Nadja Hummes

Der Wurbelschnurps


Скачать книгу

      „Was ist das?“ fragte sie den Wurbelschnurps, als sie endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte.

      „Hm?“ machte der Wurbelschnurps. „Oh, das sind die federkristallweißen Haare der Bagots.“

      „Der Bagots? Was sind Bagots?“

      „Na ja, diese orangenen Gestalten da, die zwischen den Haaren hin und her laufen.“

      Angestrengt kniff Finella ihre Augen zusammen.

      Nur mit Mühe erkannte sie hier und da einen winzigen orangenen Punkt inmitten der unzähligen Fäden, die sie nun als die federkristallweißen Haare erkannte. Sie grübelte.

      „Willst du sagen, dass diese kleinen orangenen Wesen…“

      „Bagots.“

      „Willst du sagen, dass diese Bagots einen so enormen Haarwuchs haben, dass sie ihre Haare nach dem Duschen zum Trocknen über den Berg hängen, oder wie soll ich das verstehen?“

      „Aber nein, nein“, lachte der Wurbelschnurps. „Würdest du dich jetzt bitte wieder in Bewegung setzen, Finella? Wir sollten wirklich weitergehen. Es wäre unhöflich, den alten Dorjas so lange warten zu lassen. Unterwegs kann ich dir von den Bagots und den federkristallweißen Haaren erzählen, wenn du möchtest.“

      „Ja, das mach mal“, erwiderte Finella, während sie ihr Schritttempo wieder aufnahm. „Dann kannst du mir auch gleich erzählen, weswegen wir jetzt diese Strecke nehmen anstatt die, auf der wir vorher unterwegs waren. Bevor ich zu den Worgsens herunterkullerte.“

      „Oh, das ist ganz einfach zu beantworten. Die Strecke, auf der wir vorher gingen, ist nicht ganz so steil.“

      „Wie bitte?!“

      „Na, diese hier hat einen deutlich höheren Anstieg.“

      „He! Ich habe schon auf der anderen Strecke kräftig schnaufen müssen. Wieso nehmen wir denn jetzt diese hier?“

      „Sie ist kürzer. Also führt sie um so schneller zu dem Haus des alten Dorjas. Der Aufenthalt bei den Worgsens…“

      „Der unfreiwillige Aufenthalt! Unfreiwillig!“

      „Der hat uns immerhin ein Weilchen Zeit gekostet. Nunmehr können wir uns die lange Strecke des weniger anstrengenden Anstieges nicht mehr erlauben. Und bevor du jetzt losjammerst, quengelst oder gar schimpfst und zeterst: Spare dir deinen Atem. Du wirst ihn noch brauchen. Sonst bekommst du Seitenstechen oder wirst ohnmächtig oder so etwas.“

      Für einen kurzen Augenblick zog Finella erbost ihre Augenbrauen zusammen. Doch dann hielt sie inne, nickte dem Wurbelschnurps zu, signalisierte ihm durch eine kleine Handbewegung ihr Einverständnis und setzte sich gleich darauf wieder in Bewegung.

      „Um auf deine Frage zurückzukommen…“, begann der Wurbelschnurps. „Nein, die federkristallweißen Haare sind nicht die Haare der Bagots.“

      „Das verstehe ich nicht. Du hast gesagt, es seien ihre.“

      „Nein. Na ja. Vielleicht habe ich mich missverständlich ausgedrückt.“

      „Dir passiert so etwas auch?“

      „Natürlich, Finella. Denkst du, ich sei perfekt?“

      „Nein. Aber du bist so klug und wortgewandt. Ich finde, dir misslingt kaum jemals etwas.“

      „Oh.“ Der Wurbelschnurps errötete. „Ach was, hin und wieder ist auch mein Wissen begrenzt. Und auch ich habe gelegentlich einen Patzer in meinen Formulierungen.“

      „Die hast du aber selten.“

      „Was?“

      „Patzer. In deinen Formulierungen. Erzählst du jetzt weiter? Ich kann nicht so viel reden, während wir bergsteigen.“

      „Ach ja, richtig.“ Der Wurbelschnurps machte eine kleine Pause, ehe er weitersprach. „Hm, die Federkristallweißen und die Bagots. Es verhält sich so, dass die Bagots die federkristallweißen Haare, nun ja… Wie soll ich es beschreiben? Na, man könnte vielleicht sagen, die Bagots verwalten die federkristallweißen Haare.“

      „Verwalten?“

      „So ähnlich. Sie betreuen sie. Sie versorgen sie, wenn sie etwas brauchen. Sie schauen immer mal wieder nach ihnen. Sie passen auf sie auf.“

      „Ich verstehe noch immer nicht“, japste Finella, während sie sich mühevoll in kleinen engen Schritten die Steigung empor schleppte.

