Angelika Nickel

Namenlos oder Kreuz As... und die Morde enden nie


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      Nach nicht ganz einer Stunde, hatte sich Jesse so gut und genau als nur möglich an die Leiche zu erinnern versucht, so dass Bill seinen Rechner wieder runterfahren konnte. Die ausgedruckte Phantomzeichnung legte er der Lombard in einer Mappe auf den Schreibtisch. »Kommt bloß morgen nicht auf die Idee mich wieder anzufordern. Morgen bleibe ich nämlich mit meinem Arsch daheim, und ans Telefon gehe ich auch nicht, das kannst du dir gleich mal merken, Jess-Mann. Ich bin nämlich nicht so blöd und schenke denen meine Überstunden.« Mit diesen Worten ließ er Jesse, der sich nochmals überschwänglich bei Bill für sein Kommen bedankt hatte, auf dem Flur stehen, verließ das Gebäude und schwang sich auf seinen Drahtesel, den er an der Stange eines Straßenschildes festgebunden hatte.

      Als Lotte am Abend, Odin hatte sie mitgebracht, die Mappe auf ihrem Schreibtisch vorfand, die Zeichnung des Phantombilds, auf die Jesse ein Post-it mit dem Vermerk So in etwa, Lotte, hat die Leiche ausgesehen. Gruß Jesse geklebt hatte, sah, wurde sie ganz weiß um die Nase. »Oh mein Gott, das kann doch nicht sein!«, stammelte sie, und sackte auf ihren Bürostuhl.

      9. Mutter Elise

      … Mutter Elise bot Salvo Barutti an Platz zu nehmen, ums sich gleich darauf ihm gegenüber an ihren antiken Schreibtisch zu setzen.

      »Signore Barutti, Commissario, wie Sie wahrscheinlich schon wissen, muss Schwester Pia wieder zurück nach Frankfurt...«

      Barutti setzte sich aufrecht hin. Überrasccht sah er die Oberin an. »Nein, das ist mir neu. Sie hat mir nichts davon gesagt.«

      »Es kommt zur Verhandlung, und Schwester Pia muss hin, sie ist als Zeugin vorgeladen.«

      »Haben sie die Kerle geschnappt?«

      »Dem Anschein nach, ja. Und Schwester Pia soll wohl aussagen, was sie in jener Nacht, als Bell vergewaltigt worden ist, beobachtet hat.«

      Salvo hob verwundert die Brauen. »Hat denn Pia etwas gesehen? Davon weiß ich ja gar nichts.« Salvo konnte sich gar nicht vorstellen, dass Schwester Pia mehr gewusst haben sollte, als das, was sie ihm erzählt hatte. Mutter Elise neigte den Kopf. »Ein wenig mehr hat soe wohl gesehen...«

      »Wieso weiß ich dann nichts davon?«

      »Commissario Bell hatte sie darum gebeten. Sie wollte nicht, dass Sie alles haarklein erzählt bekommen.«

      »Aber wieso denn das?«

      »Sie ist ein junges Mädchen... ES war ihr einfach peinlich, und unangenehm.«

      »Was soll das denn? Sie kann doch nichts dafür, dass sie vergewaltigt worden ist!«

      »Sie ist fünfzehn, Commissario.«

      »Ich spreche mit ihr.«

      Die Mutter Oberin hob abwehrend die Hand. »Nein, tun Sie das nicht. Warten Sie, Commissario, bis sie selbst auf Sie zukommt und von alleine zu erzählen beginnt. Bell, sie möchte nichts mehr von ihrem Leben von früher wissen. Sie will ja noch nicht einmal mit ihrem richtigen Namen angesprochen werden. Seit sie hier ist, ist sie für alle nur Bell. Den Namen, den Sie ihr bei ihrer Ankunft in Sizilien gegeben haben. Und diesen Namen will sie beibehalten. Mit ihrer Vergangenheit hat das arme Kind nach außen hin ganz abgeschlossen.«

      »Das kann sie nicht. Das gibt sie nur vor. Schon gar nicht, wenn man bedenkt, dass sie schwanger ist...«

      Elise nickte. »Schwanger von einem Vergewaltiger.« Sie schwieg einen Augenblick, griff nach ihrem Füller und drehte ihn zwischen den Fingern. »Das ist auch der Grund, Commissario, weshalb ich Sie zu mir gebeten habe. Bisher ist immer Schwester Pia ihre Vertraute gewesen, hat sie durch die Schwangerschaft begleitet. Aber jetzt...« die Oberin sah Salvo traurig an, »jetzt, wo Pia fort muss... Ich wollte Sie bitten, Commissario Salvo Barutti, für die beiden Monate von Bells Schwangerschaft, sie noch ein klein wenig mehr fürsorglich zu betreuen, als Sie es ohnehin schon tun. Glauben Sie, dass das möglich ist? Dass Ihr Beruf Ihnen die Zeit gibt, sich Bell ein klein wenig mehr anzunehmen?«

