Prodosh Aich

Preis des aufrechten Gangs


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erfahren wir von der Hotelleitung, daß die meisten Dauergäste aus der UdSSR sind. Es sind Experten, delegiert für bestimmte Projekte. Jeder einzelne ist auch deshalb wortkarg, weil er nicht weiß, in welcher Funktion seine Landsleute in Indien sind. Es soll unter ihnen auch Spitzel geben. So reduzieren diese Experten ihre sozialen Kontakte auf den Arbeitsplatz. Es soll auch nicht so sein, daß sie Probleme mit der Sprache hätten. Die meisten würden fließend „Hindi“, die offizielle Landessprache Indiens, sprechen.

      Wir kennen Delhi nicht. Statt einer „sight seeing“–Tour besichtigen wir einige historische Sehenswürdigkeiten mit Ravi Kapoor. Delhi ist eine Gründung der islamischen Mogul–Herrscher, die sich seit dem 16. Jahrhundert im Norden Indiens fest etabliert hatten. Als die East India Company, die die koloniale Ausbeutung von der Hafenstadt Kalkutta aus verwaltete, den kolonialen Besitz offiziell der englischen Krone übergab, bauten die neuen Herrscher eine neue Verwaltungsstadt im Süden der Mogulstadt Delhi, Neu–Delhi. Die Auslegung der Flächen, die breiten Straßen, die riesigen Gebäudekomplexe für die Verwaltung, die im unabhängigen Indien als Ministerien dienen, die Paläste und Wohnquartiere der hohen Kolonialbeamten, die heute als Residenzen der „neuen indischen Herren“ dienen, sollten die Überlegenheit der neuen kolonialen Herrscher augenfällig demonstrieren. Neu–Delhi hat aber so gut wie keine Sehenswürdigkeiten. So gut wie keine. Aber die Dinge, die sehenswert sind, stammen allesamt aus der Zeit vor der britischen Kolonialherrschaft. Neu Delhi ist eine sterile Stadt mit allen „modernen Anschlüssen“, unwirtlich, aber attraktiv für die neureichen Inder. Nicht so Alt–Delhi. Alt–Delhi ist eine historisch gewachsene Stadt von etwa 600 Jahren, geprägt von der islamischen Kultur und Architektur. Die Bewohner von Neu–Delhi kennen Alt–Delhi kaum, abgesehen von ein paar touristischen Attraktionen und einigen Märkten.

      Am späten Vormittag telefonieren wir mit der Deutschen Botschaft. Wir vereinbaren einen Termin für den späten Mittag. Nicht in der Botschaft, sondern in dem nobelsten Hotel in Neu–Delhi, „Hotel Ashoka“. Gastgeber ist der Kulturattaché, Dr. Klaus J. Citron. Die Leiter der Außenstelle des DAAD und des „Max–Müller–Bhawans“, so heißen die Goetheinstitute in Indien, sollen uns auch kennenlernen. Und natürlich Alfred Würfel, ein Faktotum in der Deutschen Botschaft, der schon immer in der Botschaft ist, und fast ein Inder geworden ist. Wir werden als gern willkommene, gute und werte Gäste behandelt und bewirtet. Die Rechnung ist weit höher als mein monatliches Einkommen in Jaipur. Trotz alledem fühlen wir uns wohl. Wir sollen wiederkommen, immer wenn wir in Delhi sind.

      Die Sendung war in Ordnung. Für uns war sie eine willkommene Aufbesserung unserer mageren Kasse. Wir lernten Hans–Walter Berg kennen, den ARD–Korrespondenten, der einen Beinamen hatte: Maharaja von Whiskypur ob seines täglichen Whiskykonsums. Die Redaktion will mich bald wieder haben. Im Zug, auch wenn er nach Jaipur rast, sind wir immer noch in Delhi. Als wir am 16. Oktober 1966, frühmorgens, unausgeschlafen und erschöpft aus dem Zug steigen, ist für uns die Welt noch in Ordnung. Und immer noch kein Kulturschock. Ich nehme mir vor, Fritz Sack bezüglich seiner Assoziation mit Frau Meisterman–Seeger anzufragen, ob unsere Magenverstimmungen, zweifelsohne verursacht durch die in Jaipur wohlbekannten „Soldaten Akbar's“, doch auch von der Sublimierung unserer Frustrationen herrühren könnten.

       Die „Indische Universität“ nimmt Gestalt an

      Jaipur holt uns ein. Yogendra Singh wartet mit seinem Assistenten auf uns. Die Auswertung des Projekts „Gewaltlosigkeit“ geht nicht weiter. Unnithan hat sich nicht blicken lassen. Bis zum 22. Oktober 1966. Er hat nichts für die Organisation unserer Untersuchungen unternommen. Begründung: Die erzielten Übereinstimmungen von 29. September sind für ihn nicht mehr akzeptabel. Am 24. Oktober schlägt er neue Gespräche vor. In der gleichen Besetzung. Er kündigt auch eine Vorlage an. Wir ahnen nichts Gutes. Unser Beitrag zum Projekt „Gewaltlosigkeit“ ist bereits geleistet. Und nun widerruft Unnithan die Vereinbarungen von 29. September.

