Nadja Hummes

Der Wurbelschnurps


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oder Sorgen oder ein Zipperlein oder einfach nur Langeweile hat, oder auch wenn es Neuigkeiten gibt oder ein Fest ansteht –, dann gehen viele zum alten Dorjas. Ihm ist das gar nicht immer so recht. Hin und wieder sagt er ihnen das auch. Je nachdem, wer sich in welcher Angelegenheit wie oft an ihn wendet. Aber ich schweife wohl gerade ein wenig von unserem Thema ab.“

      „Ja.“

      „Worüber sprachen wir doch gleich?“

      „Über die Bagots.“

      „Richtig. Also: Einmal, ein einziges Mal, wurde der alte Dorjas zu den Bagots gerufen. Einer der Bagots war gestürzt, während er seine Arbeit an den Federkristallweißen verrichtete. Die Federkristallweißen hielten ihn. Noch ehe diese arme Gestalt in der Tiefe aufgeschlagen wäre, hatten die Federkristallweißen sich zu einem Netz verwoben“, erzählte der Wurbelschnurps ihr mit einem nachdenklich erstaunten Gesichtsausdruck. „Blitzschnell. Einfach so. Niemand weiß, ob und wie sie sich verständigen. Auch ob und wieviel sie von ihrer Umwelt wahrnehmen, ist keinem bekannt. Aber das müssen sie wohl. Anders kann ich mir die Reaktion der Federweißen nicht erklären. Ein anderer Bagot, der ebenfalls dort seine Arbeit verrichtete, stand dabei und hatte all das gesehen. Daraufhin schickte er nach dem alten Dorjas, während er sich bereits an einem Tau aus Federkristallweißen abseilte. Gemeinsam haben sie den Bagot wieder nach oben gebracht und für dessen Genesung gesorgt. Als er wieder ganz gesund war, bedankte er sich bei dem alten Dorjas und nahm ihn aus diesem Grund in die Arme. Der alte Dorjas umfasste also den Bagot und… erschrak ein wenig.“

      „Wusste er denn nicht, wie wenig Körper unter dem Fell ist?“

      „Nein.“

      „Aber er hat ihn doch zusammen mit dem anderen Bagot verarztet?“

      „Ja. Aber Dorjas hat ihn nicht angerührt. Er hat dem Bagot erklärt, wie und womit er dessen Artgenossen versorgen muss. Er hat Tränke und Salben zubereitet, aber den Bagot selbst hat er nicht angerührt.“

      „Aha?“

      „Ja. Nur Bagots dürfen Bagots anrühren.“

      „Aus welchem Grund? Ist das ein Gesetz?“

      „Nein.“ Der Wurbelschnurps musste lachen. „Das hat einen sehr viel banaleren Grund.“

      „Welchen?“

      „Es ist deren Schutzmaßnahme. Sie zerbrechen sonst.“

      „Sie zerbrechen?“

      „Ja, Finella. Die Bagots leben dort oben seit Generationen. Sie müssen in der dünnen Luft atmen und in den schmalen Tunneln und Spalten zurechtkommen und häufig zwischen den Federkristallweißen umherlaufen können und so weiter. Ihr Körperbau hat sich von Generation zu Generation mehr und mehr auf diese Lebensbedingungen eingestellt.“

      „Ach so, du meinst eine Anpassung. Das hatten wir in der Schule.“

      „Vortrefflich. Wirklich vortrefflich.“

      „Was genau ist denn vortrefflich? Die Tatsache, dass wir das Thema Evolution und Anpassung in der Schule hatten oder dass ich von diesem Thema tatsächlich etwas behalten haben?“

      „Die Tatsache, dass ihr in der Schule derartige Themen abhandelt.“

      Frustriert sackte Finella in sich zusammen. Insgeheim war sie nämlich fast ein wenig stolz gewesen, tatsächlich einmal etwas gewusst zu haben. Sie hatte auf eine lobende Erwähnung, eine Anerkennung seitens des Wurbelschnurpses gehofft. Doch sie sah ein, dass Lernen und Wissen eher der Regelfall sein sollte, denn eine erwähnenswerte Ausnahme.

