Dietmar Kottisch

JUSTITIAS BRUDER


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tauchten Erinnerungsbilder auf, als seine Schwester überglücklich vom Frauenarzt gekommen war und verkündete, dass sie ein Baby bekommen wird. Er sah das Bild, wie beide vor Glück im Wohnzimmer tanzten und eine Flasche Champagner köpften.

      Genauso wie sie damals tanzten, als die ganzen Kreditverhandlungen abgeschlossen waren und das Haus gekauft werden konnte.

      Er hatte sehr oft erlebt, wie Ebert Kunden abgewiesen hatte, die einen Aufschub, aus welchen Gründen auch immer, ihrer Tilgungen erbaten.

      Aber das hier hatte eine andere Qualität, eine tödliche Qualität für seine Schwester und seinen Schwager und für den Jungen ohne Namen, der erst noch getauft werden musste und dann Miguel heißen sollte, weil er im Urlaub in Spanien gezeugt wurde.

      Er wagte einen letzten Versuch. „Herr Doktor Ebert, welche Chance hat mein Schwager denn, an das Geld zu kommen? Welche Chance hat der kleine Junge, dem Tod von der Schippe zu springen? Es kann doch nicht sein, dass ein Leben von ein paar Euro abhängt, die man ruhigen Gewissens leihen kann….“

      Ebert sagte ohne Überlegung den Namen „Herrschinger“. „Versuchen Sie es bei Herrschinger.“

      Michels musste plötzlich würgen, weil er das Gefühl hatte, sein Magen wird zerquetscht. „Herrschinger ist ein Kredithai. Zwanzig und mehr Prozent Zinsen. Knochenbrecher, die denen die Daumen abhacken, die nicht mehr zahlen können. Gesindel, Abschaum, Herr Doktor Ebert…..“

      Ebert sah nach draußen, als der Regen gegen die Scheiben prasselte.

      Der Druck kam plötzlich von innen. Michels sprang vom Stuhl auf und lief Richtung Türe, aber er schaffte es nicht mehr. Er fiel auf die Knie und kotzte einen Schwall Essen und Galle auf einen wertvollen Orient Teppich.

      Ebert sprang auch auf und brüllte: „Hejjjjjjjjj“

      Die Sekretärin stolperte herein, erstarrte, als sie den Mann am Boden kniend sah.

      „Holen Sie einen Eimer und Lappen und ……“ schrie Ebert.

      Heinrich Michels rappelte sich auf, wischte sich den Mund mit dem Taschentuch ab, warf Ebert noch einen Blick zu und lief aus dem Büro.

      Sofort fiel ihm sein Freund Michael Glanz ein, der Reporter im „ Frankfurter Tagesjournal“ ist. Michael sollte einen Artikel schreiben über die Finanzgebaren der Bank, über die Rücksichtslosigkeit von Ebert und über die für diese Familie bevorstehende Katastrophe. Es bestand überhaupt keine Notwendigkeit, seinen Schwager zu überprüfen, um ihm den Kredit zu verwehren. Michels konnte aber seine bevorstehenden Ahnungen nicht verkaufen, und Michael Glanz wusste das.

      Er fuhr in ihre Wohnung. Er konnte sich vor Aufregung kaum auf den Straßenverkehr konzentrieren, baute beinahe einen Unfall, weil er bei Rot über die Ampel fuhr. Er traf seine Schwester an. Baldur war im Laden.

      Katarina sah es an seiner Miene und brach in Tränen aus.

      *

      Eine Stunde, nachdem Heinrich Michels in Eberts Büro seine Enttäuschung heraus gekotzt hatte, betrat Doktor Harald Blüsch, Aufsichtsratsvorsitzender derselben Bank, das Büro seines Freundes.

      „Hier stinkt es, Artur!“ sagte er. Ebert verzog das Gesicht. „ Michels hat sich übergeben, weil wir den zusätzlichen Kredit seines Schwagers Lohnmann in Neuberg abgelehnt haben.“

      Blüsch setzte sich in den Besuchersessel.

      „ Er heißt Lohmann und nicht Lohnmann. Apropos Neuberg. Ich habe mit den maßgebenden Leuten gesprochen. Die Aussichten stehen gut, dass in Neuberg das Einkaufszentrum in Kürze gebaut wird. Das bedeutet, dass die Grundstückspreise in die Höhe gehen. Wenn wir also das Häuschen von Lohmann gekauft haben, können wir es mit einem Gewinn von nahezu hundert Prozent über Umwege wieder verkaufen.