      Dem Wurbelschnurps hingegen schien dieser steile Anstieg kaum etwas auszumachen. Leichten Fußes trippelte er emsig voran, während er munter und engagiert vor sich hin brabbelte.

      „Also, Finella, die federkristallweißen Haare sind weder das Haupt- noch das Körperhaar der Bagots. Niemand weiß, woher die federkristallweißen Haare kommen und wieso sie dort an jenem Bergmassiv herunterwallen. Jedenfalls kenne ich keinen Amarythier, der das weiß. Außerdem benennen wir Amarythier sie kaum jemals mit dieser Bezeichnung. Bei uns heißen sie oftmals einfach ‚Die Federkristallweißen‘. Weißt du, die Federkristallweißen sind fast so etwas wie eine eigenständige Lebensform. Ich sage aus dem Grunde ‚fast‘, weil sie ja irgendwo herkommen müssen. Man könnte also vermuten, dass es irgendwo dort in jenem Bergmassiv bereits eine eigenständige Lebensform gibt, zu welcher die Federkristallweißen zugehörig sind.“

      „Seltsam. Wer hat denn so lange Haare? Und so viele?“

      „Tja, es ist schon eigenartig. Selbst die Bagots wissen nicht, woher die Federkristallweißen kommen. Immerhin betreuen die Bagots die Federkristallweißen schon seit Generationen. Zudem leben die Bagots in unmittelbarer Nähe zu den Federkristallweißen. Sie wohnen in den Tunneln und Spalten, die sich in dem Inneren jenes Bergmassives befinden.“

      „Du meinst, diese Berge sind innendrin hohl?“

      „Nein, Finella. In einigen Abschnitten der Berge gibt es ein paar Tunnel und Schächte. Vielleicht auch vereinzelt schmale Höhlen. Das ist alles.“

      „Wie können die Bagots dann dort zurechtkommen?“

      „Es sind hagere Gestalten. Sehr hagere, die selbst durch den schmalsten Gang und die engsten Spalte noch hindurch schlüpfen können. So behende und biegsam sind sie. Da die Bagots in besagten Tunneln leben und es darin häufig kalt und nass ist, haben sie eine sehr dichte Körperbehaarung. Und diese wiederum ist orange. Deshalb kann man die Bagots auch auf eine weite Entfernung noch sehr gut ausmachen. Tja, man könnte sagen, die Bagots haben ein dichtes, warmes Höhlenfell. Es ist mindestens so biegsam, wie sie selbst es sind. Zwangsläufig ist es das. Auch ihr Fell muss durch die Tunnel und Spalten hindurch, wenn die Bagots dort unterwegs sind. Ach, die Bagots sind schon ziemlich merkwürdige Gestalten. Die murmeln und brabbeln eher, als dass sie deutlich vernehmliche Worte sprechen. Außerdem sind sie, wie schon erwähnt, sehr hager. Sie scheinen in ständiger Askese zu leben und nur einmal am Tag eine Mahlzeit zu verspeisen. Also ehrlich, für mich wäre das nichts.“

      „Das glaube ich dir gerne, Wurbelschnurps“, keuchte Finella lächelnd. „Wenn du nicht ab und zu etwas zu beißen bekommst, läufst du nur auf halber Kraft. Ich weiß.“

      Der Wurbelschnurps lächelte ebenfalls. Ohne zu keuchen. Er blickte sie fröhlich an und nickte zustimmend.

      „Wenn man einen Bagot sieht, dann denkt man zuerst, das Fellknäuel sitzt auf einer massigen Körpersubstanz. Man erwartet quasi eine Art spürbaren Widerstand.“

      „Und dann?“

      „Sobald man einen Bagot umfasst, ist es, als versuche man, einen dünne Gardine zu umarmen.“

      „Öff. Das wäre ja fast so, als würde man sich selber die Hand schütteln.“

      „So in etwa.“

      „Ich meine, wenn ich mit meiner Hand nach der Hand eines anderen greife, um diese zu schütteln und da ist dann nichts… das ist doch… nee!“

      „Genau.“