Nadja Hummes

Der Wurbelschnurps


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die anderen langsamer. Jeder in seinem Rhythmus. Das ist nur natürlich, denn ich zum Beispiel bin nicht wie Wranstos. Ich bin kein Worgsen. Und Wranstos ist nicht wie ich. Er ist kein Bücherwurm. Ein jeder beginnt und begeht sein Tagwerk entsprechend seinen Fähigkeiten, Rhythmen und Fertigkeiten. Und wenn es dunkel wird, dann gehen wir schlafen. So einfach ist das.“

      „So einfach ist das?“

      „Ja.“

      „Dürft ihr denn das?“

      „Was meinst du?“

      „Dürft ihr denn das: So aufstehen, wie ihr wach werdet? In eurem Tempo frühstücken? In eurem Tempo das Tagwerk bestreiten?“

      „Wieso sollten wir es denn nicht dürfen?“

      „Gibt das denn keinen Ärger? Ist denn nie jemand böse auf euch oder unzufrieden mit euch, wenn ihr das alle so macht?“

      „Nein. Wieso sollte man denn böse oder unzufrieden mit uns sein?“

      „Na ja… ich meine… Ist denn nie mal einer faul und lässt sein Tagwerk unerledigt liegen? Oder versucht, es den anderen aufzubürden? Oder macht so viel Pfusch bei seiner Arbeit, dass sein Werk schon nach kurzer Zeit hinüber ist oder von vorneherein nicht so funktioniert, wie es funktionieren soll?“

      „Nein! Wie kommst du denn auf so etwas? Erstens würde es demjenigen Amarythier sehr rasch langweilig werden, immer nur faul zu sein. Zweitens merkt ein jeder recht bald, dass es ohne Tagwerk auch keine Früchte desselben gibt. Und würden die Früchte des Tagwerkes ausbleiben, wären wir nach kurzer Zeit missmutig und traurig und sehr unzufrieden. Denn das mag kein Amarythier gerne. Nicht einmal ein Wranstos. Es liegt einfach nicht in unserem Wesen. Drittens käme kein Amarythier jemals auf die Idee, einen anderen Amarythier wider dessen Natur anzutreiben. Hier kommen die Temperaturunterschiede hinzu. Es gibt Amarythier, die im Wasser leben. Es gibt Amarythier, die zu Lande leben. Es gibt Amarythier, die eine Art Winterschlaf halten. Es gibt Amarythier, die schon vor dem ersten Tageslicht wach und munter sind. Ein Amarythier unterscheidet sich von dem anderen und doch greift alles so ineinander, dass es Hand in Hand geht.“

      „Wie wundervoll. So etwas würde in der Menschenwelt nicht funktionieren.“

      „Ja, das habe ich auch schon bemerkt.“

      „Wurbelschnurps?“

      „Ja?“

      „Ich möchte jetzt nicht mehr so viel reden, bitte“, sagte Finella. „Ich muss nachdenken“, fügte sie einigermaßen gewichtig hinzu.

      „In Ordnung“, antwortete der Wurbelschnurps.

      „Und“, japste Finella angestrengt und etwas kleinlaut. „Ich muss mich auf meine Atmung konzentrieren.“

      „Du musst ja auch gar nicht viel reden, Finella. Ich verstehe dich auch so“, erwiderte der Wurbelschnurps, während er etwas länger als gewöhnlich zu ihr herüberschaute. “Außerdem sind wir eh gleich beim alten Dorjas. Da, schau. Dort kannst du schon sein Haus sehen.“

      So war es. Ein einzelnes Haus zeichnete sich deutlich sichtbar auf einem Felsen ab. Das Haus des alten Dorjas.

      Erschöpft, aber glücklich und zufrieden, blickte Finella ihren Wurbelschnurps an. Und ja, sie war auch ein ganz kleines bisschen stolz auf sich. Ihre Beine schmerzten und sie war außerordentlich müde, aber sie hatte es geschafft.

      Kommentarlos griff Finella nach dem Wurbelschnurps und setzte ihn in ihren Nacken, ehe sie ungestüm die letzten Meter zu Dorjas' Hütte hinaufstieg.

      Er aber ließ es sich ohne einen Einwand gefallen.

      *

      Kamin, Bett und Tisch.

      Dies stellte die gesamte Einrichtung der Holzhütte des alten Dorjas dar.

