Dietmar Kottisch

JUSTITIAS BRUDER


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      „Auch der Staatsanwalt. Der hat nichts unternommen, Praun zu überführen.“

      „Ich weiß.“ Oliver bedankte sich bei ihm und ging.

      Am nächsten Tag trafen sie sich wieder. Es war zehn Uhr.

      Oliver berichtete, was Very gesagt hatte. Jana lief es kalt den Rücken herunter. Alex schüttelte betroffen den Kopf. „Drecksbande.“

      Er hatte die Telefonnummer von Kammer im Ministerium herausgefunden. Dann drückte er auf den Aufnahmeknopf seines Kassettenrecorders und wählte.

      „Kammer,“ hörten sie seine etwas belegte Stimme.

      „Guten Tag, Herr Kammer. Mein Name ist Alex Riemek. Ich möchte mich gerne mit Ihnen unterhalten. Und ich zeichne das Gespräch auf.“

      Der Hörer wurde am anderen Ende kommentarlos aufgelegt.

      Alex grinste: „Na warte, mein Freund. So nicht.“ Er wählte neu, wartete. Dann legte er auf. Sekunden später wählte er wieder und wartete. Das Spiel ging so zehn Minuten lang, bis Kammer den Hörer nochmals abhob.

      „Es hat keinen Sinn, wenn Sie immer wieder in der Versenkung verschwinden wollen, Herr Kammer. Wenn Sie nicht mit mir reden, komme ich ins Ministerium.“

      Die drei hörten ihn atmen.

      „Worum geht es?“ In seiner Stimme oszillierte ein leichtes Zittern.

      „Um den Prozess gegen Ihren Chef….“

      „Presse?“

      „Ja.“

      „Der Prozess ist abgeschlossen, was soll das?“

      „Kann ich am Telefon nicht sagen. Also, können wir uns treffen?“

      „Ich habe kein Interesse, mit Ihnen zu sprechen. Auf Wiederhören….“

      „Haben Sie einen Zwillingsbruder?“ sagte Alex schnell, bevor Kammer aufgelegt hatte.

      Am anderen Ende war es plötzlich ganz still.

      „Wie meinen Sie das?“

      „Nicht am Telefon, Herr Kammer.“

      Es schien, als ob er nicht mehr in der Leitung wäre.

      „Sind Sie noch dran?“ fragte Alex.

      Es dauerte abermals viele Sekunden, bis Kammer reagierte.

      „Wann und wo?“ fragte der Justizstaatssekretär.

      Heute Nachmittag um fünf. Es gibt bei Ihnen um die Ecke ein Cafe, den "ALTEN RICHTER". Reservieren Sie vier Plätze.“

      „Warum vier?“

      „Das erfahren Sie dann.“

      Alex legte auf. „Den haben wir. Alleine die Tatsache, dass er kommt, spricht doch Bände…“

      „Deine Bemerkung vom Zwillingsbruder war es. Da muss bei ihm was geklingelt haben.“

      Jana übernahm jetzt eine Art Lagebesprechung. „Wir wussten im Grunde genommen zunächst nicht genau, ob es Praun war. Wir haben nichts gesehen. Nur ein weißer Mercedes, der das Kind umgefahren hat und abgehauen ist.

      Dann hören wir einen Zeugen, der sich Teile des Nummernschilds, den Fahrzeugtyp und das Gesicht des Fahrers gemerkt hat; und es sich später herausstellte, dass es der Wagen des Justizministers sein könnte.

      Nun haben wir was Greifbares.

      Und jetzt beginnt das Vabanque Spiel der Gegner. Versetzen wir uns in die Lage des Fahrers. Er weiß, dass er schuldig ist. Das sitzt in seinem Kopf so fest wie Granit. Aber er will nicht dafür büßen, weil er viel zu verlieren hat.

      Ergo muss er zwei Zeugen gegen einen Zeugen auffahren, damit der Richter einen Grund zum Freispruch hat. In dubio pro reo. Er hat zwei Freunde im Amt, die ihm ein Alibi geben.

      Zunächst versuchen sie, den Zeugen zu bestechen, weil der vor Gericht zu Lasten des Ministers aussagen wird; wie er es auch Oliver geschildert hat. Jetzt haben wir einen besseren Grund, dem Zeugen zu glauben.

      Dann wollen sie den Zeugen verschleppen, was aber nicht gelingt.

