glauben, daß dieses Schreiben ein Schlußstrich unter eine lehrreiche Episode sein würde.
Wir konzentrieren uns auf unsere Arbeit. Ich verweile im Department nur, um meine Veranstaltungen abzuhalten. Am 19. November schicke ich König einen ausführlichen Bericht über den Stand der Dinge:
„Sehr geehrter Herr Professor, ich hoffe, alle meine Briefe aus Indien haben Sie erreicht. Ich weiß nicht, warum ich bisher von Ihnen nichts gehört habe. Es kann auch sein, daß Ihr Schreiben hier nicht angekommen ist. Es ist wirklich zu empfehlen, Briefe nach Indien per Einschreiben zu schicken.
Mittlerweile müßte eigentlich die Deutsche Forschungsgemeinschaft eine Entscheidung getroffen haben. Auch das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hatte versprochen, bis Oktober eine Entscheidung zu treffen, damit im Januar mit der Vorbereitung der Arbeit begonnen werden kann. Ich habe weder von der Forschungsgemeinschaft, dem Ministerium noch dem Institut diesbezüglich etwas gehört. Ich beginne, mich hier etwas verlassen zu fühlen, vor allem, weil ich langsam einsehe, daß ich ohne eine Unterstützung von irgendeiner Seite große Schwierigkeiten haben werde, das Geld für unsere Rückfahrt aufzubringen. Das ist in aller Kürze meine Situation. Ich erzähle Ihnen das, weil Sie mir vor meiner Abreise sagten, ich sollte Ihnen über alle Schwierigkeiten berichten, in die ich hier gerate.
Nun zu meiner Arbeit hier. Meine Vorstellungen über die Forschungsprojekte nehmen langsam konkrete Formen an. Wenn man keine 15 Stunden Vorlesung halten müßte, also tatsächlich ein Jahr Zeit hätte, könnte man mindestens 10 interessante und für die Praxis wichtige Forschungsprojekte durchführen. Ich habe mir vorgenommen, drei Forschungsprojekte auf jeden Fall durchzuführen, da ich wenig Hoffnung habe, daß die in Deutschland gestellten Anträge durchkommen. Prof. Unnithan hat endgültig erklärt, daß er keinerlei Unterstützung geben könne, da er mit seinen eigenen Arbeiten voll ausgelastet sei.
Die erste Untersuchung, für die ich den Pretest schon gemacht habe, befaßt sich mit den Aspirationen (akademischen, beruflichen, ehelichen, ökonomischen), Einstellungen (zu Kasten, Klassen, Berufen, Streiks, Auslandsstudium, Rückkehrern) und Wertvorstellungen (einschließlich pattern variables von Talcott Parsons und Empathie von Daniel Lerner) der Studenten aller Fakultäten im letzten Jahr ihrer Ausbildung.
Die zweite Untersuchung, für die ich den Pretest gerade mache, befaßt sich mit den Aspirationen, Einstellungen und Wertvorstellungen der Universitäts– und Collegelehrer aller Fakultäten. Sie werden ebenfalls an zwei Universitäten durchgeführt: University of Rajasthan und Benares Hindu University. In diesen beiden Untersuchungen werden viele Instrumente gleichbleiben, so daß sie auch miteinander vergleichbar werden.
Die dritte Untersuchung soll sich mit dem Problem der Modernisierung befassen. Ich habe den Eindruck, daß die Entwicklung in Indien nicht zuletzt deshalb stagniert, weil die Träger der Modernisierung trotz einer wissenschaftlichen Ausbildung einstellungsmäßig sehr traditionell sind, d.h. ihr Wissen in der täglichen Arbeit nicht anwenden. Dies hat zur Folge, daß in der Erziehung der jüngeren Generation genau die gleiche Einstellung weiter vermittelt wird. Mithin bleibt auch die Orientierung der jüngeren Generation so, daß die Modernisierung nicht weiterkommt. Ich habe bisher nicht feststellen können, abgesehen von der Arbeit von Lerner, daß Untersuchungen über Modernisierung auf der Ebene der Attitüde, bzw. auf der Ebene der Persönlichkeit, vorgenommen wurde. Die bisherigen Arbeiten über Modernisierung orientieren sich an wirtschaftlichen Zielen, und alle Attitüden, die für die Erreichung dieser Ziele günstig sind, werden als modern bezeichnet.
Auf diese Weise hat der Begriff der Modernität einen wirtschaftlichen Bias. Nur auf Grund dieses Bias wird der industrielle Sektor in Indien modern genannt, weil in absoluten Größen der Beitrag dieses Sektors zum wirtschaftlichen Wachstum größer ist als der Beitrag aus den anderen Sektoren. Und der Teil der Bevölkerung, der in diesem Sektor tätig ist, moderner als die anderen Teile der Bevölkerung definiert wird. Zwangsläufig kommt man dann zu Untersuchungen über den Modernisierungsprozeß, wie Lerner es gemacht hat, die Modernität einer Gesellschaft an Empathie, Ausbildung und Partizipation an Massenmedien der Bevölkerung zu messen. Diese Variablen zeigen zweifellos eine hohe Korrelation mit den Trägern des wirtschaftlichen Wachstums. Diese Definition hat aber auch zur Folge, daß alle Menschen in Europa oder in den USA modern sind, was natürlich nicht der Fall ist.
