Dietmar H. Melzer

Das melancholische Timbre


Скачать книгу

und provenzalischen Souvenirläden angeboten werden sollten, sondern in Supermärkten und Versandhäusern. Was dort verkauft wird, machen die Investoren unter sich aus. Sie wollten mich aus der Firma hinauswerfen. Aber der Buchhalter, Herr Jauch, machte mich auf eine Klausel in meinem Arbeitsvertrag aufmerksam, de­ren Bedeutung mir nie aufgefallen war. Warum sie in dem Papier stand, dämmerte mir auf Herrn Schmidls Beerdigung, als ich stau­nend erfuhr, mein Chef sei ein leidenschaftlicher Jazzmusiker ge­wesen und habe jeden Sommer während der Betriebsferien seiner Kuckucksuhrenfabrik das Altsaxophon in einer Kellerbar in der 18. Straße in New York gespielt. Bis zu seinem Tod mit 74 Jahren. Und er hatte mir seine Schallplatten vermacht. Bis ich in Rente kam, hatte ich nicht alle angehört. Es scheinen alle Aufnahmen zu sein, die in der Geschichte des Jazz von ihrem Beginn bis zum Tode Herrn Schmidls je verkauft worden sind. Ich musste mehr­mals mit dem Auto fahren, um die ganze Sammlung abzuholen. Weil ich in der Wohnung zunächst keinen Platz freimachen konnte, räumte ich Schmidls Hinterlassenschaft erst einmal in den Keller ein. Dabei fiel mir ein Päckchen auf. Ich öffnete es. Zwei Tonbänder mit Etiketten von Radio Monte Carlo kamen zum Vor­schein. Und zwei Briefumschläge. Neugierig riss ich einen auf. „Ich habe nicht nur ein Stück meines Herzens herausgerissen“, las ich auf einer Karte, „sondern alles, und habe seither keinen Ver­trauten mehr gefunden

      für Grünspan, Sellerie, Spargel und Kastanienblüten. Yrida.“ In Tinte geschrieben. Das Wort Kastanienblüten verwischt. Eine Träne? Ich kenne die Schrift. Und habe die Tonbänder und den an­deren Brief erschrocken wieder eingepackt. Wenn die Karte in Schmidls Schallplattensammlung geraten ist, war meine Arbeit für die Kuckucksuhrenfabrik vielleicht nicht so bedeutungsvoll, wie ich mir eingebildet habe. Seit Herrn Schmidls Tod habe ich keine Gehaltserhöhung mehr bekommen. Von den zweihundert künstle­risch begabten Handwerkern arbeitet keiner mehr in der Firma. Die Kuckucksuhren werden am Stück gepresst und sind dem Schwarzwälder Fichtenholz gut nachgeahmt. Selbst aus der Nähe betrachtet erkennt niemand, dass das Gehäuse aus Plastik ist. Sollte die Uhr jemals von einer Wand fallen, zerbräche sie nicht. Die sti­lisierten Tannenzapfen an den Ketten sind nicht notwendig, weil ein batteriebetriebenes Quarzwerk die Zeiger bewegt. Das neueste Modell der Schmidl Kuckucksuhr wird über Funk gesteuert und projiziert auf Wunsch neben der Zeit auch das Datum, die Tempe­ratur und die relative Luftfeuchtigkeit an die Decke. Die Uhr kostet nur noch ein Zehntel des damaligen Preises. Sie wird in Südkorea hergestellt. Schmidl & Cie ist hier nur noch ein Büro mit drei Ver­triebsfachleuten und drei Computern.

      Die Firma musste mich behalten, bis ich sechzig Jahre alt gewor­den war und mir dann noch eine Abfindung bezahlen. Damit konnten Karin und ich den Rest der Hypothek ablösen, die wir aufnehmen mussten, um unsere Wohnung von der Schwarzwald­bau zu kaufen, als die Genossenschaft privatisiert wurde. Diese Abfindung hat unsere Haushaltskasse saniert.

      Mit dem Gehalt, das ich bekam, ist Karin, immer ausgekommen. Auch als sie selbst nichts hinzuverdienen konnte, hielten wir uns nicht für arm. In unserem Block waren wir die erste Familie, die einen Farbfernseher hatte, als die drei Programme bunter wurden. Karin führte einen ordentlichen Haushalt, kochte, putzte, wusch Wäsche, wir hatten natürlich eine Waschmaschine, es war viel Ar­beit mit Simones Windeln, Ricos Windeln habe ich nicht erlebt. Karin und ich waren da nicht zusammen. Ich habe auch nicht glau­ben wollen, Ricos Vater zu sein, bis meine Mutter mir schwor,

      Karin habe den dicken Bauch schon gehabt, bevor sie Ricardo ken­nenlernte. Einen italienischen Feinmechaniker aus Turin. Bei der Geburt des Jungen habe Karin ihm den Namen Rico nur gegeben, weil der Italiener der einzige Mann auf dem Schlesierball gewesen sei, der mit der Schwangeren getanzt habe. Auch danach habe er sich um sie gekümmert. Er habe sie sogar heiraten wollen, diese, obwohl schwanger, magere Deutsche, mit dunkelblauen Augen, wie er sie noch nie gesehen hätte.

