Said Gül

Machtkampf am Bosporus


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von allen guten Geistern verlassen“, schimpfte Afife mit ihm. Doch Ibrahim hob seine rechte Hand und gebot ihr Einhalt.

      „Oben angekommen, schnappten wir erst einmal nach Luft, dann genossen wir die wunderbare Aussicht. Der Bosporus sah gigantisch aus, und die Stadt breitete sich in alle vier Himmelsrichtungen aus. Aber die Häuser und Moscheen wirkten viel kleiner als von unten und die Menschen auf den Straßen fast wie Ameisen.“

      „Ihr hattet also euren Spaß, was?“, fragte Halil Agha gleichmütig, während sich Afife fast auf die Zunge beißen musste, um ihren Zorn im Zaum zu halten.

      „Ja, es war großartig“, bekräftigte Betim.

      „Das freut mich. Aber vergiss nicht, dass wir die Verantwortung für euch tragen. Wenn man euch ertappt hätte, wären wir dafür zur Rechenschaft gezogen worden.“

      „Ich verstehe.“

      „Also denk beim nächsten Mal daran.“

      „Es wird nicht wieder vorkommen.“

      Nach einer Weile sagte Afife zu ihrem Mann:

      „Betim sollte lieber auch endlich zur Schule gehen, dann werden ihm die Flausen schon vergehen. Mit seinen acht Jahren ist er doch schon zwei Jahre älter als Said.“

      „Ich bemühe mich ja darum, Afife. Und genau aus dem Grunde habe ich mich mit Garbis, dem Armenier, verabredet. Er wollte für mich in der Schule von Hagop, seinem Sohn, nachfragen, ob sie Betim nicht aufnehmen kann. Hagops Schule ist die Gemeindeschule der armenischen Kirche. Andererseits wäre die Schule der St. Benoit Kirche wahrscheinlich noch geeigneter, schließlich ist das eine Eliteschule.“

      „Wann triffst du dich denn mit Garbis?“, fragte ihn Halil Agha.

      „Jetzt gleich, ich muss nur noch meinen Kaffee austrinken. Betim nehme ich mit, damit er mit anhören kann, was wir zu besprechen haben.“

      Doch auch Said wollte sich die Chance auf einen spätabendlichen Ausflug nicht entgehen lassen, und niemand hatte ernsthaft etwas dagegen einzuwenden.

      Der Armenier Garbis, seine Frau Tamar und ihr Sohn Hagop empfingen Ibrahim und die beiden Jungen in dem großen Wohnsaal ihres Hauses. Vor allem Hagop war sehr gespannt darauf, Betim kennenzulernen. Said hatte schon viel von ihm erzählt.

      „Wird Vater Krikor Betim in eure Schule aufnehmen?“, tastete Ibrahim sich vor. Vater Krikor war der Diakon der Surp-Sarkis Kirche der orthodoxen Armenier von Karaköy. Zusammen mit einem Subdiakon, dem Pater Varujan, leitete er die Gemeinde.

      „Er wollte den Jungen erst einmal sehen. Aber mein Eindruck war positiv. Ich denke, dem sollte nichts entgegenstehen“, berichtete Garbis. „Die Klasse, in die er käme, wird von Pater Varujan unterrichtet.“

      „Mein Favorit wäre eigentlich die Schule der katholischen St. Benoit Kirche. Betim soll irgendwann in den Sultanspalast zurückkehren. Also braucht er eine entsprechende Bildung ...“

      „... aber leider nehmen die Jesuiten, die die Kirche leiten, nur Katholiken auf, nicht wahr?“

      „Ja leider. Aber abgesehen davon bin ich überzeugt, dass er auch bei euch in der Gemeinde gut aufgehoben sein wird.“

      „Morgen ist Sonntag. Da werde ich die Angelegenheit nach dem Gottesdienst noch einmal ansprechen. Am besten, Betim begleitet mich dorthin.“

      Auch Ibrahim selbst wäre gern mitgekommen. Doch er würde sich unmöglich freinehmen können; in der Medrese standen einige wichtige Prüfungen an, auf die er die Studenten vorbereiten musste.

      Nach seiner bereits zweiten Tasse Kaffee an diesem Abend bedankte er sich bei seinen Gastgebern, und sie traten den Heimweg an.

      Am nächsten Morgen machte sich Betim mit Garbis, Lisias und ihren Familien zeitig auf den Weg zur armenischen Kirche. Für einen Fußmarsch lag sie recht weit entfernt. Doch Garbis war schon in der Kirche getauft worden, daher kam der Besuch einer anderen für ihn nicht in Frage. Sein Freund Lisias bekannte sich als Grieche eigentlich zum griechisch-orthodoxen Glauben. Doch weil die nächstgelegene griechische Kirche noch schwieriger zu erreichen war, begleitete er seinen Nachbarn Garbis Sonntag für Sonntag in die armenische Kirche.

