Said Gül

Machtkampf am Bosporus


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auf den Jungen, der hinter ihr stand, und Betim neugierig musterte. Diese Information ließ Betim aufhorchen. Die Amme fuhr fort:

      „Wir sind auf dem Weg zum Mewlewi-Konvent hinter dem Galata-Turm. Bis dahin sind es nur noch einige hundert Fuß. Wenn du gestattest, möchte ich mich bei dir entschuldigen, indem wir dich und deine Freunde zu einer Aufführung der Tanzenden Derwische dorthin einladen. Unser junger Prinz freut sich schon seit Tagen darauf.“

      Der Prinz war gleich Feuer und Flamme: „Ja, sie sollen mitkommen. In der Gesellschaft von Gleichaltrigen fühle ich mich gleich viel wohler.“

      Also forderte die Amme auch Said und Mersed auf, sich ihnen anzuschließen. Mersed nahm Hayrunnisa das Versprechen ab, den Eltern bloß nichts zu erzählen; sie hätten diesem Ausflug niemals zugestimmt. Dann wurde Betim in die Kutsche gebeten, während Said und Mersed der Kavalkade zu Fuß folgten. Hayrunnisa und Eleftheria hingegen blieben zurück und wendeten sich schnell wieder ihren Kreiseln zu.

      Im Konvent angekommen, überraschte Betim seine Freunde, indem er ihnen verriet, was er auf dem Weg in der Kutsche erfahren hatte: „Er heißt Selim und ist wahrscheinlich unser zukünftiger Sultan.“

      An einer Bibliothek, einem Mausoleum und einem Friedhof vorbei führte der Weg in einen großen Hof. Das Hauptgebäude, in dem die Tanzdarbietungen stattfinden sollten, lag unmittelbar vor ihnen. Neben dem Eingang befand sich eine mit Wasserhähnen bestückte Zisterne für die Gebetswaschungen und andere Anlässe. Auch Said und die anderen reinigten sich, bevor sie die Semahane betraten. Den Mittelpunkt des Gebäudes bildete eine geschätzt vierzig Fuß im Quadrat messende Tanzfläche mit Holzplanken, die von einer kniehohen Balustrade umgeben war. In Gruppen um die Tanzfläche verteilt saßen bereits zahlreiche Männer, Frauen und Kinder auf dem Boden, die gespannt auf den Beginn der Zeremonie warteten. Für den Prinzen und seine Gäste aber wurden Stühle besorgt, auf denen sie sich niederließen.

      Als Selim merkte, dass Said vergeblich versuchte, die großen Inschriften aus dem Heiligen Koran zu entziffern, die in vergoldeten Rahmen an den Wänden prangten, sprach er ihn an:

      „Ich war vor drei Wochen zum ersten Mal hier, und die Tänze haben mir sehr gefallen. Genau wie die Melodien der Ney, einer Rohrflöte. Durch die Musik versetzen sich die Tänzer in Ekstase und drehen sich, zuerst ganz langsam, dann immer schneller, um ihre eigene Achse. Das Erstaunliche ist, dass sie selbst davon angeblich gar nichts mitbekommen. Das hat mir zumindest einer der Tänzer nach der Vorstellung erzählt.“

      Wenig später betraten die Derwische die Bühne. Das Getuschel ringsum verstummte, und die Aufführung begann. Mersed und Betim merkten schnell, dass sie den Darbietungen nicht viel abgewinnen konnten. Said und Selim dagegen verfolgten das Geschehen auf der Tanzfläche wie gebannt. Flüsternd wies Selim Said auf einen Tänzer hin, der noch wie ein Kind aussah.

      „Stimmt, das ist ein Kind. Wie alt es wohl sein mag?“

      „Ich weiß es nicht, aber vermutlich so alt wie wir, oder etwas älter.“

      „Vielleicht sollte ich mich einfach auch bei den Tanzenden Derwischen anmelden und tanzen lernen. Ob wir nach der Aufführung wohl mit ihm reden können?“

      Als der Prinz später einen seiner Begleiter zu dem Jungen schickte, um ihn zu sich zu zitieren, wurde ihm sein Wunsch jedoch abgeschlagen. Die Derwische vollzögen eine Art religiösen Ritus und bräuchten danach eine Zeitlang, um sich wieder ganz aus der Ekstase zu lösen.

      Kurz darauf verabschiedete sich Prinz Selim im Hof von seinen neuen Freunden. Said und Selim versprachen einander, sich schon nächste Woche wieder hier zu treffen. Diesmal würde Said versuchen, auch seinen Vater mitzubringen. Betim und Mersed hingegen winkten dankend ab. Sie hatten sich in der letzten Stunde ziemlich gelangweilt. Die drei Freunde winkten Selim noch kurz nach und machten sich dann schnell auf den Heimweg. Falls ihre Eltern fragten, wo sie so lange gewesen waren, würden sie ihnen sagen, dass sie einen Bummel durch das Viertel unternommen hätten. Kein Wort von der Begegnung mit dem Prinzen, das hätte ihnen sowieso niemand abgenommen.

