Said Gül

Machtkampf am Bosporus


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ausrichten“, verabschiedete sich Halil Agha sofort wieder mit schlechtem Gewissen ins Kaffeehaus.

      Said wusste nicht recht, ob er sich mit dieser Erklärung zufriedengeben sollte, auch wenn seine Mutter sie bestätigte. Aber ihm blieb keine Wahl. Was ihn abgesehen davon aber auch sehr irritierte, war Betims Verhalten. Er tat fast so, als ginge ihn das alles gar nichts an, war mit seinen Gedanken ganz woanders und zeigte nicht das geringste Interesse. Warum nur?

      Zwei Tage zwischen Hoffen und Bangen zerrten an ihren Nerven. Während das gesamte Viertel in Aufruhr um die beiden Verschollenen war, suchten Halil Agha und Salih Hodscha mehrmals täglich den Kadi in seinem Amtszimmer auf, doch zu dessen eigenem Leidwesen schaffte er es nicht, in Erfahrung zu bringen, wer Ibrahim und Garbis festhielt und wo sie sich befanden.

      Die Kinder, allen voran Said und Destegül, waren entrüstet und hofften, dass ihrem Vater nichts zustieß. Betim dagegen wurde in diesen Tagen sehr ungeduldig, was Destegüls Augen nicht entging. Könnte er etwas mit diesem Eindringen in die Stiftung zu tun haben?, fragte sie sich. Als sie es ihrem Bruder erzählte, schwante auch Said nichts Gutes. Aber sicher waren sie sich in ihrer Vermutung nicht.

      Am Morgen des dritten Tages kehrte Ibrahim zurück.

      Die Kinder waren gerade in der Schule, als er sichtlich erschöpft und mitgenommen durch das Hoftor trat. Afife rannte auf ihn zu und schloss ihn in die Arme.

      „O Ibrahim, wo bist du nur gewesen? Und was ist mit Garbis? Zwei Tage warst du fort, die mir vorkamen wie zwei Jahre.“

      „Nachdem sie uns festgenommen hatten, wurden wir anschließend voneinander getrennt. Deshalb weiß ich nicht, wie es Garbis ergangen ist. Sie haben mich eingesperrt und an einem unbekannten Ort festgehalten, obwohl ich mir doch überhaupt nichts habe zuschulden kommen lassen. Sie haben mich beschuldigt, ein Dieb zu sein, ohne auch nur einen einzigen Beweis dafür zu haben.“

      „Und was haben sie dort mit euch gemacht?“

      Dieser Frage wäre Ibrahim gern ausgewichen, um seiner Frau keine Lügen auftischen zu müssen. Aber sie hatten keine Geheimnisse voreinander, also würde er ihr auch jetzt die Wahrheit sagen.

      „Sie haben mich vernommen, gedemütigt, ja sogar geschlagen. Das Geld der Stiftung ist verschwunden, offenbar gestohlen worden. Und da sie mich verdächtigten, wollten sie ein Geständnis aus mir herauspressen und vor allem wissen, wo ich das Geld versteckt habe.“

      „Geschlagen?“, stöhnte Afife auf. Schockiert drückte sie ihren Mann an sich und strich ihm übers Haar.

      „Aber mein Liebster, wie konnten sie dir das antun? Haben wir denn keine Gesetze, die so etwas verbieten?“

      „Doch, die haben wir und ich kenne sie. Ich selbst bringe sie meinen Studenten ja in der Medrese bei. Aber diese Leute waren ganz offensichtlich keine Staatsbeamten, sie standen nicht auf der Seite des Gesetzes. Immer wieder habe ich verlangt, unseren Kadi zu sprechen, aber dafür haben sie mich nur ausgelacht.“

      „Aber wir haben mit dem Kadi gesprochen. Mehrmals. Schon am Tag deiner Verhaftung haben wir ihn aufgesucht. Er war selbst überrascht und versicherte uns, nichts von dieser Angelegenheit zu wissen. Schon gar nicht habe er sie einem Hilfsrichter übergeben.“

      „Anscheinend gibt es in unserem Reich eine Gruppe, die die Staatsmacht zu unterwandern versucht. Das beobachte ich schon seit längerem. Und es würde mich nicht wundern, wenn sie auch die Ermittlungen in diesem Fall am Kadi vorbei an sich gerissen haben. Eine andere Erklärung fällt mir jedenfalls nicht ein.“

      „Aber wer könnte denn dahinter stecken?“

      „Jemand, der hinter dem Rücken der Staatsmacht alle Hebel in Bewegung setzt, um Einfluss zu gewinnen, und dafür dringend Geld braucht.“

      „Gott behüte uns!“, sagte Afife. „Du musst gewaltigen Hunger haben, ich mache dir schnell etwas zu essen.“

      „Nein, nein. Erst sehen wir nach, ob sie Garbis ebenfalls freigelassen haben.“

      „Natürlich, Liebster, du hast Recht. Daran habe ich gar nicht gedacht.“

      „Gott sei Dank, dass auch du zurück bist, Ibrahim. Kommt herein, Garbis wird sich freuen, euch zu sehen“, begrüßte Tamar sie erleichtert. Im Wohnzimmer umarmten sich die beiden Männer und die beiden Frauen. Garbis berichtete Ibrahim und Afife, dass sie ihn ebenfalls geschlagen und permanent vernommen hatten.