Ich versuche, den Begriff der Modernität von dem Ziel zu trennen, aber mit gesichertem Wissen in Beziehung zu setzen. Nach meiner Definition würde ein Individuum, das z.B. über l00 Einheiten Wissen verfügt und nur 50 Einheiten zur Anwendung bringt (= 50 %) weniger modern sein als ein Individuum, das über 20 Einheiten Wissen verfügt und 15 zur Anwendung bringt (= 75 %). Ich meine, die Ansammlung von Wissen allein reicht nicht. Das angesammelte Wissen kann unter Umständen nicht zur Änderung der Einstellung führen, wenn die Motivation fehlt. Es gibt sicherlich drei klar zu unterscheidende Phasen: die erste ist die Phase der Aneignung von Wissen, die 2. ist die Änderung der Einstellung entsprechend dem gesammelten Wissen und die 3. die tatsächliche Anwendung des Wissens, um das erklärte Ziel zu erreichen. Dieses Ziel kann unterschiedlich sein, aber wenn ein Individuum das Ziel auf eine rationale Weise auf dem kürzesten Weg unter Anwendung seiner wissenschaftlichen Kenntnisse zu erreichen versucht, so muß dieses Handeln als modern bezeichnet werden, moderner als jemand, der mit dem gleichen Wissen ein gleiches Ziel auf Umwegen zu erreichen versucht, da in diesem Fall nicht die effiziente Anwendung des Wissens zum Tragen kommt. Ich bin dabei, dies zu operationalisieren, was mir nicht einfach erscheint, aber auch nicht unerreichbar. Ich würde gern Ihre Meinung zu diesem Problem hören, bevor ich den Fragebogen hierzu endgültig abfasse.
Dann habe ich noch zwei weitere Probleme. 1. Da Unnithan mich nicht unterstützt, bin ich darauf angewiesen, mich als Angehöriger des Forschungsinstituts für Soziologie an der Universität Köln an die ‚Vice Chancellors‘ und ‚Heads of the Department‘ zu wenden, um ihre Erlaubnis für die Durchführung der Befragung zu erhalten. Ich habe früher nicht gewußt, wie hilfreich da Visitenkarten sein können. Um den einzelnen Personen schreiben zu können, brauchte ich etwa 100 Institutsbriefbögen mit Umschlägen. Ein Brief ohne entsprechenden Briefkopf wandert bei diesen Leuten sofort in den Papierkorb. Könnten Sie bitte veranlassen, daß mir die Bögen mit Umschlägen baldmöglichst zugesandt werden?
Mein 2. Problem ist finanzieller Art. Da ich Sampling und Interviews vermeiden möchte, habe ich für die erste Untersuchung die Klassenzimmerbefragung gewählt und für die zweite Untersuchung habe ich die Befragung aller Lehrer an den beiden Universitäten geplant. Die Fragebögen habe ich entsprechend entwickelt und gestaltet. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, daß ich bei den Studenten fast 100 % erreiche, abgesehen von denen, die an diesem Tag nicht anwesend sind, und bei den Lehrern kann ich mir einen relativ großen Ausfall leisten. Die Ausfallenden werde ich aufsuchen und feststellen, ob dem Ausfall irgendein System zugrunde liegt.
Der Nachteil ist der, daß ich eine ziemlich große Zahl von Fragebögen drucken lassen muß. Im ersten Fall um 2000 und im zweiten Fall zwischen 1200 und 1500. Für die dritte Untersuchung werde ich mich wohl oder übel auf Jaipur beschränken müssen. Aber ich werde mich bemühen, nicht die Interviewmethode anzuwenden, und ein Sample nach ‚Who is Who‘ ziehen und verschlüsselt numerierte Fragebögen verschicken. Falls sie nicht termingemäß zurückkommen, werde ich die einzelnen Personen aufsuchen. Es müssen also eine ganze Reihe von Fragebögen gedruckt werden. Und da meine finanzielle Lage schlecht ist, möchte ich Sie bitten zu eruieren, ob irgendeine Möglichkeit besteht, die Sachkosten kurzfristig zu decken. Ich bin sicher, wenn ich mit dem Material zurückkomme und wir zeitig einen Antrag an die Forschungsgemeinschaft stellen, daß wir dann ohne weiteres die Mittel bekommen können.
Es tut mir außerordentlich leid, daß ich Ihnen einen so langen Brief schreiben mußte. Was machen Ihre Pläne, nach Kabul zu kommen? Bitte, lassen Sie es mich zeitig wissen, damit ich Ihre Unterkunft im ‚University Guest House‘ sicherstellen kann.
Mit der Hoffnung, bald von Ihnen zu hören, verbleibe ich mit den besten Empfehlungen, auch von meiner Frau, Ihr ...“
Am gleichen Tag habe ich auch an Fritz Sack geschrieben und mich beklagt, daß ich zu wenig aus Köln höre, und von König noch gar nichts gehört habe. Das Schreiben von Dieter Fröhlich im Institut vom 24. Oktober ist schon unterwegs, bevor unsere