Said Gül

Machtkampf am Bosporus


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verschleppt. Denn die Eltern wurden nicht unterrichtet, was mit ihren Kindern geschehen sollte.

      Nach dieser Maßregelung erklärte er die Audienz mit einer lapidaren Geste für beendet.

      Dass die beiden Kinder den Hof in Teheran nach ihrer Ausbildung mit wichtigen Informationen versorgen sollten, hatte ihnen Karim Khan wahrscheinlich nicht verraten. Also hielt es auch Köse Musa für klüger, es zu verschweigen.

      Köse Musa bekleidete das Amt des Kaimakam, und seit zwei Monaten genoss der stellvertretende Großwesir ganz neue Freiheiten. Denn der Großwesir selbst kämpfte auf dem Schlachtfeld gegen die Russen und verteidigte das Osmanische Reich gegen äußere Feinde. Und der Sultan versuchte, den Unruhen im Innern seines Reiches Einhalt zu gebieten und Reformen in die Wege zu leiten. Bürokratie und Militär mussten dringend modernisiert werden.

      Marodierende Janitscharen nutzten jede Gelegenheit, um für Aufruhr zu sorgen. Ihr Sold war in letzter Zeit ungerecht verteilt worden, wofür der Sultan den amtierenden Janitscharen-Agha verantwortlich machte. Einige von ihnen hatten seit Monaten keinen Groschen mehr bekommen, während andere die Taschen aufhielten und nichts dafür taten. Je größer die Probleme wurden, desto freiere Hand hatte Köse Musa; desto mehr Einfluss konnte er geltend machen und selbst Großwesir spielen. Folglich ließ er nichts unversucht, um die Unruhen und den Krieg weiter anzustacheln.

      ***

      Unruhig schaute Said auf die Uhr an der Wand des spärlich möblierten, kleinen Raums im Stiftungsgebäude neben der Moschee und sehnte das Ende des Unterrichts herbei. Als es endlich soweit war, stürmten er und Mersed nach Hause, um Betim vom Konak abzuholen, um durch das Viertel zu streifen. Inzwischen wohnte dieser seit gut einem Monat in Saids Familie und konnte bereits kurze Sätze auf Türkisch bilden.

      Zusammen schlenderten sie zuerst zum Kaffeehaus, das sie jedoch ohne Begleitung der Väter nicht betreten durften. Ein Blick hinein verriet ihnen aber, dass hier nicht nur Kaffee getrunken, sondern auch reichlich Tabak geraucht wurde. Sie grüßten Sami von der Türschwelle aus und zogen weiter zum Laden nebenan. Hüseyin war gelernter Tischler. Fast alles, was in dem Viertel aus Holz hergestellt war, hatte er auf seiner Hobelbank bearbeitet: die Gebetsnische, die Kanzel und die Empore in der Moschee ebenso wie Truhen und Kommoden. Mersed ließ seinen Blick über die unzähligen Exponate wandern und entdeckte eines, das er zuvor noch nie gesehen hatte.

      „Das nennt man Schachspiel, Mersed“, stillte Hüseyin seine Neugier. „Ich habe es selbst geschnitzt.“

      „Und wie spielt man das?“

      „Es ist ein Strategiespiel. Jede Figur hat ganz bestimmte Möglichkeiten, sich zu bewegen. Ziel ist es, die gegnerischen Figuren aus dem Feld zu schlagen. Die Regeln sind im Grunde genommen recht einfach. Die Raffinesse liegt in der Strategie. Schach wird schon seit Jahrhunderten gespielt, das Spielbrett steht sinnbildlich für den Herrschaftshof und seine Soldaten.“

      Merseds Interesse hielt sich in Grenzen. Ganz anders Said, in seinen Ohren klangen die Wörter Strategie, Herrschaftshof und Soldaten sehr spannend. Um sein Ziel, Janitscharen-Agha zu werden, erreichen zu können, würde auch er eine gute Strategie brauchen. Daher wollte er dieses Spiel unbedingt erlernen. Doch für den Moment verabschiedeten sie sich von dem Tischler. Schließlich wollten sie Betim, der den Hüseyins Erklärungen kaum folgen konnte, nicht weiter langweilen.

      Eingezwängt zwischen dem Moscheegelände und Ibrahims Konak lag das Haus von Salih Hodscha. Vor der Tür auf dem Gehsteig wären die drei fast über einen Bund gelber Tulpen in einer Vase gestolpert. Mersed wusste dafür keine Erklärung. Hatte sie jemand, der den Kranken besuchen wollte, aber niemanden angetroffen hatte, dort abgestellt, oder stammten sie aus dessen Blumenbeeten im Garten?

