Said Gül

Machtkampf am Bosporus


Скачать книгу

Rezitation mit anschließendem Bittgebet statt. Wir begehen heute die Berat-Nacht, von der wir uns erhoffen, dass sie uns von unseren Sünden erlöst. Begleite mich doch einfach dorthin.“

      „Aber darf ich als Christ denn auch in der Moschee vor Gott treten?“

      „Natürlich. Gott nimmt die Gebete aller seiner Geschöpfe an, sofern sie sich Ihm nur mit reinem Herzen zuwenden.“

      In dem Moment erschallte der Gebetsruf. Also tranken sie ihren Kaffee aus und gingen beide zur Moschee hinüber. Während Ibrahim das Nachtgebet verrichtete, wartete Garbis im Hof auf ihn. Anschließend holte Ibrahim ihn zu den Rezitationen herein.

      Den Kindern war es auf dem Marktplatz schon vor einer Stunde zu voll geworden, und so spielten sie nun in der Galata-Turm-Straße Verstecken. Hier machte es ihnen viel mehr Spaß, und in der Dunkelheit dauerte es häufig sehr lange, bis die oder der Suchende alle Flüchtigen gestellt hatte. Aber als Betim mit Suchen an der Reihe war, weigerte er sich plötzlich, weiter mitzuspielen.

      Die anderen, allen voran Hagop, schimpften ihn einen Spielverderber und versuchten ihn zum Weiterspielen zu überreden. Aber er ließ sich nicht umstimmen, sondern gab Mersed per Handzeichen zu verstehen, dass er ihm folgen sollte.

      Mersed zögerte keine Sekunde, und ohne ein weiteres Wort der Erklärung ließen sie die anderen stehen.

      „Was soll denn das?“, empörte sich Hayrunnisa. „Ein Wink von Betim genügt, und Mersed folgt ihm blind. Fast als wäre er sein Handlanger. Und das schon seit geraumer Zeit.“

      „Ach lass sie doch, dann spielen wir eben ohne sie weiter“, machte sich Destegül keine großen Gedanken.

      „Diese lächerlichen Kinderspiele gehen mir inzwischen einfach nur noch auf die Nerven“, sagte Betim zu Mersed. „Es gibt wichtigere Dinge zu tun.“

      „Und welche?“

      „Das wirst du schon gleich sehen.“

      Sein Ziel, der stärkste und reichste Mann im Land zu sein, steckte er nie zurück. Seit dem Tag seines Aufbruchs aus der Heimat träumte er davon, nicht der Untergebene, sondern der Machthaber zu sein, um irgendwann über alles selber zu entscheiden.

      Die Stiftung blühte in den letzten Jahren wieder auf, und die Kasse war bestimmt nicht irgendwo versteckt. Sie musste in der Holzschatulle hinter dem Schreibtisch im Verwaltungszimmer sein, in das Ibrahim ihn und die anderen vor Jahren geführt hatte. Seine Tage in Ibrahims Konak waren zudem gezählt. Er würde jederzeit in der Rekrutenschule aufgenommen werden. Also musste er heute damit fertig werden. Gerade wenn alle in dieser Nacht in der Moschee waren, um um Vergebung ihrer Sünden zu bitten. Dass das Aneignen von fremdem Geld auch eine Sünde war, darüber wollte er nicht denken.

      Kurze Zeit später standen sie vor dem Eingang zum Hof des Stiftungsgebäudes. Betim vergewisserte sich, ob ihn auch niemand beobachtete, dann öffnete er vorsichtig das Tor. Als er sah, dass auch der Hof menschenleer war, zog er den verdutzten Mersed schnell hinein. Dann schloss er das Tor hinter ihnen und flüsterte Mersed zu:

      „Wir werden jetzt der Residenz deines Onkels einen kleinen Besuch abstatten.“

      „Aber zu dieser Zeit ist doch dort niemand.“

      „Ich weiß. Genau deshalb ja.“

      „Ich verstehe nicht, was du vorhast, Betim.“

      „Warte nur, bis wir oben sind.“

      Die Stiftungen dienten dem Allgemeinwohl, das ganze Viertel profitierte von ihnen. Daher betrachtete man es als nicht erforderlich, sie vor Einbrechern und Dieben zu schützen. Selbst nachts wurden sie nie verriegelt. Zu dieser späten Stunde hielten sich neben den Patienten im Krankentrakt nur noch einige wenige Pfleger in dem Gebäude auf. Und keine von ihnen bemerkte, wie Betim und Mersed leise die Treppe hinaufstiegen. Oben angekommen sperrte Betim vorsichtig die Tür zur Verwaltung auf, und mit einem schwachen Knarren gab sie nach.

      „Bleib du hier und pass auf, ob jemand kommt!“, befahl er Mersed.

