Said Gül

Machtkampf am Bosporus


Скачать книгу

Sami, mein Freund“, erwiderte Ibrahim seinen Gruß.

      „Tausend Dank, Müderris, wie Ihr unserer am Boden liegenden Stiftung neues Leben eingehaucht habt, ist großartig. Das wollte ich Euch schon lange einmal gesagt haben.“

      „Nicht der Rede wert, Sami. Ich habe ja nur den Anstoß gegeben. Allein hätte ich das niemals schaffen können.“

      „Nein, nein, nur keine falsche Bescheidenheit, Müderris. Alle Bedürftigen, die jetzt endlich wieder satt werden, und alle Kranken, für deren Pflege nun endlich mehr Geld bereitsteht, sind Euch zu großem Dank verpflichtet. Und ganz sicher werden Eure Bemühungen auch das Wohlgefallen Gottes finden.“

      Sami würde seinen Vater wohl längere Zeit in Beschlag nehmen. Deshalb entschuldigte sich Said und fragte Eleftheria, ob sie sich nicht auch mit ihnen das Stiftungsgebäude anschauen wollte.

      „Deine Mutter wird bestimmt nichts dagegen haben, wenn sie weiß, dass du bei uns bist und wohin du gehst.“

      Nachdem Eleftheria die Erlaubnis bekommen hatte - mit der einzigen Auflage, nicht zu spät nach Hause zu kommen -, trotteten sie zum Marktplatz, um nach Saids Vater und ihren Freunden Ausschau zu halten.

      Als sie Betim in Begleitung von Hagop erspähten, rannten sie auf sie zu und erzählten ihnen von der Führung. Doch während sich Hagop sofort von ihrer Begeisterung anstecken ließ, entfuhr Betim lediglich ein leises, unwilliges Grunzen.

      „Was ist denn los mit dir, Betim?“, wollte Said wissen.

      „Ach. Das viele Lernen geht mir auf die Nerven. Der Unterricht wird einfach von Tag zu Tag langweiliger.“

      „Das viele Lernen? So schlimm ist es doch wirklich nicht, Betim“, protestierte Hagop. „Du bist nur denkfaul, das ist alles.“

      „Betim doch nicht“, verteidigte Eleftheria ihn unverhofft.

      „Doch, doch. Er zeigt nie auf, antwortet nicht auf die Fragen des Lehrers, hat keine Lust zu gar nichts.“

      Anstatt weiter in der Wunde zu bohren, schlug Said vor, seinen Vater zu suchen. Er kannte Betim und wusste, dass auch er darauf brannte, einmal einen Blick in das Stiftungsgebäude zu werfen. Diese Gelegenheit würde er sich trotz seiner schlechten Laune nicht entgehen lassen.

      Als sie Ibrahim schließlich in Samis Kaffeehaus fanden, staunte dieser nicht schlecht. Statt drei Kindern standen plötzlich fünf vor ihm; auch Mersed war inzwischen zu ihnen gestoßen.

      In dem großen Innenhof der Stiftung kamen ihnen zwei Frauen entgegen. Die eine der beiden schien etwas schwach auf den Beinen zu sein; wahrscheinlich eine Patientin, die sich bei der anderen untergehakt hatte. Erst beim zweiten Hinschauen erkannte Said, dass diese zweite Frau seine Mutter war. Zwar wusste er, dass sie schon seit einem Jahr als Freiwillige im Krankenhaus aushalf, doch war ihm gar nicht erst der Gedanke gekommen, sie jetzt hier zu treffen. Er lief zu ihr, umarmte sie und begrüßte auch die Patientin. Ibrahim hingegen zog es vor, sie nicht weiter zu stören, und winkte ihnen nur kurz zu.

      „Was habt ihr denn alle hier zu suchen?“, fragte Afife Said, und er erklärte es ihr. Doch als er merkte, dass die anderen schon ohne ihn weitergegangen waren, verabschiedete er sich schnell von ihr und lief ihnen zur Eingangstür des Gebäudes hinterher.

      „So, und jetzt merkt euch eines“, schärfte Ibrahim den Kindern gerade ein. „Hinter dieser Tür müsst ihr euch absolut ruhig verhalten. Im Bibliotheksbereich dürft ihr nur flüstern, und im Krankentrakt ist sogar völliges Schweigen geboten, weil wir die Kranken ja nicht stören wollen. Reden dürft ihr nur später im Hamam. Dort könnt ihr dann testen, wie eure Stimmen vom Kuppeldach und den Kacheln des Bades verzerrt werden.

