Nadja Hummes

Der Wurbelschnurps


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ordentlich in das große Wandregal gestopft. Zwischen die Bastelsachen, die CDs und das Schulzubehör.

      Finella lehnte sich bäuchlings über die Bettkante, ohne allzu weit unter der warmen Bettdecke hervorkommen zu müssen. Mit einer Hand angelte sie nach dem Bastelbuch und zog es zu sich herauf.

      Sie blätterte eine Weile zwischen den Seiten hin und her, bis sie das Buch schließlich aufgeschlagen vor sich liegen ließ.

      „Und jetzt?“ fragte Finella den Wurbelschnurps.

      Der Wurbelschnurps setzte sich auf die aufgeschlagene Seite.

      „Jetzt legst du deinen Finger auf mich“, sagte der Wurbelschnurps.

      Finella tat, wie ihr geheißen war. Sie legte einen Finger auf den winzig kleinen Körper des Wurbelschnurpses, welcher nun emsig zwischen den Zeilen hin und her wanderte. Ganz so, wie ein echter Bücherwurm es zu tun pflegt.

      In einem der geschriebenen Worte kam der Großbuchstabe „A“ vor. Er spazierte über dieses „A“ hinweg. Gleich darauf wechselte er zu einem anderen Wort, in welchem ein kleines „m“ vorkam. Er spazierte auch über jenes „m“ hinweg. So ging es weiter, bis der Name seiner Heimat – Amarythien – vollends buchstabiert war.

      Während der gesamten Zeit lag Finellas Fingerspitze auf dem kleinen Wurbelschnurps und folgte jeder seiner Bewegungen. Sie ließ nicht los.

      Kaum hatte der Wurbelschnurps den letzten Buchstaben passiert, entstand ein sanfter warmer Sog. Schwupps, schon standen die beiden in Amarythien. Na ja, sagen wir mal, der Wurbelschnurps stand. Finella hingegen saß auf ihrem Popo. Ihr war recht schwindelig. Im Gegensatz zum Wurbelschnurps war sie an diese Art des Reisens noch nicht gewöhnt.

      Ein wenig verdutzt schaute sie sich um. Auf den ersten Blick schien es keinen großen Unterschied zwischen Amarythien und der Menschenwelt zu geben. Auch hier gab es einen Erdboden und einen Himmel. Auch hier schien eine Sonne. Vermutlich regnete es auch ab und zu. Da Finella dem Wurbelschnurps allerdings oft und aufmerksam zugehört hatte, wusste sie ganz genau, dass Amarythien sehr wohl anders als die Menschenwelt war.

      Finella musste niesen. Ihre Erkältung hatte mit ihr die Reise nach Amarythien angetreten. Sie seufzte genervt. Die Erkältung hätte ruhig in der Menschenwelt bleiben können. Oder sonstwo.

      Sie rappelte sich auf und folgte dem Wurbelschnurps. In der Tat fiel ihr jetzt einiges auf. Der Weg, den sie entlang liefen, war gelb. Ein hell leuchtendes, freundliches, warmes Gelb strahlte ihnen unter ihren Füßen entgegen. Zusätzlich verstärkte die Sonne das Gelb des Weges durch ihre Leuchtkraft um ein Vielfaches. Links und rechts umsäumten fein geästelte, rote und orangene Sträucher den Weg. Zwischen den Sträuchern wuchsen etliche Blumen. Ihre roten, violetten, gelben und rosa Blütenköpfe reckten sich der Sonne entgegen. Grünes Efeu umrankte ebenso grüne Bäume, die zahlreich in einiger Entfernung hinter den orangenen Sträuchern standen. Die Form ihrer Blätter erinnerte an Wassertropfen. Manchmal auch an die Form der Zahl Acht. Finella staunte.

      Sie genoss jeden Schritt dieses Weges.

      Einträchtig schweigend liefen sie weiter und immer weiter.

      Nach geraumer Zeit wurde die Luft mit jedem Schritt übelriechender. All die grünen Bäume rückten in weite Ferne. Die Blumen wuchsen karger, sie standen nur noch vereinzelt am Wegesrand. Die herrlichen Farben ihrer Blütenköpfe verblassten. Auch die fein geästelten Sträucher sahen karg aus. Ihre orange und rote Färbung wich einem modrigen Braun. Ebenso verhielt es sich mit dem Gelb des Weges. Es wurde langsam, aber unübersehbar dunkler. Mittlerweile sah der Weg eher ocker denn gelb aus. Mit der Zeit lagen immer mehr Klumpen auf dem Weg. Seltsam abstoßende Klumpen, von denen Finella den ganz starken Eindruck hatte, dass sie im Grunde dort nicht hin gehörten.

      Tatsächlich stank die Luft inzwischen entsetzlich und äußerst Ekel erregend, so dass Finella kaum mehr atmen konnte. Doch der Wurbelschnurps lief weiter. Ohne Weg und Steg, durch Klumpen, Pfützen und übel riechende Pampe. Erst als sie an einem großflächigen Morast ankamen, hielt er an.