      Betim betrat den Raum und schaute sich um. Da der Mond durchs Fenster schien, brauchte er kein anderes Licht. Nach kurzem Suchen entdeckte er in einer Nische in der Wand hinter Ibrahims Schreibtisch die Holzschatulle, die ihm schon damals bei ihrer Führung durch das Gebäude aufgefallen war. Konnte es sein, dass darin die Gelder der Stiftung aufbewahrt wurden?

      „O mein Gott“, entfuhr es Betim, als er den Deckel anhob. Aus der Schatulle lachte ihm ein ganzes Vermögen entgegen; viel mehr, als Betim je gehofft hätte. Rasch füllte er die Gold- und Silbermünzen in einen Stoffbeutel, den er zu diesem Zweck mitgebracht hatte, und eilte zurück zur Tür.

      „Was ist denn das?“, fragte ihn Mersed, als er den prall gefüllten Beutel sah.

      „Meine Zukunft, oder vielmehr unsere Zukunft, Mersed. Wir sind reich“, strahlte Betim und ließ ihn einen Blick hinein werfen.

      „Aber, das gehört uns doch gar nicht!“

      „Doch, ab jetzt schon.“

      „Das ist nicht dein Ernst, Betim“, erschrak Mersed, verstummte aber schnell wieder.

      Auf einmal hörten sie ein Geräusch von unten. Sie mussten sich verstecken. Sofort. Panikartig suchten sie Zuflucht hinter einer zweiten Tür am Treppenabsatz, die sich widerstandslos öffnen ließ. Sie schlüpften hinein, riskierten es aber nicht, sie wieder zuzuziehen. Also kauerten sie sich an der Wand nieder und horchten durch den Türspalt, was im Treppenhaus vor sich ging. Ohne Zweifel, da stieg jemand zu ihnen hinauf. Sie erschraken zutiefst, und Sekunden später tauchte eine Gestalt mit einer Gaslampe in der Hand vor ihnen auf. Hatten sie sich irgendwie verraten, oder handelte es sich vielleicht nur um einen Kontrollgang?

      Kaum mehr als einen kleinen Schritt trennte die Gestalt von den Jungen hinter der Tür. Jeden Moment würde sie die Tür weit aufsperren und mit der Lampe hineinleuchten. Das wäre das Ende. Auch er betrat das Verwaltungszimmer und kurze Zeit später ließ er sich wieder im Korridor erkennen. Was, wenn er die leere Schatulle bemerkt hatte?, dachte sich Betim. Doch beruhigte er sich wieder, denn dann hätte die Gestalt schnellen Schritts nach Hilfe suchen müssen. Stattdessen ging sie langsam und ihre Schritte entfernten sich die Treppe hinunter, bis sie schließlich ganz verhallten.

      Schweißgebadet konnten die Jungen ihr Glück kaum fassen. Erst eine gefühlte halbe Ewigkeit später fanden sie ihre Sprache wieder. Wer war das gewesen? Einer der Pfleger? Den Konturen nach zu urteilen eher ein beleibter Mann mittleren Alters. Die Pfleger waren junge, schlanke Männer. Aber viel mehr als die breiten Schultern hatte Betim in der Dunkelheit nicht erkennen können.

      Eine weitere halbe Ewigkeit später wagten sie sich aus ihrem Versteck heraus. Mit größter Vorsicht schlichen sie nach unten und über den Hof zum Tor hinaus. Dann liefen sie, so schnell sie konnten, nach Hause. Den Geldbeutel hatte sich Betim in den Mantel gesteckt, sodass sie unauffällig blieben. Denn auch so war die Gasse um diese Stunde menschenleer.

      Noch hatten sie sich von der Aufregung nicht erholt, als sie Kerzenschein aus der Mittelhalle des Konaks leuchten sahen. Vorsichtshalber legte Betim den Beutel an der Schwelle zur Mittelhalle auf den Boden.

      Said saß auf dem Diwan und stellte sie prompt zur Rede.

      „Woher kommt ihr so spät?“

      Betim hatte fest damit gerechnet, dass Said nach dem Versteckspiel noch in die Moschee gehen würde. Aber hier saß er nun, verlangte eine Antwort und durfte auf keinen Fall den Beutel mit dem Geld zu Gesicht bekommen.

      „Ach, wir waren noch etwas draußen ...“, stotterte Mersed.

      „... und haben die Gelegenheit genutzt, und sind durch die Gassen gebummelt. Die Gaslampen, das Mondlicht, der glitzernde Schnee und die feierliche Atmosphäre. Was gibt es Schöneres?“

      „Mit den Mädchen zu spielen hat euch wohl keinen Spaß gemacht?“, bohrte Said nach.

      „Doch, schon. Aber Betim und ich wollten einfach lieber nur für uns sein.“

      „Schon gut, macht