      Hinter der Eingangstür tat sich ein langer Korridor auf, dessen Wände mit Koranversen zu den Themen Krankheit, Sauberkeit und Bildung verziert waren. Drei davon las Ibrahim ihnen vor:

      „Er, der mich geschaffen hat und mich rechtleitet, der mir zu essen und zu trinken gibt und mich, wenn ich krank bin, heilt.“ – „Gott liebt die Bußfertigen und die, die sich reinigen.“ – „Fragt nach, wenn ihr etwas nicht wisst.“

      Diese Verse fungierten als eine Art Wegweiser. Letzterer beispielsweise wies den Besuchern den Weg zur Bibliothek, die sich in einem Raum rechts von dem Korridor befand. Dieser maß vierzig Fuß im Quadrat und war in Zwanzig Fuß Höhe mit einer halben Kuppel überdacht. Aus den kleinen Fenstern schien die Sonne in den Raum und in der Dämmerung half den Lesern nur noch der Kerzenschein.

      An den unverzierten Wänden standen sechs etwa zehn Fuß hohe Glasschränke und weitere Wandnischen, in denen die Bücher aufbewahrt wurden. Sie waren nicht aufgereiht, sondern übereinandergestapelt. Viele der Bücher waren Geschenke von wohlhabenden Spendern, und fast alle waren in Leder gebunden, was ihnen ein edles Aussehen verlieh. Von religiösen bis zu wissenschaftlichen Werken bot die Bücherei eine reiche Auswahl.

      „Einige dieser Bücher sind schon vor mehr als tausend oder sogar zweitausend Jahren verfasst worden“, versicherte Ibrahim den staunenden Kindern. Die meisten waren nur Kopien. Doch es gab auch einige wenige Originale im Aufgebot. Anders dagegen in Hochschulbibliotheken, wie die der Medrese, an der Ibrahim unterrichtete. Dort fand man deutlich mehr Originalbände als hier in der Stiftungsbibliothek.

      „Wirklich? Vor zweitausend Jahren? Die möchte ich sehen!“, rief Betim.

      „Dann komm mit. Folgt mir!“

      Vor einer Regalreihe mit alten Büchern stoppte Ibrahim und nannte ihnen drei Namen:

      „Sokrates, Platon, Euklid - das waren alte griechische Philosophen. Sokrates hat unter anderem über das Gute im Menschen und über die Selbsterkenntnis geschrieben. Vielleicht habt ihr schon einmal von ihm gehört. Euklid war ein Mathematikgenie. Schon vor zweitausend Jahren wusste er mehr über Arithmetik und Geometrie als manche Gelehrte heute.

      Platon dagegen verdanken wir die Überlegung, dass der Staat optimale Voraussetzungen zu schaffen hat, damit Gerechtigkeit im Land herrscht.“

      „Bücher wie diese müssen doch unglaublich wertvoll sein.“

      „Ja, sie kosten ein Vermögen. Aber zum Glück kann man sie ja hier lesen.“

      „Mir ist es egal, wie alt ein Buch ist. Hauptsache, es bringt mir etwas bei“, gab Eleftheria zu bedenken, und Ibrahim pflichtete ihr bei.

      Währenddessen studierte Said noch weitere Einbände und fragte seinen Vater nach einigen Autorennamen. Weder von Rhazes noch von Al-Kindi, Avicenna, Al-Khwarizmi oder Ulugh Bey hatte er je gehört.

      „Von wem ist nochmal das Buch, das Großvater gerade liest?“

      „Von Al-Biruni, mein Sohn, und er hat es auch von hier ausgeliehen.“

      Die Bücher konnten nur in der Bücherei gelesen werden. Nur einige wenige Personen, die einen guten sozialen Ruf besaßen, durften einige Bücher mit nach Hause nehmen. So wie Halil Agha.

      Nachdem sie genug gesehen hatten, gingen sie weiter zum Krankentrakt. Gleich am Eingang zog ihnen ein strenger Geruch in die Nase; angeblich von der Medizin, die den Patienten verabreicht wurde. Wie hielt seine Mutter das nur aus?, fragte sich Said. Aus den Krankenzimmern, in denen jeweils drei Betten standen, drangen laute Klagen und tiefe Seufzer zu ihnen auf den Flur hinaus, und so beschränkten sie sich darauf, kurz hineinzuschauen.

      „Wofür braucht man denn in einem Krankenhaus Musikinstrumente?“, fragte Mersed Ibrahim, als er ihnen einen Raum zeigte, der ihnen fast den Eindruck vermittelte, im Vorzimmer eines Konzertsaals gelandet zu sein. Der Raum strotzte nur so vor Instrumenten. Manche davon hingen an der Wand, andere waren an kleine Schemel und Hocker gelehnt.

      „Diese Instrumente sollen den Kranken bei der Genesung helfen. Schon seit Jahrhunderten behandelt man geistesgestörte und schwermütige Menschen mit Klängen und Harmonien. Wusstet ihr das?“

      „Wirklich?“, staunte Eleftheria.

      „Ja, aber nicht mit irgendwelchen beliebigen Klängen. Ney, Oud, Tanbur und Kanun sind wie dazu geschaffen,