Said Gül

Machtkampf am Bosporus


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Untertanen Gerechtigkeit zu garantieren. Doch seine Macht, sie auch durchzusetzen, ist begrenzt. Dadurch besteht die Gefahr, dass sich hierzulande Kleinigkeiten zu großen Ungerechtigkeiten auswachsen. Was wir bräuchten, sind aufrichtige und uneigennützige Menschen, die sich ganz in den Dienst an der Gerechtigkeit stellen.“

      „Richtig, mein Sohn“, pflichtete Halil Agha ihm bei.

      „Und damit komme ich zu einem Entschluss, den ich mit Afife nach langem Überlegen in den letzten drei Tagen gefasst habe. Ich werde mich beim Kadi um die Stelle eines Hilfsrichters, eines Naib, bewerben.“

      Was er seinen Kindern jedoch vorerst nicht verriet, war, dass dieses Amt eine Ausbildung erforderte, die in einer entlegeneren Provinz des Osmanischen Reichs, zum Beispiel auf dem Balkan, absolviert werden musste. Und diese Ausbildung dauerte in der Regel drei bis vier Jahre. Sein Vater dagegen hatte sofort verstanden, dass sein Sohn jahrelang abwesend sein würde, als er den Brief gelesen hatte. Er machte ein sehr betrübtes Gesicht, als Ibrahim seine Entscheidung in der Runde verkündete, und setzte zu einem Protest an. Doch ihm ging den Nutzen eines solchen Dienstes durch den Kopf, der so wichtig für das Reich war, und schwieg sodann.

      „Hast du die Entscheidung während deiner Dienstreise getroffen?“ wollte Destegül von ihrem Vater wissen.

      „Nein, meine Liebe.“ Ibrahim hatte sich vorgenommen, die Wahrheit in die Gesichter seiner Kinder auszusprechen. Auch wenn es sie schmerzen würde, wollte er von ihnen nichts verheimlichen. „Nicht die Dienstreise, sondern eine tagelange Vernehmung war der Grund meiner Abwesenheit.“

      Said riss erstaunt seine Augen weit auf. „Eine Vernehmung? Hast du etwas angerichtet?“

      „Nein, Said. Ein Missverständnis. Aber es ist wieder gut.“ bändigte Ibrahim das Erstaunen seiner Kinder.

      „Aber was wurde denn missverstanden?“ hakte Destegül nach. Betim war gereizt, während dieses Thema besprochen wurde. Irgendwie und irgendwann würde man ihm schon auf die Spur kommen, dachte er sich. Er versuchte sein Zappeln zu dämpfen.

      „Die Stiftung wurde ausgeraubt. Das ganze Geld wurde aus der Holzschatulle entwendet. Mich und Garbis hat ein Hilfsrichter, der nicht einmal dafür beauftragt wurde, verhört und zu den Tätern erklärt.“

      „Nein. Wer wagt es, in die Stiftung einzudringen und wie kann man dich beschuldigen?“, fragte Destegül.

      „Das weiß ich nicht, mein Kind“, entgegnete ihr Ibrahim. Betim nahm sich vor, ins Nebenzimmer zu gehen, um seinen inneren Aufruhr nicht zu zeigen. Ließ es jedoch sein, um keinen Verdacht zu erregen. Er tat sich schwer, ruhig zu bleiben.

      „Als Müderris verdiene ich zwar mit sechzig Akçe pro Tag einigermaßen gut, aber wenn die Gerechtigkeit abhandenkommt, bringen mir die auch nicht viel. Dann werden sie sich genauso schnell in Luft auflösen wie jetzt die Ersparnisse der Stiftung.“

      „Wie viel Geld ist denn weggekommen?“

      „Eine Summe, für die ich ungefähr drei Jahre arbeiten müsste.“

      Said sah ihn mit großen Augen an, während Betim zu Boden starrte. Um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, sagte er:

      „So viel Geld werde ich wohl meinen Lebtag lang nicht zu Gesicht bekommen. Oder was verdient ein Janitschar, Halil Agha?“

      „Wenn du es bis zum Agha bringst, so wie ich, vierhundertfünfzig Akçe pro Tag“, klärte Halil Agha ihn auf.

      „Immerhin viel mehr als ein Müderris“, konstatierte Betim, woraufhin Ibrahim ihn umgehend zurechtwies:

      „Nicht was du verdienst, ist wichtig, Betim, sondern was du dafür leistest. Wenn mir meine Studenten für das Wissen, das ich ihnen vermittle, dankbar sind, nehme ich dafür gern die größten Mühen in Kauf. Ihre Dankbarkeit ist mir mehr wert als alles Geld, das ich verdiene.“

      Betim nickte kurz, als würde er zustimmen. In Wirklichkeit aber war ihm diese Einstellung ein Graus. Was interessiert mich die Dankbarkeit der Leute, dachte er sich, lieber werde ich reich. Leere Worte machen mich nicht satt, Geld dagegen schon.

