Said Gül

Machtkampf am Bosporus


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im Konvent, in denen Said seinen Freund nie unter vier Augen sprechen konnte, wählte er immer die höfliche Anrede. Einen Jungen, der ein Jahr jünger war als er und den er schon seit Jahren kannte, würde er gerne duzen, aber der Anstand verbot es, in der Öffentlichkeit so mit einem Prinzen umzugehen. Selim dagegen war gelassener und rief Said bei seinem Namen.

      In diesem Augenblick betraten die Derwische das Parkett und stellten sich in einer Reihe auf. Das Publikum gab keinen Ton von sich und schaute sich das Ritual an, das soeben begann. Nacheinander legten die Derwische ihre schwarzen Umhänge ab und gingen auf den Scheich zu, der zuvor auf einem roten Fell saß und sie im Stehen empfing. Der Scheich symbolisierte den Mittelpunkt der Welt, den die im spirituellen Sinne verstorbenen Geister erreichen. Der Umhang, der das Grab darstellte, wurde ausgezogen, und die weiten, weißen Gewänder kamen als Leichentücher zum Vorschein. Damit wurden die Toten wiedergeboren. Mit den hohen braunen Kopfbedeckungen, die den Grabstein des Ichs darstellten, bekamen die Derwische die Segnung vom Scheich als Zeichen für die Auferstehung aus dem Grab, und begannen zum Klang der Ney um die eigene Achse zu kreisen.

      In den Drehbewegungen fanden die Derwische die Einheit Gottes und erreichten in der Ekstase das endgültige Entwerden.

      „Weißt du, warum die Derwische ihren rechten Arm anheben und die Handfläche nach oben drehen?“, fragte Selim seinen Freund.

      „Nein, wieso?“

      „Ich habe es mir erklären lassen. Die Derwische zeigen damit ihre Bereitschaft, die Gunstbeweise Allahs entgegenzunehmen“, berichtete der Prinz.

      „Und was macht dann die linke Hand?“, fragte Said nach.

      „Na, mit dem linken Arm, der weiter unten bleibt, und der linken Handfläche, die nach unten zeigt, wird diese Gunst an die Schöpfung weitergegeben. Der Derwisch umschließt mit der Öffnung seiner Arme zudem noch die ganze Menschheit mit der Liebe des Schöpfers.“

      „Eigenartig. Hätte ich nicht gedacht“, bemerkte Said.

      Nach der Vorführung blieben Said und Selim noch eine Weile sitzen und unterhielten sich über die Drehungen der Derwische. Der Junge, den sie bei ihrer ersten Begegnung auf dem Parkett gesehen hatten, tanzte danach noch einige Male, jedoch bekamen sie ihn hinterher nie zu Gesicht, weil ihm nach dem Ritual die Zeit für irdische Gespräche fehlte. Seit Monaten hatte er sich nicht mehr auf der Tanzfläche gezeigt.

      „Anfangs drehte sich der Junge jede Woche. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen“, klagte Selim.

      „Stimmt, Eure Hoheit. Ich würde ihn auch gerne kennenlernen und nach seinen Gefühlen fragen, was er bei den Drehungen erlebt“, äußerte sich Said.

      „Eure Hoheit?“, hörte sie hinter sich sagen. Als beide sich umdrehten, erkannten sie einen Jungen, der im gleichen Alter zu sein schien wie sie.

      „Wer bist du?“, fragte Selim.

      „Ich bin der Junge, den Sie schon immer sehen wollten. Soeben hörte ich, dass Sie mich vermissten und nach mir suchten“, sagte der Junge.

      „Du bist es also“, gab der Prinz seine Freude kund. Auch Said freute sich sehr und rückte einen Platz weiter, damit der Junge sich zwischen ihm und dem Prinzen setzen konnte.

      „Dann verrate uns mal bitte deinen Namen, kleiner Derwisch“, verlangte Selim.

      „Ich heiße Mehmet Esad“, stellte sich der Junge vor.

      „Du tanzt aber sehr gut, Mehmet Esad. Hast du das hier gelernt?“, wollte Selim wissen.

      „Mein Großvater und mein Vater gehören auch zu den Mewlewiten. Es wurde für mich auch zu einer Leidenschaft, Eure Hoheit, und ich fing an, mich mit ihnen zu drehen.“

      „Aber, wo warst du so lange? Wir besuchen den Konvent fast jede Woche und sehen dich seit Monaten schon nicht unter den Drehenden“, sagte Selim.

