„Verwirklichungschancen“ (capabilities). Als politisches System hebt er die Demokratie hervor, da sie die größten Verwirklichungschancen seiner Meinung nach bieten. Aber er differenziert: „Demokratie ist kein automatisch wirkendes Heilmittel, wie Chinin das angezeigte Medikament bei Malaria ist. Die von ihr gebotenen Chancen müssen ergriffen werden, um die gewünschte Wirkung hervorzubringen. Selbstverständlich gilt das für alle Grundrechte, vieles hängt davon ab, wie sie wahrgenommen werden.“ Ohne nun den Sen’schen Standpunkt weiter auszubreiten, sei dennoch gesagt, dass Herr Sen den freien Zugang zum Markt, um Arbeitskraft anzubieten und „Waren“ (seien es Geschenke oder Arbeitskraft) auszutauschen, als eine Voraussetzung zur Entwicklung von mehr Freiheit versteht – er kämpft gegen feudalistische Strukturen, die diesen freien und selbstverständlichen Zugang verhindern. In der Demokratie sieht Sen größere Entwicklungen für Freiheit, aufgrund der Ausweitung von Entwicklungschancen. Armut bietet keine, oder nur geringe, Verwirklichungschancen und fördert Ungleichheit. Auch die unterschiedlichen Modelle von Mikrokrediten bieten nicht die Chancen auf Freiheit und Unabhängigkeit, wie anfänglich geglaubt. Im Januar 2011 wurde über die Medien mitgeteilt, dass Menschen sich umbrachten, weil sie keine Möglichkeiten sahen, die Rückzahlung der Kredite zu bewerkstelligen.
Soweit Sen 200 Jahre an Erfahrung hinter der kapitalistischen Entwicklung in Europa hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Entwicklung zurückliegt – sage ich mit allem mir zur Verfügung stehendem fachlichem Nichtwissen, aber mit Gefühlswissen – ergeben sich in der Reflexion des Entwicklungskonzeptes Sen’s für arme Länder und des heutigen Spätkapitalismus in Form der Globalisierung Parallelen:
Armut – Ungleichheit – Unfreiheit.
Damit ergeben sich auf dem Strang der Existenz betrachtet, gleiche Inhalte für die Menschen in Deutschland/Europa wie in Indien oder China. Armut wird zum politisch lukrativen Wirtschaftsfaktor und Machtmittel.
Hier schließt sich dann der Kreis aller humanistischen und politischen Bemühungen, Menschen sich entwickeln zu lassen, Freiheiten zu geben, mehr Unabhängigkeit einzuräumen – diese Freiheiten können auch schnell wieder genommen werden, wie wir in Deutschland erleben: Auch wenn im Grundgesetz das Recht auf Arbeit festgeschrieben ist. Wenn die Basis der Wirtschaft und damit die Existenz eines Landes auf Ungleichheit aufgebaut sind – und Ungleichheit bildet durch Besitzende und Besitzlose die Voraussetzung im Kapitalismus – werden diejenigen, die Macht in Händen haben, auch die Armut als Quelle für Profit nutzen. Armut ist für die Wirtschaft schon seit langem als Profitfaktor einkalkuliert, um nicht zu sagen: Sie kennzeichnet den Beginn, die Wurzel des Kapitalismus. Damit wäre der Kapitalismus wieder an seinen Anfang zurückgekehrt und kann nun aber nicht mehr aussteigen, sondern nur noch absteigen: Denn er kann die Ausgangsbedingung der Ungleichheit der Besitz- und Kapitalverhältnisse weiterhin nicht mehr steigern, und muss, um dennoch Gewinnzuwachs verzeichnen zu können, Menschen in dieser Spirale in die existenzielle Tiefe führen. Die Höhe ist ab- und ausgeschöpft. Die Besitzverhältnisse werden durch den Kapitalismus konserviert – der Kapitalismus hat kein Interesse an existenziellem Wohlergehen und Freiheit der Einzelnen und Vielen: Damit würde letztendlich das kapitalistische System bedroht. (Natürlich gibt es in diesem Bereich Schamprozesse, die entsprechend ihrer Natur zu verheimlichen sind und demgemäß verformt in ihrer Erscheinung im öffentlichen Leben mittels Verkehrung auf Menschen einwirken: immerhin leben in der Bundesrepublik Deutschland 82 Millionen Menschen! Insofern ist einmal mehr dokumentiert, wie mächtig Psychologie, Geist und Ideologie sind.) Denn Erhalt dessen, was an Produkten bereits bei den Menschen, die sie kauften, also da sind, interessiert den Kapitalismus nicht: Er will ständig das gerade Geborene, Produzierte und Verkaufte wieder zerstören, um Neues auf den Markt zu bringen. Erhalt dessen, was da ist, ist langweilig, bringt (nicht genügend), eben zu wenig Gewinn. Teile des Menschen (Arbeitskraft) wurden und werden zum Zweck, zum Material, mit dem sich eben kapitalistisch arbeiten lässt.