      Kapitel 4

      Said überredete seinen Vater, ihm für drei Akçe das Schachbrett zu kaufen. Zu seinem Bedauern aber fand er im ganzen Viertel keine Menschenseele, die ihm das Spiel beibringen konnte, auch wenn jeder schon davon gehört hatte. Als er seinem Großvater, der auf dem Diwan in ein altes Buch vertieft war, sein Leid klagte, fiel diesem ein, dass er dem jüdischen Schmuckhändler David vor einigen Jahren einmal in dessen Juweliergeschäft auf dem Basar beim Schachspielen mit einem Kunden zugeschaut hatte.

      „Besuch doch Onkel David bei Gelegenheit und lass es dir von ihm erklären. Er versteht etwas davon“, ermunterte Halil Agha Said.

      „Natürlich, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?“, fragte sich Said und wäre am liebsten sofort losgezogen. Doch Afife trug ihm auf, einen Moment zu warten.

      „Davids Frau Rachel liebt meinen Grießkuchen, und wie es der Zufall will, habe ich heute Morgen gerade einen gebacken. Ich pack dir einige Stücke für sie ein.“

      Und dann versetzte Halil Agha seiner Vorfreude einen noch schwereren Schlag. „Aber Afife“, protestierte er, „heute ist doch Samstag. Und am Sabbat sollte man die Juden nicht stören. Da sind sie zwar zu Hause, empfangen aber nicht gern Gäste.“

      „Ach ja, das hatte ich ganz vergessen“, entgegnete Afife und vertröstete ihren Sohn auf ein andermal.

      Saids Enttäuschung hielt nicht lange vor. Er setzte sich neben seinen Großvater und warf einen Blick auf das Buch, das er in Händen hielt. Pharmakognosie, von einem gewissen Al-Biruni. Darin ging es um Heilpflanzen und Nahrungsmittel, wie ihn sein Großvater aufklärte. Doch Said wandte sich schnell wieder ab, weil er nichts verstand. Stattdessen wanderten seine Augen zum Fenster hinüber. Während er selbst nach der Schule Eleftheria besucht hatte, waren Mersed und Betim Brot kaufen gegangen und noch immer nicht zurückgekehrt. Dabei lag die Bäckerei von Emrullah doch gleich um die Ecke am Fuß des Galata-Turms. So lange konnten die beiden doch unmöglich gebraucht haben. Bestimmt waren sie mit Dingen beschäftigt, in die sie ihn nicht einweihen wollten.

      „Afife, ist Mersed bei euch?“, rief Nadire nach ihrer Schwägerin, offensichtlich auf der Suche nach ihrem Sohn.

      „Nein“, versicherte ihr Afife, während sie eine silberne Karaffe auf dem Kupfertablett abstellte, das auf einem Dreifuß stand. Sie und ihre Tochter Destegül hatten gerade alle Hände voll zu tun, das Abendessen vorzubereiten. Ibrahim würde jeden Augenblick eintreffen, und dann fehlte nur noch Betim.

      Tatsächlich ließ Müderris Ibrahim nicht lange auf sich warten, und wenig später klopfte es noch einmal an der Tür. Mit einigen Fodlas - dünnen, viereckigen Broten aus Gerstenmehl - unter dem Arm stürmten Betim und Mersed in den Hof.

      „Wo bleibt ihr denn, Kinder? Wir haben uns fast schon Sorgen um euch gemacht!“

      „Nun lass sie doch, Afife“, beschwichtigte Ibrahim, der solche Dinge eher gelassen sah. „Mersed, deine Mutter wartet hier oben auf dich.“

      Doch Nadire eilte ihrem Sohn bereits entgegen und verabschiedete sich mit einem kurzen Gruß.

      „Na dann, guten Appetit“, sagte Halil Agha, als sich die Familie und ihr Ziehsohn endlich um den Tisch versammelt hatten, und begann ungeduldig, seine Suppe zu löffeln.

      Als Ibrahim Betim nach dem Essen am Kamin fragte, was er den Tag über so getrieben hatte, war sich dieser zunächst kurz unschlüssig. Sollte er die Wahrheit sagen oder besser eine Lüge auftischen? Aber was, wenn Mersed etwas anderes erzählen würde? Dann wäre er schnell überführt. Also blieb er lieber bei den Tatsachen.

      „Wir haben Brot gekauft, und dann habe ich Mersed eine Wette angeboten. Bestimmt würde er sich nicht trauen, mit mir zusammen auf den Galata-Turm hinaufzusteigen. Aber Mersed wollte die Wette nicht verlieren, und so schauten wir uns um, ob einer von den Feuerwehrleuten zu sehen war, deren Hauptquartier der Turm ja ist. Die Luft war rein, und so gingen wir die Wendeltreppe hinauf. Eigentlich ein Kinderspiel, wenn Mersed nicht