Nadja Hummes

Der Wurbelschnurps


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sie von den anderen Mitschülern geschnitten. Seltsamerweise schien Martina das kaum etwas auszumachen. Sie saß nach wie vor jeden Tag auf ihrem Stuhl, beteiligte sich aktiv am Unterricht und behandelte Finella so wie sonst auch. Finella fand das gut. Hätten Martina oder die Lehrer sie nach den Mobbingvorfällen anders als vorher behandelt, so hätte permanent ein unsichtbares Schild auf ihrer Stirn geprangt. Das hätte alles nur noch schlimmer gemacht.

      Martinas Eltern hatten einen augeprägten Sauberkeitsfimmel. Eine Tatsache, die Martina manchmal in komische Stimmungsschwankungen versetzte. Es hatte Momente gegeben, in denen sie völlig panisch reagierte. Bloß weil ihr ein paar Brotkrümel und etwas Hüttenkäse auf ihr Poloshirt gefallen waren. Und nach der Sportstunde duschte sie immer besonders lange.

      Sie war nicht wie die anderen aus ihrer Klasse und Finella hegte die vage Vermutung, dass Martina aus diversen ihr unbekannten Gründen auch nicht so sein durfte.

      Andererseits, – wenn Finella es wahrheitsgemäß betrachtete, so musste sie sich eingestehen, dass sie selbst ebensowenig zu den anderen aus ihrer Klasse gehörte. Nicht so richtig. Wohl hatte es Zeiten gegeben, in denen sie gerne dazugehört hätte. Na ja, natürlich nicht zu allen. Nur zu der einen oder anderen Clique. Doch die wollten Finella nicht dabei haben.

      Aber all das hatte sich vor langer Zeit abgespielt. Seit den Mobbingereignissen hatte Finella an Kontakten zu ihren Mitschülern sowieso keinen Bedarf mehr.

      Manchmal sah Martina traurig aus. Finella verstand bloß nicht, woher Martinas Traurigkeit kam. Darum wusste sie auch nicht, wie sie Martina in solchen Momenten hätte trösten können. Sie hatte einmal probiert, Martinas Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass ein paar Krümel nichts anderes als Nichtigkeiten sind, man Kleidung waschen kann und sie doch jeglichen Grund zur Entspanntheit hätte. Zum Beispiel, weil sie regulär tolle Noten schreibt und ihr eine Menge Equipment und Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Finella gab offen zu, dass sie ein paar dieser Annehmlichkeiten und Möglichkeiten selber auch gerne gehabt hätte. Sie missgönnte Martina keine einzige davon. Ganz im Gegenteil. Sie freute sich mit ihr. Seltsamerweise hatte Martina nur abgewinkt.

      Während des vergangenen Schuljahres hatte Finella Martina zu ihrem Geburtstag eingeladen. Zusätzlich hatte sie sie hin und wieder gefragt, ob sie nach der Schule mit ihr schwimmen gehen wolle. Martina jedoch hatte jedes Mal abgesagt. Mal war es der Geigenunterricht, mal der Reitunterricht, mal das Kunstturnen. Finella wusste nicht, was sie davon halten sollte. Selbst an Tagen, an denen Martina keine Kalendereinträge vorlagen, fand kein Treffen statt.

      Auch die Hausaufgaben wollte Martina immer alleine erledigen.

      Hinzu kam, das Martina ihrerseits Finella bisher kein einziges Mal gefragt hatte, ob sie etwas zusammen unternehmen wollten. Geschweige denn, dass sie Finella jemals zu ihrem Geburtstag eingeladen hätte. Finella war sich nicht einmal sicher, ob Martina ihren Geburtstag überhaupt feierte.

      Ihr gegenseitiger Kontakt ging kaum jemals über eine gewisse Schwelle hinaus.

      In der Sitzbank war sie meistens freundlich zu ihr. Manchmal ließ sie sie sogar abschreiben. Und dann wieder gab es Tage, an denen Martina sich zickig, eingebildet, extrem selbstbezogen, überheblich und tyrannisierend gebärdete. Aus guten Gründen mochte Finella dies nicht. An solchen Tagen wurden Finella Martinas unliebsame Charakterzüge bewusst und sie war froh, nicht enger mit ihr befreundet zu sein.

      *

      Als Finella an diesem Tag nach Schulschluss zur Bushaltestelle ging, wurde sie von drei Mitschülern abgefangen. Es handelte sich um zwei Jungen und ein Mädchen aus ihrer Klasse. Tom, Murat und Stefanie, genannt Steffi. Sie drängten Finella zur Seite, während alle anderen zum Schulbus rannten. Finella probierte, an den dreien vorbeizulaufen. Doch Tom und Steffi hielten sie an ihrem Rucksack und an den Armen fest.

