Dietmar Kottisch

JUSTITIAS BRUDER


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hatten, kam nie heraus. Auf jeden Fall arbeiteten sie nach der Verurteilung wegen Meineides, sie bekamen ein Jahr mit Bewährung, in der Postabteilung des Ministeriums.

      *

      Jana war tief bestürzt. „Ich komm nicht darüber hinweg, dass der Kerl sich erschossen hat,“ sagte sie, als sie sich einen Tag später wieder bei Oliver in seiner Wohnung trafen.

      Lars hatte ihr schwere Vorwürfe gemacht, dass durch ihr Handeln ein Mensch zu Tode gekommen ist. Sie war außer sich vor Zorn. Ihre Gefühle liefen Amok, weil sie sich Trost und Verständnis erhofft hatte und stattdessen Ablehnung und Verurteilung von ihrem Mann erfuhr.

      „Schuldgefühle?“ fragte Oliver. Sie nickte. „Schuldgefühle, dass sich ein Mensch unseretwegen umgebracht hat.“

      Oliver hatte Kaffee und Tee gekocht. Er setzte sich neben Jana und legte eine Hand um ihre Schulter. Sie zuckte leicht zusammen, hatte so eine intime Geste nicht erwartet, empfand es jedoch als sehr angenehm. „Das ist normal. Du musst sie verarbeiten, musst dir bewusst machen, dass ein Gegengefühl vorhanden ist, nämlich das der Gerechtigkeit.“

      Sie drehte ihren Kopf herum und schaute ihm in die Augen. Auch das „du“ kam unerwartet, aber letztendlich wurde sie dadurch bestätigt, dass alle drei dasselbe empfanden und dafür gekämpft haben.

      „Das sagst du so leicht,“ flüsterte sie. Oliver konnte nicht wissen, dass sie mit einer Menge Schuldgefühle zu kämpfen hatte, die mit dem damaligen Erlebnis zusammenhingen. Ihre Eltern gaben ihr die Schuld am Tod ihres kleinen Bruders, der von einem Motorrad überfahren wurde, weil sie einen Moment unaufmerksam gewesen war, und er sich von ihrer Hand losgerissen hatte.

      „Das Gegengefühl wäre, an die Kleine und an ihre Familie zu denken, wie es denen erging. Damit bleibst du in einer gewissen seelischen Waage.“ Er hat Recht, dachte sie.

      „Andererseits, wenn wir das nicht gemacht hätten, wäre der Kerl ungeschoren davon gekommen. Überleg mal, welche kriminelle Energie er aufwenden musste, um sein Ziel zu erreichen.“

      Seine Hand fühlte sich warm an. Sie nickte und spürte in diesen kurzen Momenten ein behagliches Gefühl.

      Dann beugte sie sich nach vorne, um die Tasse Kaffee in die Hand zu nehmen, und seine Hand verlies ihre Schulter. Auch er beugte sich vor und nahm seine Tasse und trank einen Schluck.

      „Wir konnten ja nicht ahnen, dass er sich umbringt,“ meinte Oliver und stellte die Tasse wieder ab. Der kurze Augenblick der Intimität war vorbei und jetzt nicht wiederholbar.

      „Ich weiß nicht, aber als er plötzlich aufsprang und vor Verzweiflung fast heulte, hatte ich blitzschnell eine Ahnung, dass was Schlimmes passieren wird…“ sagte sie.

      In dem Moment klingelte es und Oliver stand auf. „Das wird Alex sein,“ sagte er und ging zur Türe.

      Alex erschien im Wohnzimmer und nickte Jana zu.

      „Sie hat Schuldgefühle,“ bemerkte Oliver, als Alex sich gesetzt hatte, Tee einschenkte und sich eine Zigarette aus der Packung holte.

      „Keiner hat ihm gesagt, dass er sich umbringen soll…“ kommentierte er sarkastisch, und zündete sich die Zigarette an.

      „Das hört sich sehr ...zynisch und fast schon …unmenschlich an. Da steckt `ne Menge Verbitterung dahinter, glaub ich,“ bemerkte sie.

      „Du hast nicht ganz Unrecht.“ Automatisch und wie selbstverständlich kam das du.

