins zusammenzählen konnte, klar, dass dies eine glatte Fälschung war. Dass viele Wahlen schon vorher keine gewesen waren, war eigentlich bekannt, damals aber hatte sich wohl niemand getraut, sich dagegen aufzulehnen. Dieses Mal jedoch war alles anders.

      Anfang September gingen Oppositionelle in Leipzig auf die Straße und forderten Demokratie, Pressefreiheit und offene Grenzen. Die Stasi ging massiv dagegen vor und verhängte drastische Strafen. Sicherlich auch in der Hoffnung, dass solche Demonstrationen künftig nicht mehr stattfinden würden. Aber das Gegenteil war der Fall und das war es, was auch mich freute. Endlich stand das Volk auf und sagte, was es wollte.

      Als jedoch Ende September mehrere tausend Menschen durch Leipzig zogen, zog auch die Staatsgewalt mit kompletter Schutzausrüstung auf die Straße, und schon hatte ich eine riesige Angst, dass die friedlichen Demonstranten nicht nur zusammengeknüppelt werden würden, sondern dass diese Demo auch noch das Ende des Aufstandes bedeuten würde.

      Nur zwei Tage nach dem 40. Geburtstag der DDR gingen wieder Tausende von Menschen auf die Straße, die massiven Drohungen der SED völlig ignorierend. Es sollten nicht nur Drohungen sein, die bereits vor Ort befindlichen Truppen warteten anscheinend nur auf den Befehl. Aber der kam nicht. Dieser Befehl kam schlichtweg nicht. Im Gegenteil, die Truppen wurden wieder abgezogen. So war der Bann gebrochen und im gesamten Land lehnte sich die Bevölkerung gegen die Diktatur auf. Die Partei- und Staatsführung, wie sie sich selbst immer so gern nannte, befand sich, glaube ich, nun in einem Albtraum.

      In den nun folgenden Tagen und Wochen schaltete ich oft die Nachrichten ab, weil ich immer noch übergroße Angst hatte, dass auf einmal alles kippen konnte. Ich wollte im Fernsehen nicht sehen, wie Schüsse fielen und blutüberströmte Menschen auf den Straßen lagen. Ehrlich, ich hatte eine solche Angst, weil ich aus eigenem Erleben erfahren hatte, wozu dieser Staat und seine Stasi fähig waren. Was, wenn doch alles niedergeschlagen wurde, jetzt, da sich die meisten Menschen, die Veränderungen wollten, an diesen Demonstrationen beteiligten? Man musste doch nur blind in die Menge schießen und mit Panzern dazwischenfahren. Auch dazu wäre die Partei wohl fähig, davon war ich überzeugt.

      So ging ich auch am 9. November zur Arbeit, ohne vorher Nachrichten gesehen oder gehört zu haben. Meine Kollegen waren interessierter, aber bei mir überwog noch immer die Angst. So kam es, wie es kommen musste. Ein Kollege kam zu mir und sagte: »Gerd, komm doch mal mit in den Pausenraum, in Berlin fällt die Mauer.« Der Fernseher war an und beinahe alle saßen davor, als fände gerade eine Fußball-WM statt. Dann sah ich die vielen Menschen, die immer mehr und mehr wurden, und dann die Soldaten, die nicht daran dachten, auch nur irgendetwas in Richtung Mauerfall zu tun. Also setzte ich mich dazu, denn diese Bilder hatten mich in wenigen Sekunden völlig in ihren Bann gezogen. Dann sahen wir andere Bilder und plötzlich passierte es. Das Unfassbare geschah tatsächlich. Ich bekam Gänsehaut am ganzen Körper. Da passierte etwas, das ich so schnell nicht erwartet hatte und das alles verändern würde.

      Der Schlagbaum an der Brücke in der Bornholmer Straße ging nach oben. Kein Schuss fiel, keiner wurde verhaftet. Die Menschen rannten los, Menschen, die sich noch nie gesehen hatten, lagen sich in den Armen. Freudentränen, unfassbares Glücksgefühl, all das spielte sich auf den Straßen Berlins, in ganz Berlin, binnen weniger Stunden ab.

      Mein erster Gedanke war: Hurra, das hässlichste Bauwerk, das Menschen je gebaut haben, ist weg! Wie wundervoll, ich habe von keinem Schuss gehört! Aber was, wenn jetzt alle rüberkommen? Was, wenn mein Vernehmer vor mir steht? Was, wenn sie die Mauer wieder schließen und noch mehr Familien trennen? All das ging mir nun durch den Kopf. So ist das eben, wenn man gelernt hat, dass man sich sehr, sehr genau überlegen muss, wem man etwas Vertrauen entgegenbringt. Ich hatte zu diesem Staat selbstverständlich überhaupt kein Vertrauen mehr. Woher hätte es auch kommen sollen?

      Wirklich weitergearbeitet hat von unserem Team niemand. Schließlich kannten die meisten zumindest ein paar Teile meiner Biografie und wussten, dass man nicht einfach mal so aus der DDR nach Hamburg kommt, wenn man noch nicht einmal sechsundzwanzig Jahre alt ist, das war hier jedem klar. Anscheinend sahen meine Kollegen mir meinen Kummer an, denn alle wollten mir helfen, wollten wissen, wie es mir jetzt gehe, was ich nun tun werde, ob ich hierbleiben werde und noch so viel mehr.

      Wieder einmal spürte ich, wie schön es ist, wenn es Menschen gibt, die mir etwas bedeuten und denen ich etwas bedeute. Auch wenn das Arbeitsklima oft rau war, so war es doch auch sehr herzlich und in diesem Moment warteten alle auf irgendein Wort von mir. Ich aber saß da und konnte gar nichts sagen. Ich bekam einfach keinen Ton heraus. Dieses Gefühl kannte ich aus der bisher schlimmsten Zeit meines Lebens, nämlich der in der Absonderungs- oder besser gesagt Gummizelle im Stasiknast, in dem ich war.

      Das Gefühl war genau dasselbe, aber ich war doch gar nicht dort. Ich verstand das alles nicht. Was war