      Said rüttelte an dem kleinen Türklopfer in der Erwartung, dass Salih Hodschas Frau ihnen öffnen würde. Schließlich waren sie noch Kinder, da war dies kein Problem. Und außerdem, wer außer ihr hätte auch sonst zur Tür kommen sollen, schließlich lebten die beiden hier ja nur zu zweit. Kurze Zeit später erschien sie an dem Erkerfenster zur Gasse hin und erkundigte sich, was die Kinder wollten. Einem Krankenbesuch bei ihrem Mann erteilte sie jedoch freundlich eine Absage und verwies auf die Vase mit den Tulpen.

      „Aber was haben die denn zu bedeuten?“, fragte Mersed.

      „Ja wisst ihr das denn nicht? Wenn jemand eine Krankheit hat, die ansteckend ist, stellt man gelbe Tulpen vor die Tür. Dann wissen die Leute, dass sie sich besser fernhalten sollen, um sich nicht zu infizieren.“

      „Merkwürdig.“

      „Warum? Ich finde das jedenfalls sehr einfallsreich“, widersprach ihm Said.

      Danach holten sie Hayrunnisa ab, Merseds zwei Jahre ältere Schwester, um zusammen zu Eleftheria zu gehen. Eleftheria wiederum war die drei Jahre ältere Schwester von Stavros, der auf dem Fest mit seinem Tritt in den Hintern eines der Störenfriede allseits für Gelächter gesorgt hatte. Ihre Familie wohnte in einem bescheidenen Holzhaus in der Galata-Turm-Straße, die sich an Saids Moschee-Gasse anschloss. Da sie noch nicht zur Schule ging, wartete sie schon seit dem Morgen sehnsüchtig auf Said und Mersed, um mit ihnen zu spielen.

      Wie nicht wenige andere Kinder in ihrem Viertel besaß auch jeder von ihnen einen aus Buchsbaum geschnitzten ballonförmigen Kreisel, mit dem sie ganze Nachmittage verbringen konnten, ohne sich auch nur eine Sekunde zu langweilen. Um den Kreisel in Schwingung zu versetzen, banden sie ein dünnes Seil um seine untere Hälfte und zogen dann ruckartig daran.

      Vollkommen in ihr Spiel vertieft auf dem Boden hockend, schreckte ein wütender Schrei sie auf. Vor ihnen stand ein dicker Mann in einer prunkvollen, mit Goldknöpfen besetzten Offiziersuniform.

      „Macht gefälligst Platz, damit wir hier durchkommen“, glühte er förmlich vor Wut. Hinter ihm und zwei Leibwächtern erblickten die Kinder einen Trupp von etwa einem Dutzend berittenen Soldaten, die eine Kutsche eskortierten - eine Kavalkade des Sultanshofes. Für Said waren diese Reiterzüge nichts Ungewöhnliches. Fast tagtäglich bahnten sie sich rücksichtslos ihren Weg durch die engen Gassen des Viertels. Betim aber wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und unbedingt einen Blick in die Kutsche erhaschen. Vielleicht saß ja der Sultan persönlich darin. Doch die Luke der Kutsche war zu klein, um aus dieser Entfernung etwas zu erkennen.

      Genau wie Said hielt sich auch Mersed nicht länger mit der Kutsche und den Reitern auf. Er trat zur Seite, ohne weiter nachzudenken, und schaute zu den umliegenden Häusern auf. Von dort aus winkte ihnen Daphne zu, die Mutter von Eleftheria und Stavros, die auf einer Bank unmittelbar hinter dem Fenster saß. Said und er winkten höflich zurück, als sie plötzlich lautes Wehgeschrei vernahmen. Ein paar Schritte von ihnen entfernt krümmte sich Betim am Boden, wimmerte vor Schmerz und reckte hilfesuchend die linke Hand in die Höhe. Der Reiterzug stoppte, und sofort eilten einige Passanten herbei, um zu sehen, was passiert war.

      „Ich wollte mir die Kutsche aus der Nähe anschauen. Doch dann kam ein Pferd auf mich zu. Ich konnte nicht mehr ausweichen, und es wirbelte mich zur Seite“, jammerte Betim in gebrochenem Türkisch, das die meisten Anwesenden kaum verstanden.

      „Und? Bist du verletzt, mein Junge?“,wollte ein Passant wissen.

      „Ja, mein Herr. Aber es geht schon wieder. Nur die rechte Schulter tut mir weh.“

      Dass Betim seine Verletzung nur vorspielte, bemerkte in dem Durcheinander niemand. Und so erreichte er sein Ziel. Die Kutschentür wurde aufgestoßen, und zwei Frauen und ein kleiner Junge stiegen aus. Mitfühlend näherten sie sich Betim. Die eine der Frauen fasste ihn am Arm und vergewisserte sich:

      „Geht es dir auch wirklich gut?“

      „Ja, gnädige Frau. Es ist nicht so schlimm.“

      „Verrätst du mir deinen Namen?“

      „Betim, Euer Ehren.“

      „Betim, das klingt schön. Woher kommst du, Betim?

      „Aus Albanien.“

      „Weiß du, wer ich bin?“

      „Nein, Eure Hoheit.“