Said Gül

Machtkampf am Bosporus


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zu einer jungen Frau heranwuchs? Gerade in diesem Alter brauchte sie doch die Fürsorge und Unterstützung ihres Vaters.

      Nachdem sich viele Menschen von Ibrahim verabschiedet hatten, näherten sich Garbis und David ihrem treuen und geschätzten Nachbarn. Auch Lisias schloss sich ihnen an und kam auf ihn zu. Sogar der vielbeschäftigte Bäcker Emrullah ließ seinen Steinofen abkühlen, um diese Abschiedszeremonie nicht zu verpassen.

      „Gott gebe dir Kraft.“

      „Denk immer an uns und schreib immer wieder.“

      „Mach dir keine Sorgen um deine Familie.“

      Es hallten Abschiedswünsche und -sprüche auf dem Platz, und jeder beteiligte sich an dieser rührenden Szene.

      Said, umgeben von Eleftheria und Hagop, dachte an die vier Jahre und rechnete aus, dass er seinen Vater erst mit sechzehn Jahren wiedersehen würde. Bis dahin würde er die Schule abschließen und sich in die Rekrutenkorps der Janitscharen einschreiben lassen. Auch seine Freunde Eleftheria und Hagop würden in ihren Schulen ein Abschlusszeugnis erhalten. Was aus Mersed und Betim werden sollte, interessierte ihn weniger. Sie waren für ihn Faulpelze, die nur an Unfug dachten. Aber Stavros, der kleine Bruder von Eleftheria, den er besonders schätzte, würde in der Schule vorankommen. Diese Gedanken wischten die Besorgnis in Said weg. Schließlich waren ja noch seine und die Familie seines Onkels da. Nicht zuletzt ließen ihn auch die anderen im Viertel seinen Kummer schnell vergessen. Garbis, Lisias, David, Sami, Hüseyin und all die anderen. Sie waren eine Familie. Sogar eine sehr große Familie. Wozu diente eigentlich ein Wohnviertel, wenn die Menschen nicht in guten wie schlechten Zeiten füreinander da waren? Er würde seinen Vater vermissen, aber die große Familie, die hinter ihm stand, würde ihn jederzeit auffangen.

      Kapitel 10

      Die Hohe Pforte, 1774

      In den Morgenstunden eines kalten Freitags im Januar begab sich Prinz Selim mit seiner Mutter Walide Sultan, seiner Amme und einer aus einem Dutzend Soldaten bestehenden Eskorte in die Eyüp-Moschee, um Bittgebete auszusprechen. Nicht nur die Königlichen besuchten freitags das neben der Moschee befindliche Grabmal des großen Märtyrers Eyüp, eines Weggefährten des Propheten, der für die Eroberung dieser Stadt vor über zehn Jahrhunderten in den Sattel gesprungen war und hier den Tod gefunden hatte. Walide Sultan suchte in letzter Zeit öfter diesen Ort auf, um für ihren Ehemann, den Sultan Mustafa, der seit Tagen im Sterbebett lag, zu beten. Als die Kutschenpferde gegen Mittag durch das großherrliche Tor des Palastes in den ersten Hof galoppierten, ahnte Walide Sultan Schlimmes. Der Bote des Hofes sah die Sultansfrau hereinkommen und eilte zu ihr. Er beugte sich ehrerbietig vor ihr und dem kleinen Prinzen und bekundete schluchzend sein herzzerbrechendes Anliegen.

      „Walide Sultan, euer Ehren. Unser Herr, Sultan Mustafa, nahm vor kurzem Abschied von uns. Seit einer Stunde suche ich nach Ihnen.“

      Walide Sultan und Selim fühlten sich wie vom Blitz getroffen und wollten dieser Nachricht keinen Glauben schenken. Sie hielt kurz inne und äußerte sich sodann.

      „Unser liebster Sultan ist tot, sagst du?“, seufzte sie tief und riss sich wieder zusammen, um nicht in aller Öffentlichkeit in Tränen auszubrechen.

      „Vater“, kreischte Selim und lief in den zweiten Hof, wo sich die Privatgemächer seines Vaters befanden. Hinter ihm her hetzten seine Mutter und seine Amme. An der Schwelle des königlichen Gemachs hielt ihn ein wachhabender Soldat aus Reflex auf, zog er seinen Arm aber sogleich wieder weg, als er den Prinzen erkannte, und gestattete ihm den Zugang. In der Mitte des Gemachs lag sein toter Vater auf einem großen Bett, und der Scheichulislam, das religiöse Oberhaupt des Reiches, hockte neben dem Bett und rezitierte leise aus dem heiligen Koran. Selims Vater war von seinen Wesiren umringt. Die sonst sehr ehernen Männer bekundeten unter Tränen ihre Trauer um seinen Vater. Nicht zuletzt stand auch sein Onkel Abdulhamid an der Kopfseite und trauerte mit.

