Said Gül

Machtkampf am Bosporus


Скачать книгу

sich ihre Gäste verabschiedet hatten, holte Afife die Bettbezüge aus einer Luke an der Wand hervor und richtete sie auf dem Boden her. Said legte sich gleich hin. Der Tag war schön, aber auch sehr anstrengend gewesen. Bevor er einschlief, dachte er noch einmal über die Worte seines Großvaters nach.

      Einerseits waren die Janitscharen die Hüter des Rechts. Andererseits aber missbrauchten sie ihre Macht, um die Sultane zu erpressen, ja sogar zu töten. Offenbar waren sie nicht zu zügeln. Und plötzlich reifte in ihm ein Entschluss. Er würde selbst ein Janitschar werden. Aber nicht einer wie die Störenfriede von heute oder die Schläger von damals in der Schänke. Nein, er wollte es anders machen. Sein Vorbild war und blieb eine Person: sein Großvater.

      Kapitel 2

      Argos Orestiko, Südalbanien

      In Begleitung des Provinzgouverneurs, eines Schreibers und einiger Soldaten bereiste der Yayabaschi die Dörfer am Südufer des Kastoria-Sees und am Oberlauf des Flusses Aliakmonas. Der höhere Offizier der Osmanen suchte nach geeigneten Knaben für die Sultanstruppen, die dann nach Istanbul entsandt werden und dort eine gründliche Ausbildung von Körper und Geist erhalten sollten. Bei diesem Unterfangen hatte er die strengen Vorschriften der Knabenlese zu befolgen und durfte nur christliche Kinder rekrutieren. Einzelkinder, Muslime, Türken, Vollwaise und Kinder ohne rechtmäßigen Leumund waren tabu.

      Am heutigen Tag gehörte auch der orthodoxe Priester des Bezirks Orestiko zum Gefolge des Yayabaschi. Unter seinem rechten Arm klemmte das Taufregister, mit dem er bei Bedarf schnell nachweisen konnte, dass die ausgewählten Kinder auch tatsächlich Christen waren. Denn nicht selten kam es vor, dass eigentlich von der Knabenlese ausgeschlossene Familien gefälschte Papiere vorlegten, um ihren Kindern eine vielversprechende Karriere zu ermöglichen.

      Der Priester führte den Beamten und seine Begleiter zu der Familie, deren ältesten Sohn der Yayabaschi bei einem früheren Besuch bereits ausgewählt hatte. Sie klopften an die ausgediente Tür einer von Olivenbäumen umrankten Holzstube. Dort, am Rande der Ortschaft nahe dem Fluss, lebte die alte Jetmira mit ihrem Sohn und ihren drei kleinen Enkelkindern in ärmlichen Verhältnissen.

      Der Verkauf ihrer Oliven auf dem Wochenmarkt sicherte ihnen wenigstens einen bescheidenen Unterhalt. Vor einem Jahr hatten die Kinder bei einer Schießerei im Dorf ihre Mutter verloren. Zwei rivalisierende Gruppen waren aufeinander losgegangen, und eine verirrte Kugel hatte die Frau tödlich verletzt.

      Kreischend öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle stand die alte Dame in ihrer traditionellen Tracht, einem langen, weißen Hemd, darüber ein Filzmantel und eine Futa genannte Schürze. Während ihre Kleider noch einen relativ gepflegten Eindruck hinterließen, verrieten die Opanken an ihren Füßen, dass dies schon seit längerer Zeit ihr einziges Schuhwerk war. Hinter ihr tauchte ein Mann Mitte Dreißig auf. Er trug eine Dollama, den langen Filzmantel der albanischen Bauern, dazu Gamaschen und eine Schärpe.

      Trotz seiner jungen Jahre war sein Gesicht mit tiefen Furchen durchsetzt, die im Zusammenspiel mit seinem ergrauten Haar von dem harten Schicksal erzählten, das ihn in den vergangenen Jahren ereilt hatte. Er wirkte fast genauso alt wie seine Mutter, die neben ihm stand. Sofort rief er seinen ältesten Sohn zu sich und stellte ihn dem Beamten vor. Der Yayabaschi fragte den Jungen:

      „Wie heißt du mein Junge?“

      „Betim.“

      „Dem Taufregister nach zu urteilen, bist du schon acht Jahre alt und damit alt genug für eine Rekrutierung.“

      Zweifelnd wanderte sein Blick zum Vater des Kindes, und er fügte in ernsterem Tonfall hinzu:

      „Aber auch wenn du erst sieben wärest, hätten wir dich mitgenommen. Denn einem neuen Erlass zufolge spielt das Alter ab jetzt keine Rolle mehr. Das Reich braucht dringend vertrauenswürdige und treue Soldaten, die bereit sind zu kämpfen, anstatt sich in erster Linie Gedanken um ihre persönlichen Rechte zu machen. Dazu wollen wir dich erziehen.“

      Damit spielte er auf die schwierige Lage an, in der sich das militärische System befand. Seit längerem schon führten viele einfache Soldaten und besonders die Janitscharen ein eher ziviles als militärisches Leben, was aus der einstmaligen Elitetruppe eine Horde von Müßiggängern zu machen drohte.

