Dietmar Kottisch

JUSTITIAS BRUDER


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im Frankfurt am Main im Stadtteil Sindlingen.

      Nach der Sendung bearbeitet er einen neuen, besonders gravierenden Fall. Er vertritt den Sohn eines früheren Freundes, der gegen seine Krankenkasse klagt, die daran Schuld tragen soll, dass er in seinem Betrieb nicht ins Top-Management aufsteigen konnte.

      Auch am 2. April zur selben Zeit sitzen der fünfundfünfzig Jahre alte Alex Riemek und seine vierundvierzigjährige Lebensgefährtin Saskia auf der Couch und schauen sich im Fernsehen die Veranstaltung an, die er initiiert hatte.

      Saskia arbeitet als Psychologin in einer Praxis für Konflikt-Beratung.

      Alex ist einen Meter neunundsechzig groß, hat volles, dunkles Haar, graublaue Augen.

      Er arbeitet als recherchierender Journalist an seinem Magazin „Transparent“, das er im nächsten Jahr gründen wird, nachdem er beim „ Frankfurter Tagesjournal“ aufgehört hatte.

      Die beiden wohnen in Frankfurt Höchst in einem Loft.

      Und ebenso zu diesem Zeitpunkt schreibt Jana Johansson an ihrem Buch über Kindesmisshandlung.

      Sie ist fünfundvierzig und Schriftstellerin, die unter anderem zwei Bücher über körperliche und seelische Misshandlungen geschrieben und veröffentlicht hatte. Von der ersten Auflage von 200 Stück wurden 51 verkauft, zumeist an Sozialarbeiter, Psychologiestudenten oder Streetworker. Die restlichen Exemplare hatte der Verlag der "Selbsthilfegruppe schlagender Männer" zur Verfügung gestellt.

      Jana ist einen Meter sechsundsechzig groß, hat schulterlange rote Haare, tiefblaue Augen, eine leicht füllige Statur. Sie ist verheiratet mit Lars, einem Kameramann beim Hessischen Rundfunk. Sie wohnen in Frankfurter Stadtteil Schwanheim in einem Reihenhaus.

      Dann stellte sie den Fernseher an, ruft ihren Mann, und beide verfolgen das Spektakel in der Arena.

      *

      In einer Meldung vom 28. Mai, also 56 Tage nach dieser Benefiz-Veranstaltung, erfuhren die Leser des „ Frankfurter Tagesjournals“, dass diese Frankfurter Weltfinanzbank die eingenommenen Spendengelder in Höhe von sieben Komma sieben Millionen Euro immer noch nicht in die Region transferiert hatte.

      Der Reporter Michael Glanz, Alex` ehemaliger Kollege vom „ Frankfurter Tages Journal“ hatte herausgefunden, dass die "Deutsch-Äthiopische-Hilfsorganisation" einen Brief an die Bank geschickt hatte, in dem sie um Nachweis des Geldtransfers bat. Glanz hatte es in seiner Tageszeitung auf Seite 4 veröffentlicht, und die Information auch an die Fernseh- und Radiosender weitergegeben. Auch Glanz wusste, wie dringend die Menschen da unten das Geld benötigten.

      Die Meldung verursachte jedenfalls nicht die von ihm erhoffte Resonanz bei allen Medien.

      Daraufhin folgte die Pressekonferenz in den geheiligten Räumen der Bank mit dem Vorstandsvorsitzenden Dr. Ebert, 45 und dem Aufsichtsratsvorsitzenden Dr. Blüsch, 50, die für die Abwicklung der Spendenaktion verantwortlich zeichneten.

      Ein paar Reporter von verschiedenen Zeitungen und zwei Regional und TV-Sender hatten sich eingefunden. Ab und zu zuckten ein paar Blitzlichter auf, wurden ein paar Fragen gestellt, wurde in Handys gesprochen und Notizen gemacht. Alles in allem wenig Publicity, und Ebert und Blüsch handelten die Angelegenheit im Nu ab.

      Zeitverschwendung.

      “Wir widersprechen der Meldung, dass das Geld noch nicht überwiesen wurde. Das Geld ist nicht mehr bei uns. Das kann ich Ihnen versichern,“ sagte Dr. Blüsch. Aus dem Ton war zu ersehen, dass jegliche weitere Frage überflüssig erschien; und mit einer eindeutigen Geste signalisierte er seinen eigenen Abgang.

      „Ich hab nur eine Frage, Herr Doktor Blüsch,“ hielt ihn Glanz vom „Frankfurter Tages Journal“ auf, „kann es sein, dass Sie einen Geldboten mit den sieben Komma sieben Millionen per Fahrrad auf den langen Weg nach Addis Abeba losgeschickt haben? Es sind immerhin über fünftausend Kilometer, und dass der arme Kerl immer noch unterwegs ist?“

      Die Journalisten brachen in ein schallendes Gelächter aus. Blüsch schüttelte den Kopf und verließ kommentarlos den Raum.

