Prodosh Aich

Preis des aufrechten Gangs


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war mein Bewußtsein als Sozialwissenschaftler, daß ich keine Analyse über meine wirkliche Situation anstellte?

      Ich nahm nicht wahr, was zwischenzeitlich geschehen war. Meine Medienpräsenz hielt an, die der anderen nicht. Ich schrieb nicht wenig in den Zeitschriften und auch für den Rundfunk. Die anderen Soziologen in Köln nicht. Scheuch hielt sich nicht an der Harvard Universität. Welche Trendmeldungen über die sogenannte Entwicklungssoziologie brachte der neue „Herr Kollege“ von König mit nach Köln? Welche Einstellung hegte Scheuch gegenüber uns, nachdem er nun zu Amt und Macht gekommen war?

      Statt nachzudenken hielt ich mich mit dem Erhebungsinstrument für die Untersuchung über die Rückanpassung beschäftigt, mit Vorbereitungen der Seminarveranstaltungen und später (seit Juli 1965) mit Vorbereitungen einer eventuellen Lehrtätigkeit an der Universität Rajasthan. Die offizielle Einladung der Universität Rajasthan vom 19. Februar 1966 erreicht das Institut am Ende des Monats. In der Einladung steht nicht einmal eine Andeutung von einer beginnenden Zusammenarbeit beider Universitäten. König weist mich an, an den Kanzler der Universität einen sofortigen Antrag auf Beurlaubung zu stellen. Dies geschieht am 10. März 1966. Auch König schreibt dem Kanzler am gleichen Tag:

      „ich möchte Sie hiermit bitten, Herrn Dr. Aich vom 1. 7. 1966 bis zum 30. 6. 1967 unter Fortzahlung seiner Bezüge zu beurlauben. Er wird während dieser Zeit ein Forschungsprojekt in Indien durchführen. Dieses Forschungsprojekt ist nicht nur von Bedeutung für unser Institut, es ist auch wichtig für die Habilitationsschrift von Herrn Dr. Aich. Außerdem wird Herr Dr. Aich während seines Aufenthaltes in Indien Gelegenheit haben, 9 Monate Gastvorlesungen zu halten. ... Ich möchte noch bemerken, daß ich im Interesse meines Instituts großen Wert auf die Realisierung dieses Projekts lege. Es ist auch von öffentlichem Interesse, daß ein von uns ausgebildeter Angehöriger der Dritten Welt die Gelegenheit erhält, an einer indischen Universität zu lehren. Diese seltene Chance sollte unbedingt genutzt werden. Es ist daher ganz gerechtfertigt, Herrn Dr. Aich für den genannten Zeitraum zu beurlauben und ihm seine Dienstbezüge weiterzuzahlen.“

      Zwischen dem 25. Januar 1966 und dem 10. März 1966 habe ich König nicht gesehen. Die Kopie seiner Befürwortung an den Kanzler stellt er mir zu. Beim Lesen fällt mir die naheliegende Frage nicht ein. Von welchem Forschungsvorhaben ist in dem Schreiben eigentlich die Rede und welcher Gegenstand soll „von Bedeutung für unser Institut, es ist auch wichtig für die Habilitationsschrift von Herrn Dr. Aich.“ sein? Mit welchen Mitteln sollte welches Forschungsvorhaben in Indien durchgeführt werden?

      Noch am 10. März 1966 stellt König einen Antrag auf Sachbeihilfe in Höhe von 57 263,- DM, nach dem ich in seinem Auftrag meinen ursprünglichen Antrag an das BMZ vom 16. November 1962 in Höhe von 94 256,- DM verschlankt hatte. Als Anlage schickt er auch eine Veröffentlichungsliste von mir zu diesem Themenkomplex. Unter anderem heißt es in diesem Antrag:

      „Die endgültige Antwort darauf, ob die Ausbildung im Ausland trotz der niedrigen Erfolgsquote nicht doch sinnvoller ist, kann nur durch eine Untersuchung gefunden werden, die nach der Rückkehr der Studenten ihre Rolle im sozialen Wandel durchleuchtet. Dies ist das Ziel der Untersuchung, die mein Institut nach Abschluß von zwei umfangreichen Untersuchungen im Gastland nun in Indien gewissermaßen als letztes Glied des Komplexes durchführen will. Mit der Erhebung der Daten in Indien werde ich meinen Assistenten, Dr. Prodosh Aich beauftragen, der schon die erwähnten zwei Untersuchungen meines Instituts geleitet hat. Er wird die Ergebnisse der Forschung in Indien in seiner Habilitationsschrift verwenden. ... Ich möchte Sie bitten, die Sachbeihilfe für das Forschungsvorhaben zu genehmigen, damit die geplante Untersuchung durchgeführt werden kann und einer meiner Schüler die Gelegenheit erhält, an einer indischen Universität Vorlesungen zu halten.“

      Nach Gesprächen mit dem anderen Geschäftsführer der Carl–Duisberg–Gesellschaft, Dr. H. Deimann – Winfried Böll ist in dieser Zeit kaum erreichbar – beantrage ich auch ein Ergänzungsprojekt über Praktikanten, die nach einer Ausbildung in Deutschland nach Indien zurückgekehrt sind, wiederum beim BMZ. Kostenpunkt: 19 564,- DM. Nach telefonischer Übereinstimmung erläutert Deimann noch schriftlich das besondere Interesse seiner Gesellschaft dem Ministerium gegenüber:

      „Unter Bezugnahme auf die Besprechungen und Ausarbeitungen zusammen mit Herrn Diether Breitenbach (früherer Mitarbeiter der Deutschen Stiftung für Entwicklungsländer) sind wir der Auffassung, daß das Forschungsvorhaben von Herrn Dr. Aich unter Umständen interessant sein könnte für die Problematik der Erfolgskontrolle im Bereich auch der Praktikanntenprogramme. Unabhängig von möglichen Einzelergebnissen scheint uns der Versuch von Herrn Dr. Aich, eine Definition des Begriffs ‚Erfolg‘ im Zusammenhang mit einer Berufsfortbildung im Ausland zu erarbeiten, sehr interessant zu sein. ... Sollte eine Förderung des Projektes in Aussicht genommen werden, so schlagen wir eine gemeinsame Planung zwischen Ihnen, Herrn Dr. Aich und uns vor. Gleichzeitig stellen wir anheim, Herrn Breitenbach hinzuzuziehen.“

      Die Mittel für mein Forschungsvorhaben waren nicht bewilligt vor unserer Abreise nach Indien, eben nach Jaipur in Rajasthan, wo ich die erste Nacht so friedlich hinter mich gebracht habe. Welche Qualität hatte meine Ausbildung in Köln, daß ich alle diese und noch andere Ungereimtheiten einfach nicht wahrgenommen habe? Wie konnte ich bereit gewesen sein, Dienstverpflichtungen in einer völlig obskuren Universität, in einer mir völlig fremden Gegend in Indien aufzunehmen? Ohne einen bewilligten Forschungsauftrag als Stütze? Ohne dienstliche Reisekosten? Daß ich nicht in der Lage gewesen bin, diese und ähnliche Fragen zu stellen, belegt meine Blindheit, aber stellt auch die Qualität einer Wissenschaftsdisziplin in Frage, die die gesellschaftliche Wirklichkeit wissenschaftlich beschreiben will.

      Vieles läßt sich entschuldigen. Vieles läßt sich plausibel erklären. Richtiger wird es dadurch nicht. Sicherlich läßt der Dauerstreß von lernen, arbeiten, Zukunft planen, über mehrere Jahre – immerhin bis Juni 1966 –, und das ganz ohne Urlaubspause, wenig Möglichkeiten, über die abgelaufenen Monate und Jahre gründlich nachzudenken und daraus für die Zukunft zu lernen. Man läßt sich möglicherweise auch lange wie Strandgut treiben, bis Spitzen von Felsen oder Stromschnellen sichtbar werden. Möglicherweise.

      Die Seereise beginnt in Rotterdam. Wir steigen nur mit leichtem Gepäck in den Zug in Köln. Alle Gepäckstücke, es sind 15 Koffer unterschiedlicher Größe, sind schon mit einer Spedition zur Reederei vorausgeschickt. Bis Rotterdam ist es ja eine kurze Reise. Dort angekommen nehmen wir ein Taxi zum Reedereiagenten. Wir dürfen sofort auf das Schiff, obwohl es erst am nächsten Tag auslaufen soll. Ohne einen Arzt auf dem Schiff dürfen die Frachtschiffe höchstens 12 Passagiere transportieren. Wir sind insgesamt 7 Personen. Die Kabinen sind wie die der ersten Klasse in den Passagierschiffen. 24 Stunden Service. Kein Kleiderzwang im Gegensatz zu den Passagierschiffen. Eigentlich ideale Voraussetzungen für ruhiges Nachdenken und für Erholung.

      Voraussichtliche Reisezeit: ca. 4 Wochen. Die Reiseroute sieht das Anlaufen von Beirut und Aden vor. Später wird noch Jidda hinzukommen. Und dazwischen natürlich der obligatorische Aufenthalt vor Port Said am Suez Kanal. Bei einer so langen Seefahrt durchlebt man alle Rauhheiten der Meere. Bis Windstärke 11. Bewegliche Gegenstände in den Kabinen werden festgebunden. Die Tischplatten im Eßsaal werden entfernt, damit der darunterliegende wattierte Teil des Tisches durchnäßt werden kann. Sonst fliegen die Kaffeetasse oder der Suppenteller beim Wellengang über den Tisch. Zum Glück werden wir nicht seekrank.

      In Beirut ist der Ladevorgang so kurz, daß der Frachter außerhalb des Hafens ankert, um die Hafengebühren zu sparen. Also können wir nicht an Land. Aber fliegende Händler kommen, einige dürfen sogar auf das Schiff. Nicht die Händler lenken uns ab, sondern der Blick auf die wunderschöne Silhouette des noch unzerstörten Beiruts, der Perle des Orients, durch die farbenprächtigen Daus, die in unterschiedlicher Entfernung ankerten oder die an unserem industriell gebauten Frachtschiff vorbei segeln.

      Ablenkung haben wir erst in Port Said. Nicht durch die fliegenden Händler, obwohl diese um das Schiff herum reichlich touristische Andenken lautstark feil bieten. Nein. Die Ablenkung beginnt mit unserem Wunsch, an Land gehen zu wollen. Die zufällige Tischordnung hat uns den Kapitän und den ersten Offizier beschert. Beim Frühstück erwähnen wir, daß wir gern an Land gehen wollen. Wir werden ernstlich gewarnt. Port Said soll einer