      Betims Vater war wegen der anstehenden Trennung von seinem Erstgeborenen so tief berührt, dass er seine Tränen nicht verbergen konnte. Andererseits jedoch stolzierte er seit Tagen schon mit geschwellter Brust durch die Gegend, weil seinem Sohn eine beneidenswerte Karriere im Sultanspalast winkte -die Chance auf einen Aufstieg in die höchsten zivilen und militärischen Ränge im Reich. Wie würden ihn die Nachbarn dann wohl behandeln? Auf jeden Fall mit mehr Ehrerbietung als bisher.

      Nie wieder würde ihn der Lehnsherr mit seinen berittenen Sipahis so demütigen können wie neulich auf dem Wochenmarkt, als er ihm eine Geldstrafe aufgebrummt hatte, nur weil ihm seine salzigen Oliven nicht schmeckten. Angeblich hatte sich irgendein Kunde beschwert. Damit wäre dann Schluss. Schon bald wäre er kein unbedeutender Bauer mehr, sondern der stolze Vater eines hohen Offiziers. Hinzu kam noch die Befreiung von der Steuerlast.

      Ein tiefer Seufzer seiner Mutter riss ihn aus seinen Träumen. Jetmira wischte sich ihre Tränen ab und küsste Betim auf beide Wangen.

      Der Schreiber notierte sich die Namen des Knaben, des Vaters und des Dorfes und überreichte dem Vater im Gegenzug den Namen einer Kontaktperson im Sultanspalast, von der die Familie später erfahren sollte, welcher türkischen Familie ihr Sohn anvertraut worden war. Denn die christlichen Knaben wurden nach einer Feier im Palast in Bauernfamilien in Anatolien gegeben, die ihnen die Sitten, die Gebräuche und die Kultur des Osmanischen Reichs nahebringen sollten. Während ihres Aufenthalts bei diesen Familien schlossen die Knaben ihre Schulbildung ab. Anschließend kamen sie wieder unter die Fittiche der Hohen Pforte, die sie speziell für den Staatsdienst ausbildete.

      Betim umarmte seine Großmutter, seinen Vater und seine Geschwister, machte auf dem Absatz kehrt und folgte dem Yayabaschi. Hin und wieder drehte er sich um und warf tränenüberströmt letzte Blicke auf die Zurückgelassenen, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren.

      Der vollbärtige, adleräugige Yayabaschi war ein ernster Mann. Er trug ein grünes Gewand aus Samt mit Pelzbesatz und weiten Scheinärmeln. An seinem Turban steckten einige Reiherfedern. Von seinem hohen Rang kündeten einzig seine roten Lederstiefel. Er befahl den drei Soldaten, die ihn begleiteten, alle rekrutierten Knaben kurz vor Sonnenuntergang an ihrem Militärstützpunkt zu versammeln. Damit meinte er das Zeltlager, das sie am Nordufer des Kastoria-Sees aufgeschlagen hatten.

      Ein Dutzend Knaben waren bereits dort eingetroffen, und am Nachmittag stieß auch Betim zu ihnen. Am Abend lauschten sogar insgesamt fünf Dutzend Frischlinge, akkurat aufgestellt in Dreierreihen, der Ansprache des Yayabaschi.

      „Knaben, ab heute gehört ihr dem Osmanischen Reich. Vor euch liegt eine lange Reise, die euch zuerst nach Istanbul und danach für einige Jahre in eine Ziehfamilie nach Anatolien führen wird. Anschließend könnt ihr dann im Sultanspalast zeigen, was ihr gelernt habt, um entweder in die Palastschule Enderun oder in die Armee aufgenommen zu werden. Die Palastschule bildet ihre Schüler für eine Arbeit in der Verwaltung aus. Ihre Absolventen können Gouverneur oder Hofbeamter werden, und wenn es das Schicksal gut mit ihnen meint, sogar Großwesir. Die körperlich Robusten unter euch hingegen haben beste Chancen auf eine Ausbildung in der Armee. Auch sie können später in hohe Ränge aufsteigen.“

      Der Beamte wollte den Knaben, die ihre Elternhäuser verlassen mussten, zum einen die Angst nehmen und Mut zu machen. Zum anderen wollte er ihnen aber auch nicht den Eindruck vermitteln, dass ihnen gute Posten ganz ohne Anstrengung zufallen würden.

      Nach diesen aufmunternden Worten träumte nun auch Betim selbst, wie schon am Mittag sein Vater, von einem steilen Aufstieg und von dem Respekt, den ihm die Menschen dann zollen würden. Hatte er das Zeug dazu, gar Großwesir zu werden und den Sultan in allen Belangen zu beraten? Und wie weit könnte er es bringen, wenn er als Soldat aufgenommen würde? Natürlich würde sich das erst im Laufe der nächsten Jahre zeigen. Zumindest