kann, begünstigt dadurch, daß das Department mit Büchern dünn bestückt ist. Wie stellen die Lehrenden fest, ob das Vorgetragene auch verstanden wird? Es gibt Klausuren. Natürlich bleibt nicht aus, daß für die Klausuren auswendig gelernt wird.
Der Bestand der Bücher zeigt, daß Soziologie in Jaipur nur amerikanische Soziologie bedeutet, mit einem größeren „time lag“, also mit einer größeren zeitlichen Verzögerung als in Deutschland. Die ausländischen Bücher sind teuer, wesentlich teurer als der Wechselkurs an sich bedingt. Die Mittel sind knapp. Empirische Untersuchungen sind gerade „in“. Abweichendes Verhalten ist 1966 groß in Mode. Die Konzepte, die Begriffe, die Fragen werden aus den amerikanischen Arbeiten übernommen. Natürlich kommen auch Ergebnisse heraus. Ergebnisse kommen immer heraus. Aber wie relevant sind Ergebnisse, die über kopierte Erhebungsinstrumente der US–Untersuchungen erzielt werden?
Dann das Problem der Auswertung. In Jaipur wird Statistik für den Magisterstudiengang aus Textbüchern der 40er Jahre gelehrt. Und, wo sollen die Lehrenden dieser Universität für die Lehre lernen, wenn sie selbst keine Möglichkeit für eigene Forschungen oder reichlichen Zugang zu Forschungsberichten anderer Länder haben? Ich sehe immer wieder das Gefälle. Zweifelsohne wird die neuere Soziologie anglosächsisch dominiert. Die an Empirie orientierte deutsche Soziologie zeigt schon einen „time lag“ von 10 bis15 Jahren auf. Sicherlich bedingt auch durch die Sprachbarriere. Die Sprache ist in Indien kein Problem. Aber die Resourcen fehlen. „Man power“ ebenso wie das konvertierbare Geld.
Ich bin gezwungen, immer genauer in die Verhältnisse dieser Universität und dieser Stadt hinein zu schauen, und mich ständig zu bemühen, das Beobachtete zu begreifen. Natürlich laufen die Prozesse der Wahrnehmung, der Beobachtung und Bewertung durch die Brille meiner Ausbildung. Und diese Brille läßt nur einen Blickwinkel zu: den der modernen Soziologie. Wo ist jener Korridor zur Modernität für das traditionelle Indien? Welche gesellschaftlichen Einrichtungen sind tatsächlich auf der Suche nach dem Korridor? Wer sind die Hauptakteure und Träger, wer könnten Hauptakteure und Träger für den Modernisierungsprozeß denn sein? Welche Einrichtungen stehen der Modernisierung im Weg? Welche kulturellen Werte? Religion? Kastenwesen? Fehlende Mobilität, materiell wie psychisch? Bürokratie? Vetternwirtschaft? Korruption? Die Geographie? Eine Kombination von mehreren Faktoren? Welche Kombination?
Jeder Tag bringt neue Perspektiven, neue Pläne. Forschungspläne am laufenden Band. Ich gehe immer noch davon aus, daß die Mittel für die beantragte Untersuchung bewilligt werden, daß wir viel werden herumreisen müssen und neben dem Material zur Rückanpassung auch Materialien zur Beantwortung vieler, vieler anderer Fragen werden sammeln können. Ohne nennenswerte zusätzliche Kosten. Nur arbeiten und selbst ausbeuten wie bisher! Und wir, meine Frau und ich, sind ein Team, das erheblich mehr leisten kann als die bloße Addition zweier Kräfte. In dieser Phase verdrängen wir die Widrigkeiten des Lebens in dem Gästehaus und sehen nur den Vorzug, in– und ausländische Gelehrte aus der nächsten Nähe zu beobachten und mit ihnen ausführlich vielfältige Probleme diskutieren zu können.
Eigentlich sind es keine Diskussionen. Es sind unsere Fragen und so etwas wie heraussprudelnde Eindrücke der ausländischen Gäste, die keine Wissenschaftstouristen sind. Wir gewinnen auch durch Fachdiskussionen mit den indischen Kollegen, durch die teilnehmenden Beobachtungen über den Unterschied von programmatischen Zielen und der tatsächlichen Praxis immer neue Eindrücke und Einblicke. Auf der Ebene der Beschreibung gibt es in diesem Gedankenaustausch keine Unterschiede. Auf der Ebene der Analyse bzw. der Erklärungsversuche beginnen die Unstimmigkeiten. Die indischen Gelehrten bieten Erklärungsversuche an, die sehr konkret, aber nicht ohne weiteres nach– und überprüfbar sind. Ich kann nicht leugnen, daß auch ich manche konkreten Hinweise der indischen Gelehrten als Ausweichmanöver ansehe, um Dinge nicht beim Namen nennen zu müssen. Uns überrascht es nicht, daß wir auf allen Ebenen, also auf den Ebenen der Beschreibung, Analyse und Veränderungsstrategien, mit den angelsächsischen Gelehrten übereinstimmen.