      Barutti sah zur Decke. Er hatte keine Ahnung, wie er dieser Bitte zeitlich nachkommen sollte, bei seinem Beruf. Als er Bells trauriges Gesicht vor seinem geistigen Auge sah, nickte er. »Ja, Mutter Oberin, ich werde mein Bestes tun. Müssen die Verbrecher eben noch ein bisschen warten. Oder meine Kollegen müssen etwas mehr von ihrer eigenen Zeit opfern. Irgendwie wird es schon gehen. Wenn Bell mich braucht, wünscht,, dass ich ihr in den letzten beiden Monaten, anstelle von Pia, beiseite stehe, dann werde ich das auch tun.«

      Mutter Elise stand auf, reichte ihm über den Schreibtisch hinweg die Hand. »Ich wusste, Commissario, dass ich mich auf Sie verlassen kann.«

      Barutti stand ebenfalls auf, verabschiedete scih von der Oberin und ging zur Tür. Als er sie gerade hinter sich schließen wollte, hörte er die Mutter Oberin leise »Danke, Salvo.« sagen ...

      10. Archivierte Aktenkisten

      Lotte nahm einen großen Schluck aus der Flasche, dann stellte sie die Bierflasche auf den Tisch. Sie brauchte kein Glas. Heute nicht. Heute musste sie erste einmal ihre Nerven beruhigen, zur Ruhe kommen. Sich klar darüber werden, ob sie sich alles nur einbildete... Oder ob die Vergangenheit aufs Neue erwacht war.

      Lotte ging an den Kühlschrank, holte die Schüssel mit den restlichen Spaghetti heraus, stürzte sie in einen tiefen Teller, goss noch ein wenig Olivenöl, von ihren eingelegten gefüllten Peperoni, und eine Handvoll geriebenen Käse darüber und erwärmte sich die spärliche Mahlzeit in der Mikrowelle, während sie zwei Tomaten wusch, eine Zwiebel schälte und sich einen Tomatensalat zubereitete.

      Als sie satt war, stellte sie alles auf die Spüle; wegräumen würde sie das später, danach stand ihr jetzt nicht der Kopf. Suchend ging sie durchs Haus. Wo war nur dieser verdammte Karton mit den Akten? Lotte wühlte sich durch Berge von Kartonagen. Wenn sie doch wenigstens alle mit der Beschriftung nach vorne zeigen würden, aber nein, es hatte ja schnell gehen müssen, da sie sofort nach ihrem Einzug zu arbeiten begonnen hatte. Was war da näher gelegen, als die Kartons einfach nur abzustellen. Und was hatte sie jetzt davon? Dass sie sich durch Kartonberge ohne Ende zu wühlen hatte, ohne zu wissen, wo der Aktenkarton überhaupt war. Verdammter Mist, hätte sie denen doch wenigstens sofort, nach dem Einzug in dieses Haus, einen festen Platz, ähnlich dem eines Archivs, gegeben!

      Nach über vier Stunden angestrengter Suche gab Lotte auf. Zumindest hatte sie ihr altes Adressbuch in einer der Kisten, zwischen Winterpullis vergraben, wiedergefunden. Mit diesem Fund beendete sie für diesen Abend auch die Suche. Immerhin war es kurz vor Mitternacht, und sie konnte sich beim besten Willen nicht auch diese Nacht wieder um die Ohren schlagen.

      Lotte machte noch einen kleinen Gassi-Gang mit Odin, danach schwang sie sich in eine Wanne voll schäumendem Badewasser. Ein heißes Bad, kurz vor dem Zubettgehen, tat ihr gut. Das Badewasser lag in einem Nebel aus Moschus. Lotte mochte den Geruch von Moschus. Sie stellte ihre Bierflasche neben sich auf den Badewannenrand, nahm das kleine Adressbuch, und stieg in das schaumige Nass. Sie blätterte in dem Büchlein. Sie suchte einen bestimmten Namen, doch sie fand ihn nicht. Warum fiel ihr auch nicht ein, wie Ireen mit Nachnamen hieß? Ireen, ihre Freundin aus der Schulzeit, zu der sie aber nie so ganz den Kontakt verloren hatte.

      Während Lottes Sizilien Aufenthalts gab es für einige Jahre zwar Schweigen zwischen den Freundinnnen, doch hatte das mehr an Lotte als an Ireen gelegen.

      Umso mehr hatte sich Ireen gefreut, als, nach der Zeit des Schweigens, von Lotte endlich wieder ein Lebenszeichen gekommen war.

      Von da an schrieben sich die beiden regelmäßig.

      Lotte erzählte von Sizilien, beschrieb ihr Dies und Das, mitunter schrieb sie Ireen auch etwas von Fällen, die ihr Kopfzerbrechen machten, oder von manchen, die sie bereits gelöst hatte. Natürlich immer unter Anbetracht des Datenschutzes; ohne Angaben genauer Daten, Namen oder Ähnlichem.

      Als Ireen sich verheiratete, brach der Kontakt zwar nicht ab, aber er war weit spärlicher gehalten als