      Nun, wenn man es ganz genau nimmt, stand da noch ein Regal. Neben dem Bett. Und natürlich gehörten Sitzbänke zu dem Tisch, – zwei an der Zahl. Auf eben diesen Sitzbänken saßen sie jetzt.

      Finella, den Wurbelschnurps auf ihrer Schulter, saß auf der einen Bank. Der alte Dorjas, aus seinen klugen Augen herzlich dreinschauend, saß auf der anderen Bank.

      Finella betrachtete eingehend das kleine Holzhaus. Es bestand nur aus einem einzigen Raum, war aber definitiv größer als Opa Haukes Gartenlaube.

      An der Wand zur Linken: der Kamin. Recht groß. Glimmende Scheite in der Feuerstelle. Schmiedeeisernes Kochzubehör auf der Ablage des Kamins. An der Wand zur Rechten: das Regal. Pergamente, Schreibfedern und Vorratstöpfe. Sein Bett stand an der Wand, die an den Bergfelsen anschloss.

      In der gegenüber liegenden Wand war die Eingangstür neben einem großen Fenster eingelassen. Der Tisch samt Sitzbänken stand in der Mitte des Raumes.

      So hatte der alte Dorjas jederzeit einen grandiosen Ausblick. Er konnte das Fenster vom Bett aus sehen. Ebenso, wenn er an seinem Tisch saß. Ja, aus jedem Winkel seines Hauses.

      „Du kannst dir gar nicht vorstellen, Finella, wie schön es hier ist“, sagte der alte Dorjas. „Jeden Morgen sehe ich einen wundervollen Sonnenaufgang.“

      „Schon wieder diese Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge“, bemerkte Finella, halb verwundert, halb belustigt.

      „Oh? Ihr habt unterwegs über die Sonne gesprochen? Oder über Licht?“

      „Mmm“, machte Finella, die nicht an ihr schlechtes Benehmen erinnert werden wollte.

      „Ein wenig“, ergänzte der Wurbelschnurps, während er von ihrer Schulter auf die Tischplatte herunter spazierte und dort Platz nahm.

      Der alte Dorjas fragte nicht weiter nach.

      „Selbst dann, wenn es einmal regnet, kann ich von hier aus die Sonne sehen“, sagte er stattdessen. „Die Luft ist hier so klar und rein, dass es kaum zu beschreiben ist.“

      „Ja. Diese Tatsache habe ich schon während des Aufstieges bemerkt“, bestätigte Finella.

      „Das Tal, in dem meine Schwester wohnt, ist der einzige Ort, der die hiesige Luft in ihrer Reinheit noch überbieten kann“, fuhr Dorjas fort.

      Der Wurbelschnurps nickte energisch.

      „Außerdem bemerke ich hier oben sehr rasch, wenn etwas Besonderes in Amarythien stattfindet“, stellte Dorjas sachlich fest.

      „Weil du so weit schauen kannst?“

      „Ja, Finella. So ist es.“

      „Aber von noch weiter oben könntest du noch weiter schauen. Wieso hast du deine Holzhütte nicht auf dem Gipfel des Berges gebaut?“

      „Ah Finella, das ist ganz einfach. Die Gipfel dieser Bergkette gehören den Mandelas. Das respektiere ich. Dort gehe ich nicht hin.“

      „Wer oder was sind denn Mandelas?“

      „Tja. Gute Frage. Hm. Ich könnte behaupten, es seien Vögel. Doch das trifft es nicht ganz.“

      Nun schaltete der Wurbelschnurps sich in das Gespräch ein.

      „Diejenigen Tiere, die du in der Menschenwelt als Vögel kennst, haben Federn. Die Mandelas haben keine Federn“, erklärte er ihr.

      „Wie sehen sie denn aus?“

      „Groß“, antwortete Dorjas. „Viel größer als eine Amsel in eurer Welt.“

      „Hm“, machte Finella.

      „Finella? Weißt du noch, dass wir neulich gemeinsam im Tierpark waren?“

      „Ja, Wurbelschnurps.“

      „Unter anderem gab es dort auch Aquarien. In einem der Bassins schwammen flache Fische umher. Man konnte kleine Wellen an ihren Flossen entlang gleiten sehen.“

      „Ja. Ich erinnere mich gut.“

      „‚Blaupunktrochen‘ stand auf dem Schild. So sehen die Mandelas aus. Fast ganz