      „Sie schwören beim Amtsantritt das Blaue vom Himmel. "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe". Basta.“

      Jana grinste. „Du kennst den Amtseid auswendig?“

      „Ja, damit ich sie immer dran erinnern kann, wenn sie den Eindruck erwecken, dass er nur eine hohle Phrase ist. Sie verabschieden manchmal Gesetze, da kannst du nur staunen über so viel Flickschusterei, man bekommt dann unwillkürlich den Eindruck, dass sie sich von den Lobbyisten bezahlen lassen. Sie sorgen mit ihrer Arbeit dafür, dass gefährliche Randgruppen links und rechts Land gewinnen, weil die Leute die Schnauze voll haben von so viel Lügen und Korruption. Sie wollen erreichen, dass die Lügen vor der Wahl vom Volk stillschweigend akzeptiert werden, führen also eine vollkommen andere Sprache ein, eine Politiker-Sprache."

      Nach einem kurzen Augenblick bemerkte Alex: „Im Übrigen muss ich sagen, dass wir großartig harmonieren, oder?“

      Dann reichte er Jana die Hand: „Ich bin Alex, wie du sicher schon weißt…“

      Eine Träne lief aus ihrem Augenwinkel. Und dann lächelte sie. „Jana, wie du sicher schon weißt…“.

      Dann kam Alex noch einmal auf das Thema zurück. "Andererseits muss ich sagen, dass ich so eine Verantwortung nicht übernehmen möchte. Wenn sie ihre Aufgabe sehr ernst nehmen, ist es eine enorme Belastung. Sie müssen sich manchmal systembedingt gegen ihr eigenes Gewissen oder gegen die Parteidisziplin entscheiden, wenn es um elementare Fragen oder ethische oder religiöse Werte geht."

      Später kam ihr ein Gedanke: „Es war unsere Wut. Aber war sie nicht auch stellvertretend für die ohnmächtige Wut der Betrogenen, die nicht in der Lage sind, etwas dagegen zu unternehmen, die stumm und zornig und hilflos der menschlichen Ungerechtigkeit und der perversen Geldgier ausgeliefert sind!?“

      Es war die Unerträglichkeit des ungerechten Seins.

      Kurze Zeit später verließ Alex die Tageszeitung "Frankfurter Tages Journal" und begann mit den Vorbereitungen, ein Magazin zu gründen, das sich ausschließlich auf das Aufdecken von Missständen, Korruptionen, Betrug spezialisierte und nannte es „Transparent“

      *

       2006

       >Dann kamen wieder die Schuldgefühle hinzu, die sich wie eine Kralle um sein Herz presste. Wie Keulenschläge trafen ihn die Sätze: „Sie haben weiter morden lassen im Namen des Geldes, haben noch mehr Menschen abschlachten lassen. Sie haben Ihren Sohn dadurch immer wieder sterben lassen.“<

      *

      Heinrich Michels, der Kreditsachbearbeiter, betrat am 30. März 2006 das Büro mit dem schweren Eichen-Parkett, den wertvollen Orient Teppichen und den Designer Möbeln.

      Doktor Artur Ebert, Vorstandsvorsitzender der kleinen "Frankfurter Weltfinanzbank" mit dem Slogan "IHR GELD IST UNS WICHTIG" saß in seinem Chefsessel.

      Sein Kreditsachbearbeiter nahm ihm gegenüber Platz und schlug die Akte „Kreditanfrage Lohmann“ auf.

      Es war zehn Uhr dreißig. Es klopfte, Ebert rief „Ja!“, die Türe ging auf und die Sekretärin kam mit einem Silbertablett herein, auf dem zwei Tassen und eine Kanne standen, und stellte es auf dem kleinen Nebentisch ab.

      Michels sah aus dem Fenster, draußen prasselte eine Regenflut auf die Scheiben.

      Ebert fragte ihn, ob er eine Tasse Kaffee wollte, aber er lehnte dankend ab.

      Das Telefon klingelte, Ebert nahm den Hörer und sagte etwas. Dann legte er wieder auf.

      Die Sekretärin goss Kaffee ein und stellte die Tasse vor Ebert hin und ging hinaus.

      Michels hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.

      Baldur Lohmann war sein Schwager und der brauchte Geld.

      Die beiden kannten sich seit acht Jahren, als seine Schwester Baldur Lohmann geheiratet hatte. Baldur hatte 2002 eine kleine Erbschaft von 50.000 Euro gemacht und sich seinen Wunsch nach einem eigenen Geschäft erfüllt, weil er als Verkäufer in der Computerbranche zu wenig Gehalt bezog, und außerdem große Schwierigkeiten mit seinem Chef