      „Ich selber habe mich davon überzeugen können. Bereits nach wenigen Tagen wurden die sieben Komma sieben Millionen überwiesen,“ bestätigte Dr. Ebert mit schneidender, überheblicher Stimme. Keine weitere Diskussion.

      Somit war die Pressekonferenz beendet, weitere Fragen wurden nicht mehr zugelassen.

      Als Ebert in sein Büro ging, fand er auf seinem Schreibtisch einen Briefumschlag mit einem schwarzen Rand vor. Er öffnete ihn. Dann holte er 2 Trauerkarten heraus. Es waren Todesanzeigen. Er warf einen Blick darauf. Eine Frau namens Katarina Lohmann teilte mit, dass ihr kleiner Sohn Miguel und ihr Mann Baldur Lohmann am 1. Juni beerdigt werden. Er, Doktor Artur Ebert, wurde zur Trauerfeier eingeladen.

      Dann fand er einen Zeitungsausschnitt vom 23. April, in dem stand, dass ein Baldur Lohmann mit seinem Auto gegen einen Brückenpfeiler gerast sei und sofort tot war. Es ist zu vermuten, dass es Selbstmord gewesen ist, weil keine Bremsspuren vorhanden waren.

      Der Banker suchte mit seinem zweiten Blick den Papierkorb.

      *

      Als Alex die Nachrichten verfolgt hatte, lehnte er sich langsam in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Er arbeitete bei seinen Vorbereitungen zur Gründung seines eigenen Magazins, als er die Pressekonferenz mit den beiden Bankern sah. Und das Adrenalin schoss ihm ins Blut, als er Ebert erblickt hatte.

      Glanz hatte ihn vorgestern angerufen und über seine Mitteilung vorab informiert. Dann wies er ihn auf die Pressekonferenz hin, die im Fernsehen im Regionalsender übertragen wird. Alex hatte schon geahnt, dass sich kaum jemand für die Angelegenheit interessieren wird. Kein Stoff für Top-Meldungen, kein Stoff für Schlagzeilen, keine Rede wert.

      Insofern war er nicht einmal enttäuscht, was seinem Zorn jedoch mehr Power gab.

      Er steckte sich eine Zigarette an und erinnerte sich an seine Reportage über Äthiopien vor 3 Jahren. Er war damals schockiert über das Elend der Menschen, über die Armut, über den Hunger, den sie erlitten. Er sah immer wieder diese ungeheure Diskrepanz: Dort verhungern Menschen, hier verschwenden welche mit unglaublicher Dreistigkeit Wasser und Lebensmittel. Und er wollte in seiner infantilen Naivität nicht begreifen, dass und wie das möglich war und warum.

      Er verfiel damals in eine kurze und heftige Depression angesichts der Aussicht, nicht genügend helfen zu können. Hinzu kam die Tatsache, dass seinerzeit von den laufenden Spendengeldern nur ein Teil ankam, der Rest verschwand in diffuse Kanäle, die "Bearbeitungsgebühren", "Bankspesen", "Provisionen" genannt wurden.

      Später setzte er sich mit seinem Freund, dem Veranstalter Hubert Franklin zusammen und schlug ein Benefiz für die hungernden und kranken und hoffnungslosen Menschen in Äthiopien vor. Franklin war einverstanden; und nach entsprechender Organisation wurde sie am 2. April in der Frankfurter Commerzbank Arena veranstaltet.

      Im Geiste sah Alex Riemek wieder dunkelhäutige, bis auf das Skelett abgemagerte Menschen. Aus den in tiefen Höhlen liegenden Augen warfen sie Blicke von unendlicher Leere in die Kamera. Mütter sahen auf ihre Kleinkinder, die in ihren Armen lagen. Eine vor Hunger geschwächte Frau torkelte mit einem toten Baby im Arm durch das Dorf.

      Dann kam ein anderes Bild: Er sah ein Büfett voller Fleischberge, Hummer, Kaviar, Lachs, erlesenes Obst, Champagner, Weine, Kanapees. Um das Büfett standen Männer und Frauen, in den Händen hielten sie Teller mit den Köstlichkeiten und Champagner-Kelche. Es war die Fernsehberichterstattung über die 100-Jahrfeier der "Frankfurter Weltfinanzbank" am 30. April.

      Diese komprimierten gegensätzlichen Bilder lösten in ihm wieder eine unbeschreibliche Wut aus; und diese Wut wurde immer größer und wuchs zu einem Buschfeuer. Sie war ein Gefühl, das in seinen Eingeweiden brannte und nach einer Reaktion schrie.

      Er wusste, dass Glanz nie das Ergebnis seiner Recherche veröffentlichen würde, wenn irgendein Zweifel bestand. Glanz