Aus der Gestalttherapie ist der Gedanke, wenn man einen Teil verändert, verändert sich das Ganze, hier zutreffend, wie ich mich im vorliegenden Buch bemühe, darzulegen: Kapitalismus verändert „das Ganze“ durch Zerstörung dessen, was da ist, vorhanden ist, gerade produziert und/oder lebendig ist. Opferung ist eine Folge von Abhängigkeit.
Jetzt ist es der ganze Mensch – der bereits durch ökonomische Prozesse in sich zerstückelt ist – der gesetzlich festgelegt in Reformen und ökonomisierten Abrechnungsziffern der Gesundheitswirtschaft, nochmals seiner Ganzheit, Achtung und Würde beraubt wird – auch wenn diese Entwicklung bereits vor Jahrzehnten einsetzte, war es dennoch bisher nicht so, dass Wettbewerbsstrukturen im Gesundheitswesen in der Art, wie sie jetzt ersonnen und eingesetzt werden, existiert hätten. Auch hier gäbe es einen Gedanken aus der Gestalttherapie, der da heißt: Das Ganze ist mehr als seine Teile. Dieser Grundsatz, bezogen auf den Menschen, zielt auf die Seele. Die Seele ist das letzte, worauf Menschen zurückgreifen können, wenn sie sich in Notlagen befinden. Sie gilt es zu schützen. Diese Freiheit sollte jeder Mensche haben – aber selbst diese Freiheit ist äußerst schwierig zu verwirklichen. Weil Menschen bereits im Kern, in ihrer Seele, getroffen sind. So weit zur Freiheit oder besser Unfreiheit, von dem das vorliegende Buch gleichfalls generell handelt.
Noch einmal zurück zu dem von Christoph Keese zitierten Beispiel aus dem Erleben Sen’s, das geradezu als Beleg für das Gegenteil zu verstehen ist: Der Mann ging zur Arbeit, weil er das Geld zum Leben, für seine Existenz brauchte – und nicht, weil er die Freiheit zur Wahl hatte, wie er den Tag verbringen möchte! (Das ist im Übrigen in Deutschland nicht anders, als in Indien.) Denn das Gegenteil von Unabhängigkeit ist Abhängigkeit. Unabhängigkeit geht nämlich nicht unmittelbar mit ökonomischer Freiheit einher. Die Demokratie in Deutschland zeigt: Noch sind die Bürger durchaus als „frei“ zu bezeichnen, aber sie sind abhängig von der Erwirtschaftung ihrer existenziellen Grundlagen und von den politischen Entscheidungen im Sinne der Wirtschaft in der Demokratie. Bürger werden an zig Stellen gezwungen, sich selbst offen zu legen, alles zu zeigen und mitzuteilen, was sie haben und was sie nicht haben, damit auch noch ein vermeintlicher Rest, der bisher nicht „offiziell“ benannt und mitgeteilt war, entweder dazu dienen kann, Profit zu machen (Zusatz-Versicherungen bei den Krankenkassen) und/oder Steuern einzuziehen. Darüber hinaus werden Bürger durchleuchtet und abgehört (Anti-Terror-Gesetze).
Auch insofern benennt Sen die Zusammenhänge genau, wenn man einen kurzen Blick in das Buch wirft, was hier nun aber nicht ausgeweitet und zitiert werden soll. Sen scheint bewusster zu sein, was Kapitalismus ist, als Christoph Keese, der im Spätkapitalismus lebt. Aber das ist kein Wunder: Es entspricht dem Spruch, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Der Kern des Kapitalismus ist durch Spaltung in Besitzende und Besitzlose zu beschreiben – dieses Verhältnis der Spaltung nistet sich mit weit reichenden Konsequenzen in die menschliche Psyche ein und entfremdet den Menschen von sich selbst wie von anderen Menschen, wie Marx es in seinen Analysen darlegte. In anderen Worten: Die Notwendigkeit des Verkaufs der Arbeitskraft wird gefolgt von tief greifenden Entfremdungsprozessen. Derjenige, der Geld besitzt, kann sich Freiheiten kaufen, besitzt diese Freiheit, besitzt diese Unabhängigkeit in Form von Geld. Aber selbst er, der Kapitalist, ist nicht wirklich frei. Noch weniger frei im umfassenden Sinne sind Arbeiter, Angestellte oder kurz Besitzlose.
Der Unterschied liegt im Ausmaß der bestehenden Abhängigkeit! Dennoch ist der Preis für beide hoch: Der Geldbesitzer hat seine Seele bereits verkauft, und der abhängig Arbeitende soll sie immer weiter verkaufen (müssen), indem er den gleichen Prinzipien frönt – obgleich er keine wirkliche Wahl hat, sie abzulehnen. Auf glamourösen Spendenpartys bemüht sich der seelenlose Geldbesitzer, gesellschaftlich eine gute Figur zu machen und so zu bezeugen, dass auch er eine Seele hat.
An dieser Stelle sollte endlich Karl Marx zu Wort kommen, um die Keese’sche Interpretation von Freiheit gerade zu rücken:
„Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört, es liegt also in der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen