Nadja Hummes

Der Wurbelschnurps


Скачать книгу

      „Ich bin unterwegs. Wilhelm Hauke, Schrebergarten 19, Kleingartenanlage ‚Zur friedlichen Taube‘. Richtig?“

      „Richtig. Sie müssen für den Schaden haften. Und seien Sie unbesorgt, ich tue Ihrem Kind nichts.“

      „Bin unterwegs.“

      Wilhelm Hauke drückte das Hörer-Symbol. Es piepste. Er hatte das Gespräch beendet. Finella starrte ihn an.

      „Das ist mein Handy! Meines!“ empörte sie sich.

      „Ich weiß“, erwiderte Herr Hauke, gab Finella ihr Handy zurück und wies in Richtung Gartenlaube.

      Es war ein kleines Steinhaus, welches wohl gerade genug Platz für das Nötigste bot. Herr Hauke öffnete die Tür und sogleich standen sie direkt in einer Art Wohnstube. Dort setzte er Finella auf einen Holzstuhl, der vor einem Tisch stand. Er selbst nahm auf der hölzernen Sitzbank Platz.

      An den Wänden rings herum hing ein eigentümliches Sammelsurium aus rustikalem Allerlei. Alte massive Holzräder, die irgendwer mit Metallhaken versehen hatte, so dass man nun Mäntel oder Regenschirme oder dergleichen mehr daran aufhängen konnte. Laternen, in denen sich heruntergebrannte Stumpenkerzen befanden. Eine großes altes Thermometer, das neben der Temperatur auch den Luftdruck, die Niederschlagswahrscheinlichkeit und die Windrichtung anzeigte. Blumenkübel, in welchen sich blühende Blumen befanden. Holzrinden in unterschiedlichen Größen, aus denen koboldähnliche Gesichter mit dicken knubbeligen Knollennasen herausgearbeitet worden waren. Kleine weiße Tierschädel, die Geweihe trugen. Ein überschaubares Hängeregal, in welchem vier Teller hinter einem Querbalken standen. Zusätzlich hatte es vier Haken, an denen wiederum vier Becher baumelten. Eine runde Wanduhr, die an einen Kupferteller mittlerer Größe erinnerte.

      Die Zeiger dieser Uhr klackten laut.

      „Deine Mutter kommt gleich“, brummte er.

      Finella war mit ihren Nerven am Ende. Sie begann zu weinen. Wilhelm Hauke reichte ihr ein Taschentuch. Sie schüttelte ihren Kopf. Er legte es auf den Tisch.

      „Erst redet in der Schule keiner mehr mit mir, dann jagen die mich durch die halbe Siedlung und jetzt auch noch du!“ brüllte Finella unter Tränen.

      Herr Hauke rutschte unruhig auf seiner Sitzbank herum, bemüht, die Fassung zu wahren.

      „Sie“, sagte Herr Hauke in einem ruhigen, fast schüchternen Ton. „Es heißt ‚Sie‘.“

      „Du!!!“ brüllte Finella heulend.

      Eine kleine Pause entstand.

      „W… Wilhelm.“

      Nun entstand eine etwas längere Pause. Minuten vergingen. Finella hatte ihren Kopf auf die Tischplatte gelegt und ihr Gesicht auf das Holz gedrückt. Mit beiden Armen umschlang sie ihren Haarschopf.

      „Finella“, sagte Finella schließlich.

      Sie hob ihren Blick und stellte fest, dass dieser alte Mann ein mürrisch herzliches Gesicht hatte. Instinktiv wusste sie, dass er ihr kein Leid zufügen würde.

      Wilhelm rutschte indessen weiter unruhig auf seiner Sitzbank hin und her. Er wusste nicht, was er sagen oder wie er sich verhalten sollte. Mit einem Kind, einem weinenden Mädchen gar, war er schlicht und ergreifend überfordert. Niemand musste Finella diese Tatsache mitteilen oder erklären. Sie konnte es sehen.

      Und Finella konnte ihn nur allzu gut verstehen, denn sie war ihrerseits nicht minder überfordert. Der Ärger in der Schule, der verpasste Bus, die Hetzjagd, der Schrebergarten – uff. Sie schniefte.

      Wilhelm Hauke nickte vorsichtig. Ohne ein Wort zu sagen, deutete er auf das noch immer bereit liegende Taschentuch. Finella griff danach. Sie schnäuzte sich. Wilhelm Hauke schaute etwas hilflos drein. Unbeholfen legte er ein weiteres Taschentuch auf den Tisch. Finella guckte ihn an.

      „Hast du heißen Kakao?“ fragte sie heiser.

