Said Gül

Machtkampf am Bosporus


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seinen Verzicht in der Runde mitteilen. Seit einigen Jahren hatte er eine Liebe zu seiner Längsflöte entwickelt, deren Klang er zum ersten Mal im Mewlewi-Konvent zu Galata gehört hatte. Inzwischen spielte er selber darauf. Die Gelehrten in der Palast-Schule Enderun lehrten ihn auch die Feinheiten der Kalligraphie, sodass er auch den Umgang mit dem Schreibrohr gut beherrschte. Er sah seine ganze Welt, die aus Musik und Kunst bestand, gefährdet, sollte er sich auf dem Thron mit den blutigen Auseinandersetzungen seines Reiches gegen die Russen und Österreicher beschäftigen. Das Blut der Soldaten auf dem Schlachtfeld durfte die harmonischen Klänge der mystischen Musik, die er spielte, und die Schriften, die sein Wesen mit einer umfassenden Zufriedenheit erfüllten, nicht überschatten.

      Sein Onkel ergriff das Wort in der Runde, die neben den acht Wesiren und dem Kaimakam des Großwesirs Köse Musa, noch aus dem Janitscharen-Agha, dem Großadmiral, dem Scheichulislam und vier weiteren hochrangigen Paschas zusammensetzte, von den Schriftführern abgesehen. Der Großwesir weilte gerade auf der Halbinsel Krim, wo er kurz vor der Beendigung des osmanisch-russischen Krieges stand.

      „Verehrte Staatsratsmitglieder. In Anbetracht der Tatsache, dass uns mein Bruder heute Morgen für immer verließ, sind wir berufen, einen neuen Sultan zu wählen. Gerade in Zeiten wie diesen, die mit Kriegen und innerem Aufruhr nicht mehr zu ertragen sind, brauchen wir einen klaren Kurs, der nur durch eine starke Regierung zu erreichen ist. Seit sechs Jahren führen wir Krieg gegen die Russen und haben in dieser Zeit immense Territorialverluste hinnehmen müssen. Fast der gesamte Balkan ist uns aus den Händen geglitten. Im Inneren dagegen haben die vielen Reformen meines Bruders, die dazu dienen sollten, das Militär und die Jurisdiktion zu verbessern, keine bedeutenden Früchte geliefert. Wir ernähren immer noch Janitscharen, die alle drei Monate ihren Sold erhalten und dafür keinen Dienst erweisen, dafür aber die Stadt plündern und das soziale Leben bedrohen. Unsere Infanterie wurde vom Schrecken des Abendlandes zur Plage unseres Reiches. Die Frevler in der Bürokratie tun es den Soldaten nach. Dagegen brauchen wir Reformen und Männer, die diese zielgerecht umsetzen. So wie Sie meine Herren, so wie einige gutmütige, verantwortungsbewusste Bürokraten in unserem Reich, so wie der treue Khan der Khanats Krim Sahib Giray, und so wie unser französischer Freund Francois Baron de Tott.“

      Selim hörte den zuletzt erwähnten Namen zum ersten Mal und überlegte, ob er nachfragen oder es lieber sein lassen sollte. Schließlich unterbrach er seinen Onkel, denn die anderen Entwicklungen, die sein Onkel ansprach, kannte er bereits.

      „Selim, der Mann, den ich erwähnte, kam vor vier Jahren nach Istanbul, bevor er uns zwei Jahre lang auf der Krim nützliche Dienste gegen die Russen erwies. Er ist ein französischer Militärakademiker und gründete hier die Marineschule, in der er weiterhin Mathematik für Werftingenieure unterrichtet. Er bildet qualifizierte Marinesoldaten aus und entwickelte selber Artilleriegeschosse, die wir gegen die Russen eingesetzt haben. Noch Fragen?“

      „Nein, Onkel“, antwortete Selim. Sein Onkel fuhr fort und zog seine Rede in die Länge, während Selim sie lieber zügig über die Bühne gebracht hätte, um sich mit seiner Flöte zu vereinen. Die Regierungsgespräche bedrückten ihn allmählich, und er dachte an die Qual, der er ausgesetzt wäre, sollte er Sultan werden. Gott möge ihn davor beschützen.

      „Onkel“, unterbrach Selim erneut. Alle Blicke richteten erneut auf ihn.

      „Ich weiß nicht, was mein Bruder darüber denkt, aber ich verzichte auf den Thron und denke, dass du die richtige Person für die Aufgaben bist, die du vorhin aufgezählt hast. Du bekommst auch seit Jahren viel mit von den Regierungsgeschäften und bringst die notwendige Erfahrung mit.“ Auch wenn Abdulhamid jahrelang unter der strengen, höfischen Kontrolle seines Vorgängers im sogenannten Kafes abgeschottet lebte, erfuhr er von den Entwicklungen im Land. Sein Bruder, der dritte Thronanwärter, folgte dem Beispiel Selims und gab die Fahne an seinen Onkel weiter.