      Seit ich in Rente bin, finde ich Zeit und Muße, Herrn Schmidls Jazzsammlung zu hören. Karin mag diese Musik nicht. Sie hört lieber alte Schlager mit Caterine Valente oder Rudi Schuricke und Tanzmusik mit den Orchestern Kurt Edelhagen oder Erwin Lehn, vielleicht auch mal etwas von Glen Miller. Als Karin und ich uns wieder mochten, habe ich mir das Zimmer, das einmal den Kindern gehörte, zu einem Musikzimmer einrichten dürfen. Herrn Schmidls Schallplatten beherrschen den Raum. Sie sind in Regalen aufge­stellt, nach den Jahren der Aufnahme geordnet, was sehr viel Mü­hen bereitet hat. Besonders bei alten Schallplatten ist das Datum der Aufnahme oft nicht angegeben. Ich musste sie dem Stil nach der Zeit zuordnen, in der sie bespielt worden sein konnten, und mich dabei auch an der Aufnahmetechnik orientieren. Die Auf­nahme einer New Orleans Band aus den Zwanzigern klingt ja an­ders, wenn sieben Musiker in ein Mikrophon spielen als die einer aus den Sechzigern, selbst wenn sie stilgetreu musizieren, weil je­der in ein eigenes Mikrophon spielt und der Toningenieur hernach die Instrumente zusammenfügt. Ob ich alles richtig geordnet habe, ist somit gar nicht sicher. Ich bin auch noch lange nicht durch. Aber ich kann mich gut orientieren, wenn ich mich beim Hören in einen Stil verlieren will, in Chicagoer Swing oder in Cool Jazz, je nach Stimmung, mal fröhlich, mal im Blues. Hierfür habe ich eine hochwertige Stereoanlage mit einer Leistung von 1000 Watt. Wenn ich sie jemals voll aufdrehte, zersprängen die Fensterschei­ben. Meine Jazzkonzerte gehen natürlich nicht über Zimmerlaut­stärke hinaus. Einmal vielleicht doch. Es werden gleich allerlei Kontrollmechanismen aktiv. Ermahnungen, bitte Liebling, Klopfen an der Wand, Unerhört-Geschrei von unten, ein schrilles Telefon… Da bleiben einem nur die Kopfhörer. Aber mit den Muscheln an den Ohren findet das Konzert nur im Kopf statt. Dabei müssten die große Trommel und die Posaune den Brustkorb zum Vibrieren bringen und die spitze Trompete durch Mark und Bein brennen und… Aber nicht einmal mit 1000 Watt aus Lautsprechern, wenn man sie aufdrehte, wäre es so wie in einer Session mitten unter den Musikern.

      Gelegentlich musiziere ich selbst, probiere auf einem Keyboard herum, das wir uns mal gekauft haben. Kein schlechtes Instrument. Man kann sich den Rhythmus mit allen möglichen Schlaginstru­menten einstellen, so solide gespielt, wie man es von einer Ma­schine erwarten darf, immer gleichmäßig weiter bis zum Einschla­fen. Man kann den Klang eines ganzen Orchesters mit Bläsern und Streichern imitieren, kann Posaunen von Jericho donnern lassen, kann meine dünne Stimme dazu aufnehmen und zu einem brau­senden Chor verwandeln, Freude schöner Götterfunken, alles mit Hilfe des Computers. Auf dem Keyboard kann ich alles ausprobie­ren, nur das Piano nicht, weil man da mehr können muss als Tasten zu bedienen, die Rhythmus, Akkorde und eine Melodie mit Or­chesterklang erzeugen. Wie das Piano eines genialen Virtuosen klingt, habe ich im Kopf. Ich höre immer Jean Christan Viennois spielen, das Piano, wie Sekt perlen die Töne durch mein Gehirn, und dann treibende Akkorde, gegen den Rhythmus, spielerisch eingeworfene Töne dazwischen, die einen auffordern, inspirieren. Ich werde verrückt mit diesen Erinnerungen, lege eine CD mit ei­nem Konzert von Serge Rachmaninow auf, die Moskauer Philhar­monie unter der Leitung von Dimitri Kitaenko, und Jean Christian ist am Flügel. Die schwermütige Musik wühlt mich auf. Aber sie beruhigt mich auch. Die CD habe ich mal aus St. Petersburg ge­schickt bekommen. In Herrn Schmidls Sammlung gibt es indes keine Schallplatte oder eine CD von Jean Christian. Er hat doch auch mal den Blues gespielt.

      An einer freien Stelle zwischen den Regalen hängt Jürgen Hers­felds verbogene Posaune an der Wand. Sie hat eine Party, damals noch in Stuttgart, nicht überlebt. Wir haben danach gesammelt, um Jürgen eine neue zu kaufen. Meine Mutter erzählte, Karin habe das demolierte Instrument mitgebracht, als sie bei ihr eingezogen ist. Hier habe ich dann auch meine Trompete aufgehängt. Neben der Posaune. An einen Nagel. Im wahrsten Sinn des Wortes, an den Nagel gehängt.

      Eigentlich ist das Musikzimmer zu groß, weil ich meistens allein bin, um Jazz zu hören, zu träumen und auch mal ein Stück zu komponieren. Der Architekt hatte es als Schlafzimmer ausgewie­sen und für Kinder einen viel kleineren Raum vorgesehen. Zum Glück befinden sich in der Nordseite zwei Fenster so weit ausein­ander, dass wir eine dünne Wand dazwischen ziehen konnten, als Simone auf die Welt kam. Wir wollten für den Jungen und das Mädchen jeweils einen eigenen Raum schaffen und zogen mit Bett und Schränken in das Kinderzimmer. Für Rico und Simone richte­ten wir so zwei hübsche Kinderreiche ein. Es ist lange her, dass hier gespielt, gelacht, geweint und gestritten wurde. Ein ganz ande­res Leben ist das gewesen. Ich hatte es mir so nicht gewünscht und glaubte lange Zeit, ich sei nur aus Versehen in die Rolle des sor­genden Familienvaters geraten. Irgendwann würde man mich wie­der entdecken. Und ich träumte, Yrida würde mich suchen. Aber die sichere