Oliver Uhrig

Mythos Kaschmir


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      Mythos Kaschmir - Vom Paradies der Mogulen zum Konfliktherd Südasiens

      Medienbüro Rhein-Neckar

       69121 Heidelberg

       Copyright@ 2014 Oliver Uhrig

      Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

      Cover-Bild und Gestaltung: Oliver Uhrig

      Alle Fotografien und Grafiken: Oliver Uhrig

      ISBN: 978-3-7375-1000-4

      Lizenzbedingungen

      Alle Rechte liegen bei: Oliver Uhrig, Freier Journalist. Jede Vervielfältigung, Konvertierung und Weiterverbreitung des Werkes bedarf der Zustimmung des Urhebers. Bitte kopieren Sie dieses Werk nicht, und geben Sie es nicht als Kopie - auch nicht in konvertierter Form - an Dritte weiter. Es steckt viel Arbeit in dieser Publikation, und der Mensch lebt nicht von Luft und Liebe…Vielen Dank!

      Vorwort

      Als wir im Jahr 1995 zum ersten Mal gemeinsam nach Kaschmir reisten, waren wir noch Studenten der Ethnologie und befanden uns in der Vorbereitung zu unseren Magister-Arbeiten. Unvorhergesehene Umstände führten uns nach Srinagar, der Hauptstadt des Kaschmir-Tals, wo wir von der Zwiespältigkeit unserer Wahrnehmungen frappiert waren. Wie war es möglich, dass in solch einer lieblichen Umgebung derart unerfreuliche Lebensumstände herrschten? Allenthalben waren Bombenexplosionen oder das Knattern von Gewehrsalven zu vernehmen. Der Blick vom Hausboot verhieß Ruhe und Frieden; ein Besuch in der Altstadt offenbarte Hass und Gewalt - inmitten einer jahrhundertealten Kulisse, die jedem Touristen das Herz höher schlagen lässt. Was ging hier vor sich? Hatten die Menschen in Kaschmir nicht allen Grund, zufrieden und glücklich ihren Geschäften nachzugehen? Immer noch kamen zu jener Zeit westliche Touristen nach Kaschmir; die fünf Europäer, die wenig später ermordet werden sollten, darunter auch ein Deutscher, waren zu diesem Zeitpunkt noch frei und genossen das vermeintliche „Paradies Kaschmir“.

       Unsere Erlebnisse warfen mehr Fragen auf, als wir in kurzer Zeit beantworten konnten. Wir suchten Abhilfe in diversen Buchhandlungen Srinagars und daheim, in der Fachbibliothek des Südasien-Instituts der Universität Heidelberg. Schnell wurde klar, dass das Informationsangebot zum Thema „Kaschmir“ recht eingeschränkt war. Wissenschaftliche Werke befassten sich mehrheitlich mit historischen Perspektiven des Konflikts und traditionellen Lebensformen der Kaschmiris. Erst allmählich hielt der aktuelle - gewaltsam ausgetragene - „Kaschmir-Konflikt“ Einzug in die wissenschaftliche Literatur. Ein Anfang; visuelle Eindrücke waren jedoch von diesen Publikationen nicht zu erwarten. Die Informationen blieben größtenteils akademisch abstrakt. Auf der anderen Seite beließen es die wenigen „populären“ Buchveröffentlichungen über Kaschmir meist bei mehr oder weniger „paradiesischen“ Fotos, oder aber sie kamen in Form individueller Reiseberichte daher. Letztere häufig mit kulturellen Vorurteilen und Halbwissen gespickt. Zwei Ausnahmen, die auch Einfluss auf die Idee zu diesem Buch haben, sind der hervorragende Fotoband „Kashmir“ von Raghubir Singh sowie die bereits im 19. Jahrhundert verlegte Monografie „The Valley of Kashmir“ des britischen Kolonialbeamten Walter Lawrence. Wenn es gelänge, ein Buch über das Kaschmir-Tal zu schreiben, welches die Vorzüge dieser beiden Publikationen in sich vereint, so unsere Überlegungen in der Folge, hätte der Leser eine Informationsquelle, die unterschiedliche Ebenen dieser Kultur und ihre publizistische Darstellung miteinander verknüpft. Visuelle Eindrücke, Fotografien in Verbindung mit Geschichten, Beobachtungen und Fakten. Informationen, welche die Leser zunächst über das Auge erreichen, um das optisch Wahrgenommene in Verbindung mit korrespondierenden Artikeln in einen tieferen, kulturrelevanten Zusammenhang zu stellen. Die Idee zu diesem Band war geboren. Für die Umsetzung dieses Projektes wurden jedoch zunächst wissenschaftliche Forschung und zahlreiche Reisen nach Kaschmir notwendig.