      Wilhelm Hauke stand auf und kratzte sich am Kopf.

      In der Gartenlaube gab es eine winzige Kochzeile. In einem kleinen Schrank fand er tatsächlich eine Dose Kakaopulver. Wilhelm Hauke rührte drei Esslöffel davon in etwas Milch ein. Er erhitzte den Kakao, schüttete noch etwas mehr Milch hinzu und reichte Finella daraufhin eine große Tasse heißen dampfenden Kakao an.

      „Geht es dir jetzt besser?“

      „Ja. Etwas.“

      Ein richtiger Opa.

      Opa Hauke.

      *

      Schritte. Mamas Schritte, ganz unverkennbar.

      Herr Hauke nahm Finellas Mutter wohlwollend in Empfang, doch die hatte im Moment keinen Sinn für Freundlichkeiten. Sie wollte sich unverzüglich vom unversehrten Zustand ihrer Tochter überzeugen.

      Finella starrte sehr konzentriert in ihre Kakaotasse. Da war noch gut die Hälfte drin. Sie ließ sich Zeit, nahm ganz kleine Schlückchen. Vornehmlich ohne dabei ihren Blick von der Kakaotasse abzuwenden.

      Zunächst ließ Finellas Mutter sich kaum beruhigen. Die zwei Erwachsenen diskutierten sehr ausgiebig miteinander. Opa Hauke fast durchgehend ruhig und bestimmt. Finellas Mutter meistens hitzig und laut. Nachdem Finella ihren Kakao ausgetrunken hatte, gingen sie allesamt in den Schrebergarten hinaus. Wilhelm Hauke zeigte ihrer Mama die abgebrochenen Rosen und das matschige Gemüse.

      Er sah traurig aus. Sehr traurig.

      Mama schien es kaum aufzufallen.

      Die Erwachsenen einigten sich auf eine Summe, Finellas Mutter schrieb seine Kontodaten auf. Sie sagte ihm zu, die Summe heute nach Feierabend zu überweisen. Herr Hauke nickte, sah jedoch kein bisschen weniger traurig aus. Minutenlang schaute er auf das Beet. Schließlich sah er auf, betrachtete seinen gesamten Garten, dann wieder das Beet.

      Ihre Mutter schob sie aus der Gartenpforte, verabschiedete sich eilig von Herrn Hauke und startete den Wagen.

      „Mein Chef hat mir netterweise eine kurze Pause eingeräumt“, sagte sie, während sie losfuhr. „Ich muss den Zeitausfall nacharbeiten. Ich muss heute Abend länger an der Kasse sitzen.“

      Finella hörte sie kaum.

      Sie sah Opa Hauke.

      Sah, wie traurig er war.

      *

      „Ich habe mit Papa telefoniert“, eröffnete Mama ihr während des Abendbrotes. „Wir sind einer Meinung: Montag spreche ich mit deinem Klassenlehrer. Der muss die drei Gestörten abmahnen.“

      „Oh nein, Mama! Bitte nicht! Weißt du, was dann los ist?“

      „Und bis das stattgefunden hat, bringe ich dich morgens zur Bushaltestelle. So kann niemand dir auflauern.“

      „Mama, nein! Bitte!“

      Doch Finellas Mutter ignorierte die Einwände ihrer Tochter.

      Verzweifelt sackte Finella in sich zusammen. Sie ließ das Abendbrot über sich ergehen und verschwand anschließend in ihr Zimmer.

      Der leichte Anflug eines frohen Lächelns regte ihre Mundwinkel, als sie es betrat. Denn dort, auf ihrem Kopfkissen, saß der Wurbelschnurps. Sie freute sich sehr, ihn endlich wieder bei sich zu haben. Es dauerte auch gar nicht lange, da hatte sie ihm alles erzählt. Er lauschte sorgfältig, nickte ab und an und pustete ihr gelegentlich in ihre Haare. Dieses Pusten tat gut. Es machte das frohe Lächeln in ihren Mundwinkeln etwas beständiger.

      Der Wurbelschnurps krabbelte auf ihre Schulter. Er begann nun, ihr von seinem Besuch beim alten Dorjas zu erzählen.

      Sie lag bäuchlings auf ihrem Bett, betrachtete die Sterne auf ihrem Kopfkissenbezug und hörte ihm aufmerksam zu.

      „In wenigen Tagen macht Dorjas sich auf den Weg zu seiner Schwester“, schloß er seine Erzählung.

      Finella nickte. Sie verstand sehr wohl, dass der alte Dorjas seine Schwester besuchen wollte. Wie