      „Es war ein einziger Albtraum, und ich bin mir nicht sicher, ob ich auch wirklich schon daraus erwacht bin“, resümierte Garbis, und Ibrahim konnte sehr gut nachvollziehen, was er damit meinte.

      Afife und Tamar erzählten ihren Männern, dass sich viele Bewohner des Viertels große Sorgen um sie gemacht hatten. Trotz der Gerüchte um das Verschwinden der Stiftungsgelder hatte offenbar niemand auch nur eine Sekunde lang an ihrer Aufrichtigkeit gezweifelt.

      Während Afife und Tamar die Frauen über ihre Freilassung informieren wollten, beschlossen Ibrahim und Garbis, ins Kaffeehaus zu gehen, um ihre Freunde zu beruhigen. Dort scharten sich sofort sämtliche Gäste um sie und stellten ihnen jede Menge Fragen, die die beiden ihnen geduldig beantworteten. Allerdings verzichteten sie hier darauf, von den Demütigungen zu berichten, denen sie während der Vernehmungen ausgesetzt gewesen waren. Halil Agha weinte vor Glück, seinen Sohn wohlbehalten wiederzusehen, und alle Anwesenden empörten sich lautstark über das vermeintliche Missverständnis und die Amtsanmaßung durch den Hilfsrichter.

      Wieder zu Hause angekommen freuten sich auch Said und Destegül, dass ihr Vater schneller als erwartet von seiner Dienstreise zurückgekehrt war. Sie schärften ihm ein, sich das nächste Mal wenigstens von ihnen zu verabschieden, und Ibrahim versprach es ihnen.

      Einzig Betim zeigte wieder einmal kaum Anteilnahme. Auf Said wirkte er mittlerweile wie ein Fremdkörper in ihrer Familie. Hinzu kam, dass er auch Mersed immer mehr für sich vereinnahmte. Said fühlte sich ausgeschlossen. Sie hatten Geheimnisse, in die sie ihn nicht einweihten, und mieden seine Gesellschaft. Immer öfter sonderten sie sich ab. Und diese Entwicklung gefiel Said ganz und gar nicht.

      Drei Tage später erzählte Ibrahim nach dem Abendessen eine Geschichte des großen altpersischen Poeten Sadi. In der Mittelhalle um den Ofen herum versammelte sich die Familie. Ibrahim und Halil Agha nahmen auf dem Diwan Platz, während sich Said und Destegül mit ihrer Mutter um den Ofen kauerten.

       „Als Schah Nuschirewan mit seinem Gefolge durch sein Land zog, verirrten sie sich in eine Berggegend, die so einsam war, dass man selbst die armseligen Hütten der Schafhirten vergebens suchte. Der Koch des Königs lamentierte: ‚Erhabener Schah, meine Aufgabe ist es, Euren Gaumen zu erfreuen. Nur findet sich im Küchenzelt nicht einmal das winzigste Körnchen Salz, sodass jede Speise fad schmecken würde. Was also soll ich tun, erhabener Schah?‘ Nuschirewan antwortete: ‚Geh zurück in das nächstgelegene Dorf. Dort findest du einen Händler, der Salz verkauft. Aber achte darauf, dass du den üblichen Preis bezahlst, nicht mehr.‘ ‚Erhabener Schah‘, antwortete der Koch, ‚in Euren Truhen lagert mehr Gold als irgendwo sonst in der Welt. Was würde es Euch da schaden, wenn ich das Salz ein bisschen teurer erstehe?‘ Der König blickte ihn ernst an und sagte: ‚Es sind Kleinigkeiten, aus denen sich die großen Ungerechtigkeiten der Welt entwickeln. Kleinigkeiten sind wie Tropfen, die mit der Zeit zu einem großen See anschwellen. Die großen Ungerechtigkeiten der Welt nehmen in Kleinigkeiten ihren Anfang. Geh also los, und kauf das Salz zum üblichen Preis.‘“

      Ibrahim hielt kurz inne und Afife wartete gespannt, ob Ibrahim die Moral dieser Geschichte noch ergänzen und auf die Ereignisse der letzten Tage eingehen würde. Denn er hatte mit ihr drei Tage lang über eine wichtige Veränderung in ihrem Leben gesprochen. Was wohl die Kinder und sein Vater dazu sagen würden?

      „Warum erzähle ich euch diese Geschichte?“, fuhr er fort und beantwortete sich die Frage selber: „Gerechtigkeit ist eine hohe Tugend. Sie steht jedem Lehrer gut zu Gesicht, der seine Schüler bewertet. Und sie steht jedem Kadi gut zu Gesicht, der seine Urteile spricht. Am besten aber steht sie Sultanen zu Gesicht, die über ihre Untertanen herrschen. Bedauerlicherweise kommt es mir so vor, als würde diese Tugend in letzter Zeit immer