      „ Was schlägst du vor, Harald.“

      „Wir verkaufen das Darlehen von Lohmann an unsere GH-Group; die kündigen es auf, setzen Lohmann die Daumenschrauben an, weil er im Rückstand ist, Lohmann muss raus und wir warten ab, bis die Grundstückpreise in die Höhe schießen. Dann können wir das Häuschen zum weit höheren Preis verkaufen oder abreißen und weiter warten. So stehen wir nach außen hin mit weißer Weste da und niemand ahnt, wer hinter der GH-Group steckt.“

      Ebert musste schmunzeln, hinter der Abkürzung GH-Group verbarg sich das englische Wort „Grasshopper“ für Heuschrecken, das eigene Kapitalmanagement der Bank. Harald hatte manchmal sehr originelle Einfälle, aber gute. Aber nur manchmal.

      „ Lohnmann könnte die Medien anrufen…“ erwiderte Ebert.

      „Wenn schon. Wir haben die Forderung verkauft, wie es andere Banken auch tun, weil wir Risikoobjekte aus unserer Bilanz haben wollen. Was die GH-Group macht, ist eine andere Geschichte. Lohmann ist doch kein Risiko, oder?“ meinte Blüsch süffisant.

      „Doch. Er ist mit zwei Raten im Rückstand.“

      Nach einer Weile klopfte Ebert mit dem Fingerknöchel auf die Schreibtischplatte. „Könnte funktionieren. Lohnmann ist angeschlagen durch die Krankheit seines Sohnes, der in Lebensgefahr schwebt. Er hat kaum Abwehrkräfte; und wenn der Junge stirbt, ist er ganz unten, er ist psychisch am Ende und als Unternehmer nichts mehr wert.“

      „Da fällt mir ein, dass wir diesen Michels beobachten müssen. Wenn einer schon kotzt, nur weil wir ein Haus neu bewerten wollen, dann riecht das verdammt noch mal nach sozialistischer Einstellung.“

      *

      2. April 2006. Ein kleines Dorf in der Amhara Region, 400 km nördlich von Addis Abeba in Äthiopien. Eines der ärmsten Dörfer dieses Bezirkes. Neben den schlammigen Strassen stehen grasbedeckte Rundhütten, vor denen vereinzelt Frauen sitzen, die ihre nackten unterernährten Babys entweder auf dem Arm halten oder sie auf den Boden abgelegt hatten. Ihre Blicke sind leer, ohne Hoffnung, ohne Sinn, als warten sie nur auf den Tod.

      Frauen und Männer und ihre Babys leiden am Hunger, am Durst und an Tuberkulose oder Malaria.

      Es herrscht eine tropisch heiße Luft um die Mittagszeit.

      In der Mitte des Dorfes sitzen Männer und backen Fladen. Weil es kein Mehl und keine anderen nahrhaften Zutaten gibt, nehmen sie einfach Lehm, um dem Magen Völlegefühl zu verschaffen.

      Die "Deutsch-Äthiopische-Hilfsorganisation" hatte den Dorf Ältesten Amare davon unterrichtet, dass für diese Region eine Veranstaltung in Deutschland stattfindet, und sie Hilfe für die Beschaffung von Lebensmitteln, den Bau eines Kinderkrankenhauses und Medikamente erwarten können.

      Zur gleichen Zeit im zirka 5.300 Kilometer entfernten Frankfurt am Main tanzen in einer Benefizveranstaltung in der "Commerzbank-Arena" Artisten, spielen internationale Bands und begleiten weltbekannte Stars, werden Vorträge über den Hunger in der Welt gehalten, berichten Hilfsorganisationen über ihre Arbeit. Politiker halten Reden und versprechen unmittelbar Hilfe, falls sie an die Regierung kommen. Oder falls sie an der Regierung bleiben…

      Auf einer riesigen Leinwand sind Bilder von hungernden, bis zum Skelett abgemagerten Einwohnern in einem Dorf in Äthiopien zu sehen.

      Und Millionen von Zuschauern vor den Fernsehapparaten spenden Geld. Genau genommen 7,7 Millionen Euro. Der Moderator jubelte am Ende der Veranstaltung: „Vielen Dank meine Damen und Herren, sieben Komma sieben Millionen können wir diesen armen Menschen da unten überweisen. Vielen vielen Dank!“

      Die Bilder auf der riesigen Leinwand und auf den Fernsehschirmen geben den emotionalen Impuls für eine schnelle Überweisung.

      So erhielt die "Frankfurter Weltfinanzbank" auf ihr Konto sieben Komma sieben Millionen Euro.

      Ebenfalls zur gleichen Zeit und in der gleichen Stadt verfolgt der siebenundfünfzig Jahre alte Anwalt Oliver Pomerenke vor dem Fernsehapparat die Benefiz-Veranstaltung.

      Er ist einen Meter sechsundsiebzig groß, hat eine Glatze, und seine dunklen Augen strahlen Sympathie