Dietmar H. Melzer

Das melancholische Timbre


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wählen?, Weihnachtsfeste, Ostereier, Som­merferien an der Adria, ein überschaubarer Weg für uns ins Alter mit einer ausreichenden Rente, nicht reich, nicht ganz arm, wir wählten sozialdemokratisch, die Kinder würden es besser haben, ich bekam Geheimratsecken, die Zeit eilte dahin. Nicht die Erinne­rungen, aber meine Sehnsucht wurde blasser. Führte ich nicht ein bequemes, gutes Leben? Nur wehrte sich Karin, wenn ich das Jazzlokal besuchen wollte, das ein paar Jahre in der Metzgergasse geöffnet hatte. Ich hätte ja meine Schallplatten. Und zu einem Ur­laub in Südfrankreich konnte ich sie nie überreden.

      Dass wir alle glücklich gewesen sein müssen, merkte ich erst, als Rico ums Leben kam. Ein sanfter, zierlicher Junge mit den braunen Haaren seiner Mutter und ihren dunkelblauen Augen. Er war or­dentlich, umsichtig, fleißig in der Schule mit annehmbaren Noten, leider nicht musikalisch. Er hatte überhaupt keine musische Bega­bung. Damit konnte ich leben. Er machte keine Dummheiten und schlug nie über die Stränge. Solch einem Jungen passiert gewöhn­lich nichts.

      An einem sonnigen Samstagmorgen im Juni fuhren Rico und vier seiner Freunde mit ihren Rädern in den Wald, der hinter dem Kir­nacher Bahnhof beginnt. Sie zogen einen Grill hinter sich her und Würste und Steaks und einen Kasten Bier, um ein zünftiges Freundschaftsfest zu feiern. Es wollten noch andere Buben zu ih­nen stoßen. Die Brigach macht hier ab und zu einen Bogen an den Bahndamm heran. An einer Stelle öffnet sich der dunkle Fichten­wald zu einer Lichtung mit Weidenbüschen am Ufer und einer satten Wiese, auf der in dieser Jahreszeit Löwenzahn, Giersch und Sauerampfer blühen. Der Bahndamm mit den Geleisen schadet dieser Idylle nicht. Die gemütlich vorbeiziehende Schwarzwald­bahn unterstreicht die wilde Natur um den über rote und graue Kiesel sprudelnden Bach. Reisenden auf dem Weg von Offenburg nach Villingen wird diese Lichtung kaum auffallen. Sie lassen sich leichter einfangen von dem aufregenden Wechsel, immer wieder nach finsteren Tunnels über grüne Täler zu schweben, an Wiesen­hängen vorbei mit abgelegenen Bauernhöfen und dann von einem weiten Blick über blauschwarzbewachsene, bucklige Berge. Hinter St. Georgen ist die Landschaft hügelig mit ausgedehnten Wiesen. Wenn danach der Wald beginnt, kann wohl kein Fremder die Lichtung in Erinnerung behalten, die sich für einen Moment an seinem Fenster vorbeidreht.

      Ein geheimer Ort ist sie nicht. Jeden Sommer wird sie von Jugend­lichen entdeckt, die sich zu einem Picknick einfinden, Fleisch und Würste grillen und auch Lieder zur Gitarre singen. Der Kasten mit den Bierflaschen steht derweil im kalten Wasser der Brigach. Ich bin ja auch schon hier gewesen, früher, als die Schwarzwaldbahn noch von einer fauchenden Lokomotive gezogen wurde, und ich hinter den Weidenbüschen herausfand, was ein schweißtriefendes Mädchen mit wirren Haaren mit einem Jungen alles anstellen kann. Ich freute mich sehr, dass Rico hier mit seinen Freunden ein Freundschaftsfest feiern wollte, in meinem Garten Eden, grillen, schmausen, über Gott und die Welt reden, vielleicht auch einander Geheimnisse anvertrauen. Karin war dagegen, wegen des Bieres. Ach was, ein Kasten Bier, zwanzig Flaschen für fünf gesunde Bu­ben. Es kamen ja noch andere Jungen hinzu. Sie würden sich be­reits beim Geruch des Bieres beschwipst fühlen und sich nach dem Genuss von einer Flasche im Vollrausch wähnen. In einer halben Stunde haben sie sich den wieder herausgeschwätzt. In meiner Ju­gend ist das genau so gewesen. Zum Schluss nehmen sie die Hälfte der Bierflaschen ungeöffnet zu ihren Eltern nach Hause zurück. Es sei ein wunderschöner Fleck dort an der Brigach, Rico würde ein­mal eine Freundin hinführen, sie würden eine romantische Zeit ha­ben, ich sei froh, dass der Junge die Lichtung erleben werde, sie sei für mich ein Stück Paradies. Von Siegrid Dörflinger habe ich na­türlich nichts erzählt.

