Said Gül

Machtkampf am Bosporus


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einer von Euch Schulden, die er dringend zurückzahlen musste?“, hakte der Hilfsrichter weiter nach. Auch Salih Hodscha hatte er diese Frage schon gestellt. Aber nicht zuletzt deshalb, weil er es gewesen war, der den Diebstahl angezeigt hatte, hatte der Hilfsrichter ihn schnell als Dieb ausgeschlossen.

      „Was wollt Ihr damit sagen, Euer Ehren? Wir engagieren uns doch schon seit Jahren für die Stiftung, ohne uns dafür bezahlen zu lassen. Gerade in den letzten Jahren haben wir ihr unendlich viel freie Zeit geopfert“, verteidigte sich Ibrahim empört, und Garbis geriet schier außer sich:

      „Dass wir uns bereichert haben sollen, kann nicht Euer Ernst sein. Die Menschen in diesem Viertel kennen uns von Kindheit an. Ich kenne keinen ehrlicheren und aufrichtigeren Menschen als Ibrahim. Er ist ein Vorbild für uns alle und lehrt die islamischen Wissenschaften in der Medrese. Wie könnt Ihr ihm da einen Diebstahl unterstellen?“

      „Das ist mir bereits zu Ohren gekommen. Doch wenn ich Ihn ausschließen würde, würde nur noch ein Verdächtiger übrigbleiben, nämlich Ihr, Garbis, sein Stellvertreter.“

      „Ich weiß wirklich nicht, wohin dieses Gespräch führen soll, Euer Ehren, und was Ihr mit diesen Unterstellungen beabsichtigt. Aber Ibrahim und ich würden jeden Eid bei Allah und der heiligen Maria schwören, dass wir nichts mit diesem Diebstahl zu tun haben“, setzte sich Garbis verzweifelt zur Wehr.

      „So leid es mir tut, als Verantwortliche der Stiftung muss ich Euch beide festnehmen. Denn wie man es auch dreht und wendet - die Stiftungsgelder wurden Euch anvertraut, und nun sind sie nicht mehr da. Wie könnte ich Euch also von Schuld freisprechen?“ Ohne weitere Widerrede zuzulassen, befahl er den Soldaten: „Abführen!“

      Kapitel 7

      Salih Hodscha eilte zur Schule zurück, um den Unterricht fortzusetzen. Doch weil die Untersuchung ihm keine Ruhe ließ, wies er seinen Mülasim schon kurz darauf an, ihn für den Rest des Tages zu vertreten.

      Said wunderte sich sehr, als Salih Hodscha ihn, ohne irgendeinen Grund zu nennen, vom Unterricht freistellte und nach Hause schickte. Vielleicht wussten seine Eltern ja warum; aber bevor er sie fragen konnte, musste er sie erst einmal finden.

      Betim verriet ihm, dass Lisias und Daphne seine Eltern nach der Messe noch zum Kaffeetrinken eingeladen hatten; allerdings habe sein Vater vorher wohl noch etwas in der Stiftung zu erledigen gehabt. Also klopfte Said bei ihren griechischen Nachbarn.

      „Was machst du denn hier, Said? Ist die Schule schon aus?“, fragte die überraschte Afife ihren Sohn.

      „Für mich schon, ich durfte früher gehen.“

      „Wieso denn das?“

      „Salih Hodscha hat mich nach Hause geschickt. Ich weiß nicht warum.“

      Afife stutzte. Plötzlich fiel ihr wieder ein, wie aufgeregt Sami gewirkt hatte, als er vorhin vor seinem Kaffeehaus auf sie zugekommen war. Und abgesehen davon hatten Tamar und sie sich auch schon gefragt, wo ihre Männer eigentlich blieben. Kurz entschlossen schärfte sie Said ein, bei Lisias und Daphne zu bleiben, verabschiedete sich und ging zur Stiftung hinüber.

      „Wisst ihr, wo ich meinen Mann finde?“, fragte sie zwei Pflegerinnen, die ihr im Hof entgegenkamen.

      „Ibrahim und Garbis sind von zwei Soldaten abgeführt worden“, berichteten sie ihr mitfühlend.

      Afife glaubte sich verhört zu haben.

      „Abgeführt? Was soll das heißen?“, fragte sie entsetzt. „Warum und wohin?“

      In dem Moment sah sie Salih Hodscha um die Ecke kommen und lief sofort zu ihm.

      „Salih Hodscha, verratet mir bitte, was hier los ist!“

      „Bitte beruhige dich, Afife! Ich weiß nicht, was dahinter steckt, aber als ich heute Morgen für die Stiftung eine Rechnung begleichen wollte, war plötzlich kein Geld mehr in der Kasse. Ibrahim und Garbis hielten sich ja in der Kirche auf. Also sah ich mich gezwungen, den Kadi zu informieren. Allerdings traf ich ihn in seinem Konak nicht selbst an. Gerade setzte ich zum Gehen an, als mich ein Mann in Dienstkleidung ansprach.

