Said Gül

Machtkampf am Bosporus


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hast es auf den Punkt gebracht, Ibrahim“, sagte David und bedankte sich.

      Die Gespräche erstreckten sich bis in die Abendstunden. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang verließen alle das Kaffeehaus und begaben sich auf den Heimweg.

      Für Said blieben noch zehn Tage, bis sein Vater sich von ihm verabschieden sollte. Die restlichen Ramadantage und die Festtage im Anschluss wollte er jede Sekunde mit ihm verbringen. Eleftheria, mit der Said inzwischen viel Zeit verbrachte, vermisste ihn. Aber sie wäre ja nach dem Abschied von seinem Vater immer bei ihm. An Ibrahims letztem Diensttag an der Hochschule bekam Said sogar die Erlaubnis von Salih Hodscha, die Schule ausfallen zu lassen, um mit seinem Vater einen ganzen Tag zu verbringen. Salih Hodscha vertraute auf die Intelligenz seines Schülers, den versäumten Stoff schnell nachholen zu können. Er wurde Zeuge der Hingabe der Studenten seinem Vater gegenüber, die ihm bedauernd alles Gute wünschten. Einige Studenten winkten beim Abschied von der Hochschule tränenüberströmt ihrem Müderris nach, und Saids Vater drehte sich immer wieder um und blickte zu den wehmütigen Studenten zurück.

      Sie durchquerten das Goldene Horn mit einer Gondel und erreichten den Hafen von Karaköy. Said bat seinen Vater, mit ihm auf den Basar zu gehen, um David zu besuchen. Der Jude mochte Said genauso wie sein Vater, und ein Schachspiel würde er bestimmt nicht ablehnen.

      „Hallo David“, grüßte Ibrahim den Schmuckwarenhändler an der Schwelle seines Ladens auf dem Basar.

      „Hallo mein Freund, hallo Said“, grüßte er zurück.

      „Wir sind auf dem Weg nach Hause und wollten dir einen Besuch abstatten, wenn du Zeit hast“, äußerte Ibrahim den Wunsch seines Sohnes.

      „Seid willkommen. Für euch habe ich immer Zeit“, strahlte David.

      „Morgen feiern wir unser Ramadanfest, David. Ein Grund zur Freude. Aber in vier Tagen wird sich diese Freude für mich und meine Familie in Trauer verwandeln“, sagte Ibrahim.

      „Niemand kann an die Stelle eines Vaters treten“, sagte David, „aber für Said und Destegül bin ich auch ein Vater. Ich hoffe, sie sehen mich so. Außerdem haben wir Garbis, Lisias, Sami, Hüseyin und die anderen, die deine Abwesenheit nie spüren lassen werden. Dafür sind doch Freunde da, Ibrahim.“

      Für diese freundliche Geste bedankte sich Ibrahim und war den Tränen nah. Nach zwei Partien mit David, die er beide verlor, verließen Said und sein Vater Davids Geschäft und gingen nach Hause.

      Der erste Tag des Ramadanfests begann mit dem morgendlichen Gebet in der Ali-Efendi-Moschee, an dem Salih Hodscha eine rührende Predigt hielt. Seine Rede war euphorisch und betrüblich zugleich. Er wies auf die großen Ziele der Menschen in ihrem Leben hin, für die sie ihre Liebsten opferten.

      „Prophet Mohammed verließ seine Geburtsstadt Mekka und floh vor den Gräueltaten und Angriffen der Polytheisten der Kuraisch, um seine Mission in Medina zu erfüllen. Auch Moses floh aus der ägyptischen Knechtschaft und nahm die Israeliten ins Gelobte Land mit, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Seit Adam und Eva gab es immer die Guten und die Bösen. Der Kampf zwischen Gut und Böse sollte mit dem Sieg der Guten enden. Dafür mussten die Guten immer etwas opfern.“

      An dieser Stelle brachte Salih Hodscha das Wort auf Ibrahim.

      „Auch unser hochgeachteter Nachbar Ibrahim verlässt in drei Tagen unser Viertel und zieht auf den Balkan. Er hat dafür einen wichtigen Beweggrund, denn unser Reich ist nicht mehr so stark wie früher. Damit meine ich nicht nur die militärische Macht, sondern auch die zivile. Die Jurisprudenz und die Exekutive werden leider von Menschen geleitet, die ihrer Ämter nicht würdig sind. Wir brauchen wahrhaftige und aufrichtige Menschen, die diese Ämter bekleiden. Ibrahim Efendi hat diese Tatsache erkannt und sich entschlossen, den Beruf des Naibs und später die des Kadis auszuüben. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, dass er es bis zum Kadi bringt.“

      Bei diesen Worten suchten die Augen der Gläubigen Ibrahim und richteten ihre Blicke auf ihn. Said, der neben seinem Vater kauerte, war stolz und gleichzeitig gerührt von dieser Rede seines Hodschas.