      Wir müssen uns vor Augen halten, was das bedeutet. Wenn es ihnen gelungen wäre, den alten Mann in ihre Gewalt zu kriegen, dann hätten sie ihn wahrscheinlich so sehr misshandelt, dass er keine Aussage mehr machen kann. Das sind kriminelle Methoden, das dürfen wir nicht unterschätzen.

      Wir sehen das Gesicht des Ministers im Gerichtssaal und aus dem Zeitungs-Archiv: kurzes, weißes Haar, Brille.

      Schließlich konnten wir das Alibi von Kammer zunichte machen. Und jetzt gibt es für uns keinen Zweifel mehr.“

      „Du hättest Anwalt werden sollen,“ lachte Oliver. Und wurde sich bewusst, dass er sie eben geduzt hatte. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und ließ ein schwaches Lächeln erkennen.

      „Wir wissen nicht, was herauskommt, wenn es zu einem Wiederaufnahmeverfahren käme. Wir wollen aber aufs Ganze gehen. Deshalb müssen wir psychologisch taktieren. Prauns Schuld sitzt tief in seinem Kopf, und er ist Choleriker, wie allgemein bekannt ist. Das sind die beiden wichtigsten Ansatzpunkte. Wir müssen also vor allen Dingen mit Praun sprechen.“

      Sie trank einen Schluck Kaffee.

      „Ich hab von meinen Großeltern ein Gehöft im Main Kinzig Kreis zwischen Nidderau und Hammersbach geerbt, das schon lange brach liegt. Wir könnten Kammer dort unterbringen.“

      „Du meinst, wir sollten ihn dort mal in die Mangel nehmen?“ fragte Alex halb erstaunt und halb süffisant. Jana nickte. Oliver grinste sie an. „Ganz schön radikal, diese Lady hier…“

      „Jetzt erst mal nach Wiesbaden. Aber behalten wir dein Gehöft im Auge.“

      Gegen halb vier fuhren die drei nach Wiesbaden, die Fahrt dauerte anderthalb Stunden, weil der Berufsverkehr eingesetzt hatte. Während der Fahrt kam Jana der Gedanke, dass sie seit dem Unfall wieder etwas Wesentliches spürte, nämlich das tief verwurzelte Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Und diese beiden Männer dachten ebenso, denn beide traten in Aktion, wenn es darum ging, Unrecht aufzudecken. Der entscheidende Punkt war, dass sie persönlich nicht betroffen waren, dass sie es für andere taten, die sich nicht wehren konnten.

      Sie trafen zehn Minuten vor fünf im Cafe ein und fragten nach dem reservierten Tisch.

      Das Cafe war ein Altbau, es strahlte die Gemütlichkeit eines Wiener Cafehauses aus. Die Bedienung, ein junges Mädchen, führte sie an einen Ecktisch. Oliver und Jana bestellten Kaffee, Alex einen Tee. Oliver nahm ein Sandwich dazu, er hatte Hunger.

      Punkt fünf Uhr betrat Kammer das Cafe. Er nickte, als er Jana sah, weil er sie wiedererkannte. Dann hing er seinen Mantel an den Gardarobenhaken. Er begrüßte die drei höflich, aber zurückhaltend per Handschlag und nahm Platz.

      Kammer war blond, einen Meter achtzig groß und schlank, mochte etwa vierzig Jahre alt sein. Er hatte feine Gesichtszüge und schmale, kleine Augen. Er trug einen dunklen Anzug, blaues Hemd mit Krawatte.

      „Sie waren doch am Unfall beteiligt….,“ bemerkte er. Jana schüttelte den Kopf. „Indirekt, aber das wissen Sie ja ganz genau.“

      „Nein, ich weiß es nicht. Unser Anwalt hatte Sie ja in Verdacht…..“

      Alex fuhr ihm barsch ins Wort. „Herr Kammer, Schluss damit. Sie sind nicht in der Position, haltlose Verdächtigungen gegen Frau Johansson auszusprechen. Kommen wir gleich zur Sache.“

      Kammer warf ihm einen giftigen Blick zu. „Das müssen Sie mir erklären, dass ich nicht in der Position bin.“

      Die Bedienung kam, und Kammer bestellte ein Bier.

      „Sie haben unter Eid ausgesagt, dass der Justizminister am siebzehnten Oktober um zwölf Uhr vierzig in seinem Büro gewesen war und so den tödlichen Unfall mit Fahrerflucht nicht begangen haben konnte. Ist das richtig?“