      „In meinem Alter muss ich nicht immer den Tanz mitmachen. Ich werde auch in der Literatur und den Geisteswissenschaften erzogen. Für meine Gedichtproben muss ich mir auch Zeit nehmen“, sagte Mehmet Esad.

      „Was? Du dichtest auch?“, staunte Selim.

      „Ich versuche es zumindest, eure Hoheit“, sagte er bescheiden. „Was soll aus meinen Gedichten schon werden?“

      „Da denkst du aber falsch. Jeder großer Poet hat als Kind angefangen. Ich neige auch zu Dichtungen und zum Flötenspielen. Mal sehen, was aus mir wird?“, sagte Selim.

      „Sie werden später unser Sultan Selim, eure Hoheit“, sagte Mehmet Esad.

      „Das schon, aber jeder meiner Vorfahren besaß noch künstlerische Begabungen. Nur als Sultan zu regieren, reicht nicht. Um die Kunst und den Künstler zu fördern, muss der Sultan es wertschätzen. Das kann er nur, wenn er selber ein Künstler ist“, erklärte ihm Selim.

      „Sie haben Recht, eure Hoheit“, stimmte Mehmet Esad dem Prinzen zu.

      „Wann können wir dich wieder treffen, Mehmet Esad?“, mischte sich Said in dem Augenblick ins Gespräch.

      „Wenn Sie möchten, jede Woche, wenn Sie hierher kommen. Ich komme schlecht von hier weg, weil ich einer harten Ausbildung nachgehen muss. Meine Scheichs sehen eine große Zukunft in mir. Deshalb setzen sie alles daran, mich bestmöglich zu fördern.“

      „Da haben deine Scheichs Recht. Ich würde dich auch nicht in Ruhe lassen. Gerade wo du so talentiert bist“, lobte Selim seinen neuen Freund.

      „Ich danke Ihnen für Ihre Einschätzung, eure Hoheit“, bedankte sich Mehmet Esad.

      Halil Agha, der hinter Said Zeuge des Gesprächs seines Enkels und des Prinzen mit dem kleinen Tänzer wurde, bedeutete Said, sich zu verabschieden. Said schaute sich um und bemerkte den leeren Saal. Er, seine zwei Freunde, die Leibgarde des Prinzen und sein Großvater bildeten einzig das Publikum. Die Zuschauer verließen bereits die Semahane.

      „Dann lasst uns auch aufstehen und gehen“, schlug Selim vor. Alle standen auf und verließen den Saal. Im Hof stieg Selim in die Kutsche ein, zwei Soldaten seiner Leibgarde bildeten die Vorhut der Eskorte und vier weitere folgten dem Wagen. Selim lugte aus der Öffnung der Kutsche und winkte seinen Freunden zu. Said und Mehmet Esad machten es ihm nach, bis die Kutsche den Hof verließ. Said wandte sich an Mehmet Esad:

      „Ich hoffe, wir sehen uns nächste Woche wieder.“

      „Das hoffe ich auch, Said“, entgegnete ihm der Junge.

      „Vielleicht lerne ich das Tanzen auch. Dann bestimme ich dich als meinen Scheich“, sagte Said. Mehmet Esad lächelte dabei und sagte:

      „Ein Scheich wird aus mir bestimmt nicht, aber du kannst bestimmt so tanzen wie ich.“

      Sie umarmten sich und gingen dann auseinander.

      Als Said mit seinem Großvater den Hof des Konvents verließ, drehte sich Halil Agha zu seinem Enkel um und sagte:

      „Mein Sohn, wie unser Prinz vorhin sagte, kann ein Sultan gleichzeitig ein Künstler sein. Er kann Kalligraphie beherrschen und auch musizieren. Wenn du aber ein Janitscharen-Agha werden willst, wird es sehr schwer mit dem Tanz. Wenn du fest entschlossen bist, unserem Reich als ein Soldat zu dienen, dann solltest du dir den rituellen Tanz aus dem Kopf schlagen. Du kannst nicht zwei Herren dienen“, wies ihn Halil Agha zurecht.

      Said schaute zu seinem Großvater hoch und wiederholte seine Entscheidung:

      „Ich werde ein Janitschar sein, und davon kann mich nichts abhalten.“

      Kapitel 9

      An einem sonnigen Vormittag bediente ein ordentlich angezogener Beamter den großen Türklopfer am Tor des Konaks von Ibrahim. Halil Agha lugte aus dem Fenster und erkannte den Beamten. Es war ein Bote im Staatsdienst. Er stieg die Treppe hinunter und machte die Tür auf.

      „Ja, bitte mein Herr?“, grüßte Halil Agha den Beamten.