Beispiel: der Problembereich „Studentenunruhen“. In der Begegnung mit den einzelnen Studierenden ist überhaupt kein Gewaltpotential feststellbar. In der Masse jedoch sind jedem Einzelnen dieser Studierenden alle Arten von Gewalt zuzutrauen. Aus unwesentlichen Anlässen entsteht kollektiver Unmut, der im Laufe weniger Stunden in Demonstrationen, Besetzungen der Universitätseinrichtungen und zum Durchprügeln der Universitätsautoritäten eskalieren kann. Es finden aber keine Diskussionen zwischen den Lehrenden und Studierenden statt. Übrigens auch nicht über Lehrinhalte oder über die Organisation der Lehrveranstaltungen. Die Folge ist zunächst ein Abwarten und Beobachten, wie weit der Unmut eskaliert. Bleibt es auf der Ebene von Demonstrationen und Parolen, gibt es keine Aktivitäten bei den Universitätsautoritäten. Werden Anzeichen von Besetzung und Prügelei registriert, werden die Universitätsoberen aktiv. Zunächst beraten sie miteinander. Soll die Polizei gerufen werden? Die Polizei darf sonst den Campus nicht betreten. Wenn die Polizei gerufen wird, versuchen die Universitätsoberen sich selbst schnellstmöglich zu verbarrikadieren. Die Polizei löst dann die Demonstration auf. In der Regel gewaltsam.
Bis es zum nächsten Mal kommt. Lehrveranstaltungen fallen häufig aus. Die Lehrenden diskutieren nicht einmal untereinander, was die Ursachen der Studentenunruhen sein könnten, sie tauschen nur Informationen aus, was alles geschehen ist und wer was abgekriegt hat. Und dieser Meinungsaustausch findet mit großem Lustgewinn statt. Die Ursache ist eh bekannt. Die politischen Parteien seien schuld. Sie bringen die Unruhe in den Campus hinein. Es sei eh ein nationales Phänomen. Außerdem solle sich die Jugend auch mal abreagieren dürfen.
Den indischen Gelehrten im Gästehaus widerspreche ich. Ich berichte über mein erstes Erlebnis in Jaipur. Ich bin im Verwaltungsgebäude, als die erste Unruhe losgeht. Bevor ich die plötzliche Hektik der Verwaltungsbediensteten deuten kann, sind die wütenden Studierenden schon im Sitzungsraum. Die anderen Räume waren von innen verbarrikadiert. Fast gleichzeitig kommen die Polizisten mit Stöcken. Ich stehe erstarrt und befürchte das Schlimmste. Als die Prügelei dann mit Polizeigewalt beendet wird, kommen die anderen heraus. Auch ich bin erstaunt, daß ich von keiner Seite etwas abgekriegt habe. Beide Seiten haben mich verschont. Wieso? Welch überflüssige Frage! Ich hätte nur Glück gehabt und sollte das Schicksal nicht herausfordern. Das ist auch das Ende der Erörterung.
Beispiel: Problembereich Kommunikation. Es finden keine Gespräche zwischen Lehrenden und Studierenden statt, von einer Diskussion über den Inhalt oder über die Art und Weise der Vorlesung ganz zu schweigen. Es gibt auch keinen Raum für eine Zweiwege–Kommunikation. Feiern oder Ausflüge wären die einzigen Möglichkeiten. Von keiner Seite kommt ein Anlauf. Also bleibt alles, wie es ist. Meist sind sie unter sich. Und unter sich sind sie durchaus kommunikativ.
Beispiel: der Problembereich Niveau der Ausbildung. Der Mangel an materiellen und personellen Ressourcen beeinträchtigt insbesondere die natur– und ingenieurwissenschaftlichen Fächer. Hierüber und über den internationalen Vergleich gibt es Übereinstimmung. Aber über daraus folgende Fragen gibt es weder eine Übereinstimmung, noch eine Diskussion. Wird beispielsweise ein optimaler Gebrauch von den konkret vorhandenen Ressourcen gemacht? Ließe sich beispielsweise das unübersehbare Gefälle zwischen dem Wissen der Lehrenden und der Hochschulabsolventen durch eine andere Organisation überwinden? Hängt dieses Gefälle tatsächlich nur mit den Ressourcen zusammen?
Überraschend sind auch die unterschiedlich in Betracht gezogenen individuellen Handlungsalternativen. Keiner der ausländischen Gelehrten im Gästehaus hat vor, mit seinem indischen „Counterpart“ über konkrete Handlungsalternativen zu diskutieren. Das, was sie in Indien lernten, sei eine persönliche Angelegenheit. Diese Wahrnehmungen und Einschätzungen hätten mit ihrem konkreten Auftrag nichts zu tun. Der indische „Counterpart“ würde auch ein Gespräch über solche konkreten Verhältnisse innerhalb der Universität als persönlichen Affront ansehen. Woher man das so genau wisse? Na, das kann man sich an fünf Fingern abzählen! Damit ist die Diskussion auch am Ende. Es ist deshalb so überraschend, weil diese Besucher als „Modernisierungsexperten“ geschickt worden sind.
Werden sie ihre Wahrnehmungen, die wir im Gästehaus der Universität Rajasthan in der abendlichen Kühle fernab von der Hektik des Berufes mit so viel Engagement bereden, in den offiziellen Bericht aufnehmen? Nachdenkliche Pause. Sind denn solche persönlichen Wahrnehmungen wissenschaftlich