       Erst die langjährige Interaktion mit Kaschmiris, Indern und Deutschen, Wissenschaftlern und Privatpersonen sowohl in Kaschmir als auch in Indien und Deutschland machte dieses Buch überhaupt erst möglich. Der vorliegende Band ist keine ethnologisch-wissenschaftliche Monografie, aber ein Buch, dessen Schlussfolgerungen auf ethnologischen Erkenntnissen und deren Interpretationen beruhen. Es ist kein Buch, das den Anspruch hat, alle relevanten Fragen der Geschichte, der Kultur und des Konflikts im Kaschmir-Tal erschöpfend zu behandeln. Vielmehr ist es unser Bestreben, in exemplarischer Form gewisse Bereiche der Geschichte, des Lebens und des Leidens zu beleuchten, die nach unserer Auffassung zum gesellschaftlichen Selbstverständnis vieler Menschen in Kaschmir beitragen. Daher haben wir uns bemüht, wo möglich, die Sichtweisen der Bewohner Kaschmirs einzunehmen, die auch deren Widersprüche, Vorurteile und gesellschaftliche Polyphonie beinhalten. Wichtig war uns hierbei weniger stringente Wissenschaftlichkeit als vielmehr die Verständlichkeit der entsprechenden Fakten, Meinungen und Handlungen in und über diese Region. Ist im Verlauf dieses Bandes von „Kaschmir“ die Rede, so beziehen wir uns dabei ausschließlich auf das indisch verwaltete „Kaschmir-Tal“, denn es ist diese Region, welche in der Regel sowohl mit dem Paradies per se als auch mit dem Konflikt zwischen Indien und Pakistan assoziiert wird. Dieses Buch soll den Leser ermutigen, sich auf eine spannende Kulturreise zu begeben. Eine Begegnung, die ihn mit eigenen touristischen Träumen, aber auch mit kulturellen Vorbehalten konfrontiert. Eine Konfrontation, die letztlich den Schlüssel bietet für verantwortliches und erlebnisintensives Reisen, differenzierte Wahrnehmung des „Fremden“ und kritisches Hinterfragen des eigenen Handelns. Wir hoffen, dem Leser einen Ansatzpunkt zu bieten, von dem ausgehend er eigene Nachforschungen und Überlegungen zur Gesellschaft und dem Konflikt anstellen kann. Dies scheint uns wichtig, da der vorliegende Band unserem kulturellen Verständnis als Europäer, Wissenschaftler und Reisende entspringt.

       Obwohl wir versucht haben, unsere persönlichen Eindrücke in ausgewogener Form wiederzugeben, ist uns durchaus bewusst, dass es keine absolute Objektivität geben kann. Zu vielfältig und vielschichtig sind die Meinungen, Überzeugungen und „Wahrheiten“, die das Leben und den Konflikt dieser Region reflektieren. „Wahrheit“, davon sind wir überzeugt, spiegelt immer die Lebenswirklichkeit desjenigen wider, der sie ausspricht. Wir glauben, dass es mitunter wichtig ist, auch unbequeme „Wahrheiten“ offen auszusprechen, und sei es um den Preis der politischen Incorrectness. Dass es für unsere Ausführungen und Interpretationen nicht nur Zustimmung geben wird, ist uns durchaus bewusst. Das gilt insbesondere für den Bereich dieses Buches, der sich mit dem gewaltsam ausgetragenen „Kaschmir-Konflikt“ befasst. Wir legen jedoch Wert auf die Feststellung, dass es nicht in unserer Absicht liegt, eine der an diesem Konflikt beteiligten Parteien persönlich anzugreifen, wenngleich einige ihrer Verhaltens- und Verfahrensweisen kritisch kommentiert werden müssen. Vielmehr betrachten wir auch die publizistische Form des Diskurses als konstruktiven Ansatz zur Lösung eines spezifischen Problems – nicht nur in Kaschmir. Es ist daher nicht unser Anspruch, die eine, unumstößliche „Wahrheit“ zu präsentieren. Vielmehr möchten wir gerne dem Leser den Teil davon zeigen, welchen wir während unserer Aufenthalte in Kaschmir wahrgenommen, erlebt und mit Einheimischen erörtert haben. Wir möchten Denkanstöße geben. Denn am Ende ist eines sicher: Die „Wahrheit“ hat viele Gesichter. Heidelberg, im März 2014

      Einleitung

      „Wenn es ein Paradies gibt, dann ist es hier“, soll der Mogulherrscher Jehangir (1509 - 1627) beim ersten Anblick des Kaschmir-Tals verzückt ausgerufen haben. Im 19. Jahrhundert etablierte sich der Begriff des „Happy Valley“, basierend auf den Erfahrungen von zur Zwangsarbeit in Baltistan (heutiges Pakistan) rekrutierter Kaschmiris, die sich in der Regel tatsächlich glücklich schätzen konnten, wenn sie „ihr Tal“ lebend wieder sahen. Auch die kolonialen Herrscher aus England hatten Grund zur Freude, wenn sie an Kaschmir dachten. Das kleine Königtum im westlichen Himalaja bot ihnen eine Gelegenheit, der flirrenden Sommerhitze des indischen Subkontinents zu entgehen und stattdessen ihre Zeit mit jagen, fischen und süßem Nichtstun zu verbringen. So etablierte sich über die Jahrhunderte ein Mythos um das kleine Kaschmir-Tal, der dieses Fleckchen Erde mit dem Garten Eden gleichsetzt. Ein fast verborgenes Paradies voll Mystizismus und Exotik, das Abenteurer, Missionare und machthungrige Herrscher gleichermaßen anzog. An einem Knotenpunkt des historischen Handelsnetzes „Seidenstraße“ gelegen, trafen hier zentralasiatische, südasiatische und persische Kulturen aufeinander und formten eine Gesellschaft, auf die sich die jeweils eigenen Vorstellungen der Besucher vom Paradies