      Tom baute sich vor ihr auf. Der Bus fuhr los. Na toll.

      „Na, wään ham' wia denn daaa? D' kleine Pisserin, wo's nicht ap ham kann, wenn'sch Scheiße sach'. Sacht eine, wo selba ständisch Scheiße labat.“ Tom grinste dümmlich. Murat und Steffi johlten.

      „Kann ja nicht jeder unter mangelndem Durchblick leiden! Ist leider 'ne Krankheit der Hirnlosen! Tut mir leid für dich!“ schnauzte Finella zurück.

      Zu dritt schubsten sie Finella von einem zum anderen. Abwechselnd rempelten sie sie an, traten ihr gegen die Beine oder versetzten ihr Stüber gegen die Arme und in den Bauch. Nach endlos langen schmerzvollen Minuten gelang es ihr, sich los zu reißen. Blitzschnell raste sie davon. Tom, Murat und Steffi hinter ihr her.

      „'Sch mach disch färtisch, du Opfa!“ schrie Tom.

      „Wia krian disch!“ brüllte Murat.

      „Schlampe!“ keifte Steffi.

      Finella rannte und rannte. An parkenden Autos vorbei, durch Seitenstraßen, an einer Hecke entlang. Die drei holten auf.

      „Ein Versteck! Ich brauche ein Versteck!“

      Auf die Hecke folgte ein Bretterzaun. Nur verschwommen nahm Finella dies wahr. Der Bretterzaun wurde niedriger. Finella musste nicht lange überlegen. Noch während sie rannte, holte sie Schwung, stützte eine Hand auf den Zaun und schwang sich herüber.

      Sie landete in unbekanntem Grün, duckte sich und wagte kaum zu atmen. Kurz darauf hörte sie Tom, Murat und Steffi an dem Zaun vorbeirennen. Sah, wie diese am Ende der Straße links abbogen und verschwanden. Finella keuchte. Sie atmete auf.

      Schon durchfuhr sie ein neuer Schreck. Eine feste Hand griff in den Rücken ihrer Jacke. Finella fuhr herum. Die Hand gehörte zu einem älteren Mann. Er hatte weißgraue Haare und trug eine dunkle Kappe auf seinem Kopf.

      „Hey! Was soll das? Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“

      „Momentchen mal! Die Fragen stelle ich hier. Schließlich ist das mein Garten. Du hast meine Beete ruiniert! Was fällt dir ein?!“

      „Bin ja schon wieder weg.“

      „Nichts da! Du bleibst schön hier!“

      „Ich soll nicht mit fremden Männern sprechen. Und mit fremden Männern mitgehen, soll ich schon mal gar nicht. Das hat mir meine Mama schon eingetrichtert, als ich noch in den Kindergarten ging. Also lassen Sie mich gefälligst los!“

      „Das hättest du dir vorher überlegen müssen!“ Er hielt sie weiter fest.

      Finella fischte ihr Handy aus der Jackentasche. Ohne Zögern rief sie ihre Mutter an. Nur im Notfall, hatte Mama gesagt. Auf der Arbeit anrufen: nur im Notfall. Dieses hier war eindeutig ein Notfall.

      „Geh dran, Mama. Bitte, bitte, geh dran“, flehte sie.

      Die Stimme ihrer Mutter erklang. Sie hatte den Anruf tatsächlich entgegen genommen.

      „Mama?! Er lässt mich nicht weg! Ich habe ihm gesagt, dass es keine Absicht war, aber er lässt mich hier nicht weg! …“ Weiter kam Finella nicht.

      Die noch freie Hand des Mannes griff nach ihrer. Sie ließ das Mobiltelefon nicht los.

      „Finella? Was ist los? Wer? Ich verstehe kein Wort. Weswegen rufst du an?“ klang es ihnen aus dem Telefon entgegen.

      „Sind Sie die Mutter von diesem randalierenden Mädchen?“

      „Wer sind Sie? Ich möchte sofort wieder mit meiner Tochter sprechen!“

      „Wilhelm Hauke mein Name. Ihre Tochter hat mir meinen Garten ruiniert. Ich verlange Schadensersatz.“

      „Schadensersatz?“

      „Jawohl, Schadensersatz. Die Rosen, die Tomaten, der Salat, alles hinüber. Also kommen Sie bitteschön hierher, holen ihr Kind ab und erstatten mir das. So geht's ja nun nicht!“

      „Geben Sie mir sofort meine Tochter!“

      „Ich bin hier, Mama. Holst du mich bitte ab? Bitte!“ schrie Finella in den Hörer.

      „Ja, das sollten Sie wohl besser. Holen Sie Ihre Tochter hier ab. Dann klären wir alles Weitere“, setzte Herr Hauke nach.