      Unnithan hat uns nicht direkt aufgefordert, für ihn zu schreiben. Er ist listiger. Die taktische Niederlage müssen wir verdauen. Am 23. Oktober nehme ich mir Zeit für Briefe nach Köln. An Daheims schreiben wir einen längeren Brief. Darin auch: „Sie meinen, daß ich mich nach den Erfahrungen in Deutschland nicht darüber wundern sollte, daß die ausgebildeten Inder das größte Hindernis für die Modernisierung des Landes darstellen. Aber ich wundere mich doch. Sie machen sich keine Vorstellung, in welchem Umfang der sogenannte moderne Sektor tatsächlich traditionell ist. Vielleicht ist es nicht ganz richtig, diese Gruppe traditionell zu nennen, denn sie hat durch ihr Wissen viel größeres Geschick entwickelt, mit Wissen traditionell zu sein. Und da sie die ganze Verantwortung für die Modernisierung trägt, ist der Prozeß mehr als langsam. Das Studentenproblem interessiert mich auch. Ich habe bereits einen Fragebogen Aspiration, Einstellung und Wertorientierung entwickelt. Ich hoffe, nach meiner Rückkehr werde ich wenigstens einen Teil Ihrer Fragen beantworten können. Im Augenblick habe ich mit einem ganz anderen Problem zu tun, nämlich damit, wie ich es umgehen kann, ohne größere Komplikationen, daß meine Arbeit nicht unter dem Namen von Prof. Unnithan erscheint. Das ist in Indien die übliche Praxis. Wir haben verschiedentlich darüber diskutiert, wie wissenschaftliche Assistenten von manchen Professoren ausgenutzt werden. Die Situation ist hier um ein Vielfaches schlimmer.

      Es ist wirklich sehr lustig, Ihren Bericht über den Kongreß zu lesen. Nun, alle diese Kongresse sind mehr oder weniger dasselbe. Interessant ist nur, daß Prof. Unnithan sehr begeistert berichtete, es war auch sein erster großer Kongreß.“

      An Fritz Sack schreibe ich auch mehr privates, aber an König schon mit der Skepsis, daß eine Forschungszusammenarbeit wohl nicht zustande kommen wird. Ich berichte ihm, daß die Operationalsierung von Talcott Parsons‘ „pattern variables“ die kritischen Proben bestanden hat, daß die beiden Erhebungen zum Thema Aspiration, Einstellung und Wertorientierung der postgraduierten Studierenden an der Universität Rajasthan und der College– und Universitätslehrer in Jaipur auch ohne Unterstützung Unnithans durchgeführt werden können, wenn eine der deutschen Vertretungen in Neu–Delhi die Herstellung der Fragebögen übernimmt und wenn das Institut für die übrigen Sachkosten 2000,- DM bereitstellt.

      In der Verhandlungsrunde vom 24. Oktober legt Unnithan ein Papier (eine Seite) als Grundlage für die neue Diskussion vor. Enthalten darin sind vier Punkte. Der 1. Punkt beschreibt (die halbe Seite) seine Philosophie über eine Zusammenarbeit (ich will sie nicht kommentieren), der 2. Punkt behandelt die Perspektiven der Finanzierung, der 3. Punkt seine alte Position über die Autorenschaft der beiden Institutsdirektoren und im 4. Punkt legt er die Zusammenarbeit auf die bekannten vier Personen fest.

      Ich beharre inhaltlich auf der Übereinkunft vom 29. September, signalisiere aber meine Bereitschaft, meine geplanten Untersuchungen in die „Vereinbarung“ einzubringen. Als ich später das Protokoll von Unnithan lese, frage ich mich, ob ich in derselben Sitzung gewesen bin. Meine geplanten Untersuchungen sind als gemeinsam entwickelte Projekte vereinnahmt, die beiden Direktoren sind von jeglicher Arbeit befreit, Singh auch, weil er bis November 1967 in Kanada verweilen wird. Unnithan setzt noch eins drauf. Er will festschreiben, daß ich das bis zu den Tabellen aufbereitete Material als Kopie Singh und Unnithan zur Verfügung stelle. Damit sind die Gespräche gescheitert. Aber sie haben auch unseren Blick auf die „Indische Universität“ geschärft.

      Am 26.10. beziehen wir den Bungalow von Dr. Chellia, C – 2. Wir packen alles aus. Wir kochen nun selbst. Schon sind die „Soldaten Akbars“ machtlos. Unser Arbeitsvermögen steigt, obwohl wir auf Bedienstete für den Haushalt verzichtet haben. Chellia hat uns nur seine Eßtischstühle verkauft. Sonst ist das Haus leer. Wir kaufen mit wenig Geld zwei einfachste Betten, zwei Tische, ein paar Hocker und einige Bretter als Bücherablage, gestellt auf Ziegelsteine. Kochutensilien und Haushaltsgeräte haben wir mitgebracht. Es ist erstaunlich, mit wie wenig man auskommen kann.

      Unnithan ist immer für eine Überraschung gut. Mit Begleitschreiben übersendet er am 31. Oktober die Entwürfe des Manuskripts „Gewaltlosigkeit“ und bittet meine Frau um das Redigieren. Auf den Hinweis meiner Frau, daß sie nur für die Gestaltung der Tabellen zuständig gewesen ist, bittet Unnithan sie noch am 5. November, zumindest die Deutung der Tabellen zu überprüfen und mich zu bitten, das Manuskript zu redigieren. Ich soll