      Said und seine Schwester Destegül hatten es an diesem Morgen nicht so weit. Zu ihrer Schule waren es lediglich ungefähr hundert Schritte. Trotzdem ließen sie es nicht nehmen, unterwegs noch Mersed und Hayrunnisa abzuholen.

      Schon an der Tür begegneten sie Salih Hodscha, der halbwegs erholt wirkte und seine aus insgesamt zwölf Jungen bestehende Klasse ab jetzt wieder selbst unterrichten würde. Die Klasse der Mädchen war ungefähr genauso groß, sie wurden von einer weiblichen Lehrkraft unterwiesen. Auf Saids und Merseds Stundenplan standen heute die vier Grundrechenarten. Die Mädchen lernten den islamischen Katechismus.

      Als Imam war Salih Hodscha zum einen der Vorbeter und Korangelehrter ihrer Gemeinde. Gleichzeitig war er als Lehrer tätig - mit dem Spezialgebiet Naturwissenschaften - und bekleidete zudem das Amt des Ortsvorstehers. Er repräsentierte sein Viertel gegenüber dem Sultan und trug die Verantwortung dafür, dass dessen Erlassen vor Ort Geltung verschafft wurde.

      Auch die im Viertel lebenden nichtmuslimischen Untertanen des Sultans zollten dem Imam großen Respekt. Der Armenier Garbis, der Grieche Lisias und der Jude David - sie alle und zahlreiche weitere Bewohner des Viertels zählten zur Gruppe der Schutzbefohlenen, der sogenannten Dhimmis. Im Millet-System des Osmanischen Reichs, in dem alle Untertanen ethnischen Gruppen und Religionsgemeinschaften zugeordnet waren, hatten sie besondere Rechte und Pflichten. Bei internen Streitigkeiten zum Beispiel durften sie ihre eigenen Richter konsultieren.

      Am nächsten Tag stand der islamische Katechismus auf dem Programm, und Salih Hodscha erklärte seinen Schülern die rituelle Gebetswaschung.

      „Und wenn es kein Wasser zum Waschen gibt?“, hakte Said nach.

      „Eben darauf wollte ich jetzt zu sprechen kommen. Womit, wenn nicht mit Wasser, würde man denn ein Feuer löschen?“

      Als ihm niemand antwortete, beantwortete er sich die Frage selbst.

      „Mit Erde. Erde besitzt Macht über das Feuer. Unserem islamischen Glauben zufolge hat Gott Satan einst aus Feuer erschaffen und anschließend Adam aus Erde. Dann befahl Er Satan, Adam zu gehorchen, doch Satan weigerte sich mit der Begründung, dass Feuer doch ein viel edleres Element sei als Erde. Folglich gebühre ihm, dem Satan, auch ein höherer Rang in der Schöpfung.

      In Wirklichkeit jedoch zeigt sich in der Natur aber sehr deutlich, dass das Feuer der Erde unterlegen ist, weil es von ihr ausgelöscht werden kann. Daraus folgt, dass wir aus Erde erschaffenen Menschen den Worten des aus Feuer erschaffenen Satans nicht Folge leisten dürfen. Wir sind ihm überlegen, nicht er uns.

      Und noch etwas. Wenn ihr richtig wütend werdet und vor Zorn entbrennt, könnt ihr euch sicher sein, dass Satan da ebenfalls seine Finger im Spiel hat. Dann tut Abkühlung Not, und dabei leistet Wasser gute Dienste. Aber falls euch in dem Moment gerade kein Wasser zur Verfügung steht, solltet ihr wenigstens den Kontakt zur Erde suchen. Nicht umsonst laufen die Menschen seit Jahrhunderten barfuß herum. Sie leiten die negative Energie, die ihr Zorn entfesselt hat, in die Erde ab. Das hilft. Um es kurz zu machen: Bei Bedarf lässt sich die rituelle Waschung auch durchführen, indem man sich mit trockener Erde abreibt.“

      Begeistert von dieser einleuchtenden Erklärung drehte sich Said zu Mersed um, der aber nur teilnahmslos dasaß. Wie kann man nur immer so gleichgültig sein, fragte sich Said. Das Einzige, wofür er sich zu begeistern scheint, sind Straßenspiele mit Eleftheria oder Mutproben mit Betim. Und richtig, als Mersed den Lehrer von Feuer und Wasser reden hörte, waren seine Gedanken unverzüglich wieder zu ihrem Aufstieg auf den Feuerwehrturm von Galata zurückgewandert.

      Nach der Schule griff sich Said sein Schachspiel und bekniete seinen Großvater erfolgreich, ihn zum Basar in Davids Laden zu begleiten. Als sie gerade aufbrechen wollten, kamen ihnen Betim und Hagop entgegen.

      „Hallo, ihr beiden. Na, Betim, wie war dein erster Tag in der Gemeinde?“

      „Schön.