      Es waren ein paar Wolken aufgekommen am Abend, als sich die Jungen, inzwischen sieben Burschen, mit ihren Rädern auf den Heimweg machten. Auf dem Breitbrunnenweg blieben drei von ihnen etwas zurück, weil sie die kleinen Anhänger mit Grill und Picknickbesteck und dem Bierkasten – sie hatten vierzehn Fla­schen davon getrunken – hinter sich herzogen. Doch als sich die Gruppe der Kirnacher Straße näherte, kam von der Oberen Wald­straße ein BMW heran, mit hoher Geschwin-digkeit, stand im Poli­zeibericht, bog scharf in die Kreisstraße ein, kam in der Kurve hinter der Brücke über die Eisenbahn ins Schleudern und raste, an­statt die Kurve vor der Einmündung des Breitbrunnenweges zu nehmen, in den Weg hinein. Hier hatten die Radfahrer angehalten und waren abgestiegen, damit die zurückgebliebenen aufschließen konnten. Rico hätte sich nach ihnen umgedreht, haben seine Freunde später erzählt, und den auf ihn zuschießenden BMW gar nicht kommen gesehen. Man hätte ihn auch nicht warnen können, weil alles so schnell geschah. Der BMW wurde von Frau Lydia Herbst gelenkt, der Inhaberin der Modeboutique „parisienne“ in der Niedere Straße. Sie blieb unverletzt. Die Polizei hat von allen Blutproben entnehmen lassen. Von den Radfahrern, weil sie Bier in einem Anhänger mit sich führten, und von Lydia Herbst. Die Buben hatten zwischen 0,3 und 0,4 Promille Alkohol im Blut. Rico nur 0,2 Promille. Bei der Autofahrerin stellten sie einen Alkohol­gehalt von 2,3 Promille fest. Sie wurde sechs Monate später wegen fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr zu zwei Jahren auf Bewäh­rung verurteilt. Ein viel zu mildes Urteil für die Ermordung unse­res Sohnes, fanden Karin und ich und alle unsere Freunde und Be­kannten. Der Klatsch in der Stadt hat uns zugetragen, Frau Herbst sei betrunken von einem Stelldichein mit ihrem Geliebten gekom­men, einer prominenten Person aus der Stadtverwaltung, der sich den Gerüchten nach nicht von seiner Frau scheiden lassen wollte. Die Boutique schien danach nicht mehr gut zu laufen. Sie wurde ein Jahr später aufgegeben. Ein neues Geschäft dieser Art ist nicht wieder eröffnet worden. Die reichen Leute unserer Stadt müssen ihre Klamotten seither in Stuttgart oder in München kaufen oder gleich nach Paris fahren.

      Für die Freunde und die Bekannten und für unsere Nachbarn und für die Schule und für die ganze Stadt war es eine ergreifende Be­erdigung mit vielen Kränzen und zahlreichen Blumenbouquets. Das Schulorchester mit Streichern, Bläsern und Chor führte den Introitus des Requiems in d-Moll von Mozart auf, der Stadtpfarrer wetterte gegen die verkommene Moral in gewissen Kreisen, und alle, außer Karin, heulten und schluchzten. Karin war zu Stein ge­worden.

      Mit unseren Freunden und Bekannten wollte sie nichts mehr zu tun haben. Wir gingen nicht mehr ins Kino, auch nicht ins Theater, wir besuchten kein Restaurant mehr, und schon gar nicht den Fasnets­ball unseres Narrenvereins. Karin redete mit anderen Menschen nur noch, was notwendig war, korrigierte gleichgültig Simone, wenn sie es für angebracht hielt, und auch mit mir sprach sie kaum noch. Ich erhielt leidvolle Blicke mit stummen Vorwürfen. Ich hätte den Jungen an diesem Tag nicht fahren lassen dürfen, vor al­lem nicht mit einem Kasten Bier im Gepäck, welch eine dumme Idee von leichtsinnigen Freunden – was waren das überhaupt für Kinder? – sich mit Alkohol in einen Wald zu verdrücken, an einen kalten Bach, ich hätte mich nicht genug um Ricos Erziehung ge­kümmert. Dabei gab es bei ihm nichts zu erziehen. Er tat meistens von selbst, was er sollte, in anderen Fällen, wenn man mit ihm darüber sprach, war er einsichtig. Er kam nie zu spät nach Hause, murrte nicht über zu wenig Taschengeld, hatte mit keinem Streit, außer mit seiner Schwester, und das recht heftig, obwohl sie fünf Jahre jünger als er war.

      Mit Simone ist das alles ganz anders gewesen. Um ihre Erziehung hätte ich mich mehr kümmern müssen. Wenn es denn möglich ge­wesen wäre. Simone hat sich nicht erziehen lassen. Bereits als kleines Kind machte sie, was sie wollte, und war oft nur mit Ge­walt ins Bett zu bekommen. Als Mädchen hatte sie andere An­sichten als ihre Eltern über Kleidung, wann gegessen werden sollte, über Ordnung in der Wohnung und besonders in ihrem Zimmer, wann sie abends nach Hause zu kommen hatte, mit wel­chen Freunden sie unterwegs war. Mit dreizehn Jahren ist sie mir wie eine erwachsene Frau vorgekommen, mit kräftiger Figur und voll entwickelten Brüsten. Von wem aus unserer Sippe hatte sie ihre strohblonden Haare geerbt?

      Aber die ließ sie sich eines Tages abrasieren. Nur einen Strei­fen stachelig frisierter Haare von der Stirn bis zum Nacken hatte sie stehen lassen und rot und blau und gelb gefärbt. Was die Nachbarn dazu sagten oder ihre Lehrer, sei ihr scheißegal, und die Meinung ihrer Eltern interessiere sie nicht, wir seien einfältige Spießer, würden nichts begreifen und verstünden vom Leben rein gar nichts. Da war sie fünfzehn. Ihre aufgedrehte Stereoanlage, die jaulenden Gitarren und Lieder mit brutal anmutenden Texten, das war keine Musik, sondern Körperverletzung, haben wir durchge­hen lassen, trotz wütender Nachbarn. Aber sie begann Kleider zu tragen, die wir nicht gekauft hatten und die sie mit ihrem Taschen­geld nicht hätte bezahlen können und die wir niemals hätten erlau­ben dürfen. Abgewetzte,