      ‚Ist der Kadi zu Hause?‘, wollte er von mir wissen.

      Ich verneinte und sagte, dass auch ich nach dem Kadi suchte.

      ‚Haben Sie ein Anliegen? - Ich bin ein Naib‘, stellte der Mann sich vor. Er war also Stellvertreter des Kadi und war gekommen, um den Kadi nach einem neuen Auftrag zu fragen. Kurzerhand schilderte ich ihm den Fall in der Stiftung und er kam mit mir.

      Der Hilfsrichter leitete eine Untersuchung ein und befragte mich in aller Ausführlichkeit. Kurz darauf stießen dann auch Ibrahim und Garbis zu uns, und der Hilfsrichter schickte mich weg. Als ich dann später wieder zurückkam, sagte man mir, die beiden seien auf Befehl des Naib zum weiteren Verhör an einen unbekannten Ort gebracht worden. Daraufhin bin ich sofort zum Amtszimmer des Kadis gelaufen, um mich nach ihnen zu erkundigen. Aber ich habe ihn nicht angetroffen. Und auch sonst konnte mir niemand dort etwas Genaueres sagen.“

      „Das darf doch nicht wahr sein. Ich werde selbst dorthin gehen und solange vor seiner Tür auf ihn warten, bis er kommt und mir sagt, wo ich meinen Mann finde.“

      „Gut. Ich werde dich begleiten, und dazu verständigen wir auch Halil Agha. Er genießt hohes Ansehen beim Kadi.“

      Halil Agha, der in diesem Moment im Kaffeehaus von Sami weilte, war genauso schockiert wie seine Schwiegertochter, versäumte es aber nicht, ihr Mut zuzusprechen.

      „Mach dir keine Sorgen, Afife. Wir werden schon nicht mit leeren Händen nach Hause gehen“, beschwichtige Halil Agha sie.

      „Gott steh uns bei“, erwiderte Afife.

      Wie sich zeigte, mussten sie sich länger gedulden als ihnen lieb war. Dann endlich kam der Kadi zurück und bat Salih Hodscha und Halil Agha in sein Amtszimmer. Afife wartete draußen vor der Tür, wie es die Umgangsformen verlangten.

      „Euer Ehren, wir kommen wegen meines Sohnes Ibrahim und unseres Nachbarn Garbis“, sagte Halil Agha und berichtete dem Kadi kurz, was vorgefallen war.

      „Der Hilfsrichter und zwei Soldaten haben sie weggebracht, und wir wissen nicht wohin“, bekräftigte Salih Hodscha.

      „Der Hilfsrichter?“, wunderte sich der Kadi. „Seit einer Woche habe ich keine Dienste eines Hilfsrichters mehr in Anspruch genommen. Die wenigen Angelegenheiten, die ich zu regeln hatte, habe ich selbst erledigt. Das kann ich mir nicht erklären.“

      „Was hat das zu bedeuten? Wo sind Garbis und mein Sohn jetzt?“, insistierte Halil Agha.

      „Ich weiß es nicht, aber ich kümmere mich darum“, sagte der Kadi. „Vielleicht handelt es sich ja nur um ein Missverständnis. Ich benachrichtige Euch, sobald ich Näheres in Erfahrung gebracht habe. Dass Ibrahim etwas mit dem Verschwinden des Geldes zu tun hat, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“

      Als Halil Agha und Salih Hodscha das Amtszimmer des Kadis verließen, waren sie alles andere als beruhigt, aber mehr konnten sie im Moment nicht tun.

      Afife genügte ein Blick in ihre Gesichter, um zu erkennen, dass ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt gewesen waren. Sie verzehrte sich fast vor Sorge, und nur sehr langsam gelang es ihr, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Hauptsorge galt ihren Kindern. Was sollte sie ihnen sagen, wenn sie wissen wollten, wo ihr Vater war?

      Halil Agha bestärkte sie darin, ihnen vorerst nichts von dem Vorfall zu erzählen. Das Beste würde sein, sie davon zu überzeugen, dass Ibrahim überraschend für einige Tage auf Dienstreise gehen musste; so kurzfristig, dass er sich nicht von ihnen hatte verabschieden können. Aber würden sie ihnen das auch glauben?

      In der Tat überfiel Said seinen Großvater schon an der Haustür.

      „Großvater, warum bin ich aus der Schule nach Hause geschickt worden? Und wo ist Vater, was ist mit ihm?“

      „Vielleicht