      „Meine Herren“, sagte Abdulhamid, „kein Kandidat für das Sultansamt darf von anderen beeinflusst werden. Ich habe meine Neutralität bewahrt und meinen Neffen die gleiche Chance gegeben. Sie bekundeten jedoch ihren Verzicht auf den Thron, sodass uns eine Wahl zwischen drei Anwärtern erspart bleibt. Äußern Sie bitte Ihre Meinungen dazu.“

      „Lang lebe Sultan Abdulhamid ... lang lebe Sultan Abdulhamid“, riefen die Ratsmitglieder, und ernannten damit den Selims Onkel zum neuen Sultan der Osmanen.

      Diese schlagartige Ernennung des neuen Sultans zugunsten von Abdulhamid bereitete Köse Musa diebische Freude. Denn er, der neue Sultan, brachte nicht die Tatkraft mit, die er in seiner Rede von seinen Weggefährten forderte, sondern würde alsbald zu seinem Spielball werden. Sein verstorbener Bruder war entschlossen bei der Umsetzung der Reformen gewesen. Er jedoch war von untertäniger Natur.

      Selim hatte die Durchsetzungskraft und Beharrlichkeit von seinem Vater geerbt, die man schon jetzt von seinem Gesicht ablesen konnte, obwohl er erst dreizehn Jahre alt war. Wäre der kleine Prinz in diesem Zustand Sultan geworden, hätte Köse Musa schlechte Karten gehabt. Er hätte nicht so freizügig seine Intrigen spinnen können. Nach seinem Onkel wäre er dran, und bis dahin sollte er die Beschränktheit und Abschottung des Kafes-Lebens spüren, damit er auch im gleichen Maße wie der Neugewählte ein ineffizienter Herrscher sein würde.

      Nach der Ratssitzung begab sich Selim in seine Kammer und kniete mit angezogenen Beinen auf seinem Diwan. Er suchte nach den richtigen Tönen auf seiner Flöte, um die Trauer um seinen verstorbenen Vater auszudrücken. In diesem Moment klopfte es an der Tür und seine Mutter, die Walide Sultan, bat ihn um Eintritt. Er hing seine Flöte wieder an den Nagel in der Wand und blickte mit feuchten Augen auf seine Mutter. Erst mit ihrer Anwesenheit bemerkte er den Fehler, den er begangen hatte, den Trost nicht bei seiner Mutter, sondern bei seiner Flöte gesucht zu haben. Schließlich brauchte auch sie in so einem Zustand die Nähe ihres Sohnes.

      „Mein liebster Prinz. Es ist schwer, in so einer prekären Lage zu reden. Aber du weißt es genauso gut zu schätzen wie ich, was das für uns bedeutet. Wir müssen stark sein. Dein Onkel wurde soeben zum neuen Herrscher gewählt.“

      „Woher weißt du das, Mutter?“, fragte sie Selim.

      „Aus dem Gemach der Sultansfrauen öffnete sich eine Aussparung zum königlichen Ratssaal, von der aus ich alles verfolgen kann. Diese Öffnung ist gitterartig und ist so beschaffen, dass ich alles sehe und höre, aber die Ratsmitglieder mich nicht sehen und, wenn ich nicht rede, auch nicht hören können.“

      „Du belauschst also die Regierungsgespräche ohne die Kenntnis dieser Männer?“, fragte Selim und zeigte seinen Unmut.

      „Die Frauen der Sultane waren dazu berechtigt, und dein Vater hatte es mir auch erlaubt, sowie unsere Vorfahren ihren Frauen. Außer der Walide Sultan durfte sonst niemand den Gesprächen zuhören.“

      „Hast du auch Einfluss auf die Gespräche, wenn dir etwas nicht gefällt, Mama?“

      „Nein, mein Kind. Aber ich denke, wir sollten jetzt nicht über diese Angelegenheit reden. Was würden die Menschen über uns denken, wenn sie hörten, dass wir am Sterbetag deines Vaters über das Belauschen des Rats hinter den Gittern redeten?“

      „Stimmt, Mama.“

      „Du hast in der Sitzung deinen Verzicht auf den Thron erklärt“, fügte Walide Sultan hinzu.

      „Jawohl Mama. Regieren steht mit meiner Natur nicht in Einklang. Ich widme mich lieber meiner Musik und der Kunst der Schönschrift. Nur sie fördern meine Glückseligkeit.“

      „Aber denk daran, dass irgendwann dein Onkel auch sterben wird und du oder dein Bruder dieses Land regieren werdet. Schließlich habt ihr beide euch in der Palast-Schule Enderun das erforderliche Wissen angeeignet. Du kannst nicht einfach dieser Verantwortung entfliehen“, predigte sie ihm.

      „Ich kann ab und zu an den Sitzungen teilnehmen, um mich auf dem Laufenden zu halten, und beschäftige mich dann wieder mit meiner Musik“, sagte Selim.

      „Ob das für dich ab heute so einfach sein wird, bezweifle ich, mein Kind“, äußerte sich Walide Sultan.

      „Warum das, Mama?“

      „Weil dein Onkel dich ab heute in