      Nach dem Gebet versuchte Ibrahim, sich an der Schwelle des Moscheetores einen Weg durch die Menge zu bahnen. Said führte er an der Hand. Er mochte es nicht, bejubelt zu werden. Er entschied sich für ein Amt, für das Bescheidenheit gefragt war. Trotzdem nahm er die Glück- und Abschiedswünsche an und begab sich mit seinem Bruder und dessen Sohn Mersed nach Hause. Halil Agha unterhielt sich noch mit einigen Altersgenossen und kam hinterher.

      Afife und Destegül bereiteten das Festmahl in der Mittelhalle, zu dem auch Adil Bey und seine Familie eingeladen waren. Auch er gönnte sich an diesem Festtag einen entspannten Tag ohne diplomatische Übersetzungen im Palast, die ihn zu sehr belasteten.

      „Guten Morgen“, grüßte Said seine Mutter und Schwester und umarmte beide. Auch die nichtmuslimischen Bürger bekamen an den ersten Festtagen der Muslime frei, und so blieb auch Betim zu Hause und wartete, bis die Männer aus der Moschee kamen.

      „Mama, nach dem Essen werden wir keine Zeit verlieren und gleich aufbrechen. Die Süßigkeiten warten schon auf uns“, freute sich Said.

      Traditionell zogen die Kinder an Festtagen von Haus zu Haus und bekamen süße Plätzchen, die sie mit Freude vernaschten.

      „Je mehr Konaks wir besuchen, umso mehr Plätzchen bekommen wir. Letztes Jahr haben wir es bis zwanzig geschafft. Diesmal werden es bestimmt fünfundzwanzig“, protzte Mersed.

      „Nehmt Betim auch mit. Er braucht auch mal ein Vergnügen“, sagte Afife.

      Für Said war es inzwischen zu einer Last geworden, mit Betim etwas zu unternehmen. Er fand keinen Gefallen an seiner Gesellschaft, weil sich Betim stets danebenbenahm und immer Anlass zum Ärger gab.

      „Na gut, Mama“, lenkte er widerwillig ein.

      Said, Betim und Mersed brachen gleich nach dem Essen auf und warteten nicht auf die Mädchen. Sollten sie doch getrennt bummeln, dachte sich Mersed, und begründete es mit der Ausrede, dass bei dem Anmarsch von sieben Kindern zu viel Rummel entstand. Said bestimmte die Route, die sie einschlugen, und begann im Konak von Lisias. Denn mit Eleftheria verstand er sich am besten, und auch Daphne empfing ihn immer sehr herzlich.

      „Unseren zweiten Haltpunkt möchte ich gar nicht wissen“, motzte Betim.

      „Der Konak von Garbis natürlich“, antwortete Mersed höhnisch.

      „Ja warum wohl?“, moserte Betim herum.

      „Weil Hagop der zweitbeste Freund von Said ist. Ist das nicht verständlich?“, nörgelte Mersed.

      Betims Haltung konnte Said verstehen. Er war von Natur aus ein Launenverderber. Doch Betim übte einen schlechten Einfluss auf Mersed aus, mit dem sich Said eigentlich besser verstand. Mersed begann das gleiche Wesen anzunehmen wie er und wurde allmählich zu einem Heuchler, dem man nie etwas anvertrauen konnte.

      Zu Hause angekommen, präsentierte Said stolz seine Plätzchen, denn an diesem Tag hatte er es mit seinen beiden Weggenossen tatsächlich auf fünfundzwanzig Häuser gebracht. Auch die Mädchen hatten es geschafft, fünfundzwanzig Konaks zu besuchen, und zogen mit den Jungen gleich.

      „Na Schwesterherz“, sagte Mersed zu Destegül „ihr wart ja auch sehr fleißig.“

      „Was denkst du denn? Oder hast du uns unterschätzt?“, bohrte Destegül nach.

      „O nein, Gott bewahre. Ich würde mein Schwesterherz doch nie unterschätzen“, schmeichelte Mersed bei Destegül.

      „Was ist mit uns? Sind wir nicht deine Schwestern?“, fragte Hayrunnisa.

      „Doch doch, aber nur meine Schwestern. Destegül hingegen ist mein Schwesterherz“, sagte er und legte die Betonung auf das Herz.

      Drei Tage später, an einem Dienstag, kam dann der Abschied von Ibrahim. Die Viertelbewohner versammelten sich auf dem Marktplatz und warteten auf Ibrahim und seine Familie, um ihm Lebewohl zu sagen. Said war an diesem Tag nicht zu bändigen, und kein Trostspruch linderte den Schmerz in seinem