      „Und wie soll es jetzt mit der Stiftung weitergehen, mein Sohn?“, kam Halil Agha noch einmal auf den Diebstahl zurück. „Das Geld wird euch doch an allen Ecken und Enden fehlen.“

      „Ja, sicherlich. Aber vor gar nicht allzu langer Zeit standen wir schon einmal vor dem Aus. Mit der Unterstützung unseres Schöpfers und aller Bewohner unseres Viertels werden wir es auch diesmal wieder schaffen. Zum Glück vertrauen uns die Menschen ja anscheinend noch. Außerdem habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Diebe noch gefasst und bestraft werden. Das Geld gehört der Allgemeinheit. Auch wenn die Viertelbewohner uns ihr Vertrauen schenken, möchte jeder im Viertel, dass das Geld wiedergefunden wird. “

      „Möge Gott es euch vergelten, mein Sohn. Ich werde euch immer mit Rat und Tat zur Seite stehen.“

      „Danke Vater. Das habe ich gehofft. Wir Osmanen halten zusammen, wir lassen die Armen und Bedürftigen nicht allein.“

      Nachdem Afife den Kindern die Betten gerichtet hatte, dauerte es nicht lange, bis Betim und Destegül eingeschlafen waren. Said hingegen lag noch lange wach. Die Frage, wer hinter der Verurteilung seines Vaters steckte und wie es mit der Stiftung weitergehen sollte, trieb ihn um. Und dann war da auch noch das Schnarchen seines Großvaters im Nebenzimmer. Doch nach einer Weile fielen auch ihm die Augen zu.

      Kapitel 8

      Zwei Tage später kam Said aus der Schule nach Hause. Er grüßte seine Mutter im Hof des Konaks. Afife saß vor dem großen Kamin und backte Brote für das Abendessen. Nicht immer kauften sie fertige Fodlas vom Bäcker, sondern sorgten meistens selber für ihr leibliches Wohl.

      Sie war verschwitzt vom feuerspeienden Kamin und grüßte Said zurück.

      „Mama, ist Großvater zu Hause?“, fragte er.

      „Ja“, erwiderte ihm Afife.

      Er hockte sich zuerst neben seine Mutter und genoss ein frischgebackenes Fladenbrot mit ein Stück Käse. Sodann stieg er die Treppen in die Mittelhalle hinauf und sah seinen Großvater auf dem Diwan sitzen.

      „Na, mein Sohn, wie war es heute in der Schule?“, wollte Halil Agha wissen.

      „Gut, wie immer Großvater“, sagte Said und äußerte sein Anliegen: „Ich möchte heute wieder in den Mewlewi-Konvent. Nimmst du mich mit?“

      „Warum nicht? Ich habe heute genug in meinem Buch gelesen“, antwortete ihm Halil Agha. „Warte, bis ich mich fertiggemacht habe.“

      Gemeinsam machten sie sich auf, schritten am Galata-Turm vorbei und bogen in die Straße zum Konvent ab. Said freute sich, seinen Freund Prinz Selim wiederzusehen. Im Hof des Konvents erkannte Said die Kutsche, die Prinz Selim hierher brachte.

      „Er ist schon da, Großvater“, bekundete Said seine Freude.

      „Wer denn mein Sohn?“, wollte Halil Agha wissen.

      „Mein Freund. Selim.“

      „Aah, unser Prinz“, sagte sein Großvater.

      „Ja. Er muss seinen Platz schon eingenommen haben. Wir sollten uns beeilen, damit ich noch neben ihm sitzen kann“, hastete Said.

      „Auch wenn seine Flanken besetzt sind, wird der Prinz seinem besten Freund doch Platz machen. An deiner Stelle würde ich mir keine Sorgen machen“, beruhigte ihn sein Großvater.

      „Du hast Recht, Großvater“, sagte Said und ging langsamen Schritts in die Semahane, das Hauptgebäude im Konvent, in dem die rituellen Tänze dargeboten wurden.

      Im Publikum war der Prinz einfach zu erkennen, weil er einen gesonderten Platz zugewiesen bekam und von einer Leibgarde umkreist war. Selim bemerkte seinen Freund und winkte Said zu.

      „Grüß dich, Said“, sagte Selim.

      „Eure