      „Mein herzliches Beileid, Prinz Selim“, sagte der Scheichulislam, nachdem er mit der Rezitation fertig war. Selim brachte jedoch durch die Wehklagen keinen Ton heraus und nickte nur kurz mit dem Kopf. Das religiöse Oberhaupt fuhr fort:

      „Jedes Wesen wird den Tod finden. So schreibt Allah in seinem Buch. Was bleibt, sind die guten Taten eines Menschen, die er hinterlässt. Er hat viel für unser Reich getan. Die vielen Erneuerungsversuche im Militär, die Gründung einer Marineschule, sogar die Geldleistungen für die Erdbebenopfer aus seiner eigenen Tasche werden ihn im Jenseits nicht alleine lassen. Was könnte ein Mensch noch hinterlassen, wenn nicht gut ausgebildete Kinder? Er hinterlässt zwei brillante Söhne und fünf makellose Töchter, die sich alle ihrer Verantwortungen bewusst sind.“

      Einige Wesire blickten in diesem Moment auf Selim, der seinen Kopf hob und in die Gesichter dieser starken Männer sah. Alle bis auf einen schauten ihn mitleidig an. Allein der Kaimakam Köse Musa, der anstelle des Großwesirs seinen Platz in der Runde einnahm, ließ Selim schaudern. Er war für Selim der Luzifer in Menschengestalt, der auf Erden weilte. Er hatte diesen listigen Mann nie leiden können.

      Als der Scheichulislam seine Predigt zu Ende gebracht hatte, gab er ein Zeichen an die Anwesenden, den Raum zu verlassen, damit der Sultan für die Totenwäsche vorbereitet werden konnte. Selim sollte seinen Vater nur noch einmal bei seinem Begräbnis in dessen weißen Todesgewand sehen. Denn nach dem Freitagsgebet würde der Grabeszug in Richtung Laleli-Moschee aufbrechen, damit die Menschen ihrem toten Sultan in seiner selbsterrichteten Moschee die letzte Ehre erweisen konnten.

      ***

      Salih Hodscha verkündete in seiner Freitagspredigt auf der Kanzel die traurige Nachricht, die er kurz vor dem Gebetsruf erhalten hatte. Ihm war die Kehle wie zugeschnürt und die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er riss sich jedoch zusammen und predigte weiter. Said, der neben seinem Onkel kniete und seinem Hodscha zuhörte, dachte bei dieser Nachricht an seinen Freund Selim, in welchem Zustand er sich wohl befand und was er wohl gerade tat. Um ihn nicht im Stich zu lassen, bat er seinen Onkel nach dem Gebet, ihn in den Palast zu begleiten, damit er seinem guten Freund sein Beileid aussprechen konnte.

      „Abgesehen von deiner Begleitung ist es meine Pflicht, bei der Beerdigung dabei zu sein, Said“, sagte ihm Adil Bey. „Ein Diwanmitglied darf an so einem Tag nicht fehlen.“

      „Wann brechen wir auf, Onkel?“, wollte Said wissen.

      „Sofort. Salih Hodscha wird auch mitkommen“, antwortete ihm sein Onkel. Der Imam vertrat die königliche Hoheit in seinem Viertel und hatte das Amt des Ortsvorstehers inne. Nachdem er sich Adil Bey und Said angeschlossen hatte, fanden sie auf der Galata-Turm-Straße eine leere Droschke und stiegen sofort ein. In Windeseile erreichten sie den Palast und fuhren an ihm vorbei.

      „Warum haben wir nicht angehalten, Adil Bey?“, fragte Salih Hodscha.

      „Weil die Prozession höchstwahrscheinlich bereits auf dem Weg zum Grabmal in Laleli ist“, antwortete Adil Bey. Die Kutsche glitt über die gepflasterten Straßen und hielt in der Nähe der Moschee. Eine große Menschenschar überraschte sie am Eingang. Adil Bey versuchte, sich durch diese Menge einen Weg zum Grabmal zu bahnen und nutze sein Amt, damit die Menschen ihm aus dem Weg gingen. Salih Hodscha und Said folgten ihm. Said bemerkte Selim, der von Trauer erfüllt neben großen, vollbärtigen Männern und neben seinem Bruder stand, seine Lippen bewegte und anscheinend Bittgebete murmelte. Adil Bey stellte sich ohne ein Wort neben diese großen Männer. Said folgte seinem Beispiel und fand die Nähe seines Freundes. Selim bemerkte Said und drückte kurz seine Augen zu, als Zeichen der Entgegennahme des Beileids seines Freundes, während er weiterhin Tränen weinte. Nach der weihevollen Grablegung des Sultans bildete sich eine Reihe von Menschen, die zuerst den Wesiren und dann den beiden Prinzen kondolierten. Auch Said nahm die Anteilnahmen aus Mitgefühl zum Prinzen entgegen. Anschließend folgte Selim seinem Onkel, der wahrscheinlich der nächste Sultan sein sollte, in Begleitung der königlichen Kavalkade zurück in den Palast und trennte sich von Said.

      ***

      Selims Onkel Abdulhamid versammelte den Staatsrat, um über die Wahl des neuen Sultans zu sprechen. Er sah sich als den größten