      „Bitteschön“, sagte der Wurbelschnurps und bedeutete mit seinen Vorderbeinen eine Geste, einer einladend präsentierenden Handbewegung ähnlich. „Das Tal der stinkenden Auswürfe.“

      Finella vermochte kaum zu atmen. Der Himmel zeigte sich schwefelgelb und von Wolken verhangen. Die Wolken hatten eine dunkelbraune Farbe. Sie wurden, obwohl es des Öfteren regnete, kaum kleiner. Doch es regnete kein Wasser, nein. Es regnete dunkelbraune Kackhaufen und gelben Urin.

      Finella war sprachlos. Sie hätte gerne „Iiiiiiiiiihh!“ oder „Uuuuääähhh!“ geschrien, doch selbst das brachte sie einfach nicht mehr fertig.

      „Siehst du. So ist das im Tal der stinkenden Auswürfe“, sagte der Wurbelschnurps. „Jedes Mal, wenn jemand bei euch in der Menschenwelt ‚Scheiße‘, ‚Pisse‘ oder etwas dieser Art sagt, dann regnet es hier eine ebensolche. Manchmal ist die Geruchsbelästigung schon sehr furchtbar.“

      „Das merke ich“, stellte Finella erschlagen fest.

      Jetzt hätte sie gerne einen Schal gehabt, den sie sich vor ihre Nase hätte binden können.

      Der Wurbelschnurps ging unverdrossen weiter. Offensichtlich war er gegen dererlei Unbill auf bewundernswerte Weise immun.

      Ein hohes Bergmassiv umsäumte das Tal der stinkenden Auswürfe. Die Berge bestanden aus einer graugelbgrünen Masse. Auf einigen Bergen klebte ein nasser Schleim. Gelegentlich enthielt dieser sogar einige Bröckchen. Der Schleim roch um keinen Deut besser als die herunter geregneten Kackhaufen.

      „Was ist das?“ fragte Finella, während sie ihre Nase mit der Hand abschirmte.

      „Das“, antwortete der Wurbelschnurps, „sind die speienden Berge. Immer dann, wenn jemand bei euch in der Menschenwelt ‚Es kotzt mich an‘, ‚Zum Kotzen‘ oder na ja, etwas Ähnliches sagt, dann schleudert Erbrochenes aus den Bergspitzen heraus. Das Erbrochene tropft dann an den Bergwänden herunter. Und während es da so herabfließt, erkaltet es natürlich. So entstanden die speienden Berge.“

      Finella verschlug es die Sprache. Der Wurbelschnurps hatte ihr ja schon viel von Amarythien erzählt, doch von dem Tal der stinkenden Auswürfe und von den speienden Bergen hatte er ihr bislang noch nie berichtet. Finella wurde übel. Dermaßen entsetzlich roch es am Fuße dieser Berge.

      „Ist es jedes Mal so, dass in Amarythien…?“ setzte Finella ihre Frage an.

      Der Wurbelschnurps nickte. „Wenn ihr in der Menschenwelt gräulich sprecht, haben wir in Amarythien eine greifbare Geruchsbelästigung.“

      „Au weia!“ entfuhr es Finella.

      „Tja“, seufzte der Wurbelschnurps. „Die einzige Möglichkeit, das Tal der stinkenden Auswürfe und die speienden Berge auszuradieren, ist ein weniger gräulicher Sprachgebrauch in der Menschenwelt. Es gibt aber sehr viele Menschen. In allen Ländern der Erde. Theoretisch müssten alle Menschen zeitgleich aufhören, gräuliche Ausdrücke zu gebrauchen. Theoretisch müssten alle Menschen einen weniger gräulichen Sprachgebrauch fortwährend beibehalten. Praktisch ist das allerdings kaum machbar.“

      „Das stimmt wohl“, erkannte Finella sofort. „Es gibt aber etwas, was man machen kann. Etwas, was ich machen kann. Etwas, was jeder machen kann. Jeder in der Menschenwelt.“

      „Was denn?“ erkundigte der Wurbelschnurps sich.

      „Das ist doch ganz einfach. Ich verwende einfach ein paar gräuliche Ausdrücke weniger. Oder noch besser: Gar keine mehr.“

      „Ui“, staunte der Wurbelschnurps. „Da hast du dir aber etwas vorgenommen.“

      „Och, keine Sorge. Das kriege ich hin. Und weißt du was? Ich bitte einfach jeden, von dem ich gräuliche Worte höre, er möge weniger davon gebrauchen. Wenn ich auf meine Ausdrucksweise achten kann, dann können die anderen Menschen das auch. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch. Also ist es menschenmöglich. Ganz einfach.“

      „Ja, das ist wahr“, antwortete der Wurbelschnurps. „Gut erkannt. Finella,