      „Hach, ich würde mir deine Schule so gerne einmal ansehen“, riss der Wurbelschnurps sie unbeabsichtigt aus ihren Gedanken. „Du erzählst so viel davon. Beinahe jede Woche.“

      „Ich muss ja auch jede Woche hin“, erwiderte Finella halb maulig, halb belustigt. „Wie ging es weiter, nachdem der alte Dorjas den Bagot umfasst hatte?“

      „Wie gesagt, er erschrak fast ein wenig.“

      „Und dann?“

      „Er hütete sich, den Bagot zu drücken. Er beließ es bei dem Umfassen des Bagots, wurde kurz von ihm gedrückt und ließ ihn gleich darauf wieder los. Die umstehenden Bagots umarmten den alten Dorjas nicht. Sie lachten erleichtert oder verbeugten sich oder klatschten in ihre Hände oder wedelten fröhlich ihre Arme in der Luft oder übergaben ihm Geschenke oder murmelten und brabbelten unablässig in ihrer typischen Bagotmanier, – aber sie umarmten ihn nicht. Und sie schüttelten ihm auch nicht die Hand. Auf diese Weise bedankten die Bagots sich bei dem alten Dorjas und verabschiedeten ihn. Gleich darauf machte er sich wieder auf den Heimweg.“

      „Hat er auch gesagt, wie es sich anfühlt, von einem Bagot umarmt zu werden? Oder hat er dir nur davon berichtet, wie es ist, einen Bagot zu umarmen?“

      „Oh, er hat durchaus davon erzählt. Der alte Dorjas war so gut wie fassungslos. Im Grunde hat er nur darauf geachtet, wann die Umarmung beendet war.“

      „Um überhaupt feststellen zu können, dass er gedrückt wude?“

      „Exakt. Hätte er nicht festgestellt ‚Aha, jetzt ist der Körperkontakt also beendet‘, so hätte er nicht gewusst: ‚Aha, dann muss das vorher also eine Bagot-Umarmung gewesen sein.‘ Er hat kaum etwas gespürt. Eher so etwas wie ein aufgeplustertes Fellknäuel, das plötzlich zerpufft.“

      „Vielleicht so, wie eine buschige Perserkatze. Oder wie ein fülliger Hund, der in einen Teich springt und als nasse Bohnenstange wieder herauskommt“, überlegte Finella.

      „Nein. Glaube mir, Finella. Selbst die haben mehr Körpersubstanz als ein Bagot.“

      „Au weia.“

      „Tja. Das sind Bagots. Ich verstehe vollkommen, was du meinst, Finella.“

      „Du, Wurbelschnurps“, sagte Finella und hielt inne. „Ich wüsste gerne, was es mit den Federkristallweißen auf sich hat.“

      „Das kann ich gut verstehen, Finella. Mir geht es ebenso.“

      „Hmmm. Wen könnten wir fragen? Wo könnten wir hingehen, um etwas über die Federkristallweißen in Erfahrung zu bringen?“

      „Ich weiß es nicht. Ich gestehe, ich habe schlichtweg keine Ahnung.“

      „Hmmmmm.“

      „Du, Finella?“

      „Ja?“

      „Würdest du mir davon erzählen, wenn du etwas über die Federkristallweißen in Erfahrung bringst?“

      „Du stellst Fragen, Wurbelschnurps! Klar! Natürlich erzähle ich dir davon! Das versteht sich doch von selbst!“

      „Ja.“ Der Wurbelschnurps lächelte glücklich. „Da hast du Recht. Können wir dann weitergehen? Wir sind schon ziemlich spät dran.“

      „Wie kommst du darauf?“ erkundigte Finella sich ernsthaft.

      „Die Sonne hat den Zenit bereits passiert. Weißt du denn nicht um die Sonnenuntergänge in den Bergen?“

      „Nein. Wurbelschnurps. Ich habe diese Berge noch nie zuvor besucht. Wie soll ich denn da um die Sonnenuntergänge in den Bergen wissen?“

      „Aber in der Menschenwelt gibt es doch auch Berge?“

      „Schon.“

      „Dort habt ihr doch auch Sonnenuntergänge?“

      „Ja, schon.“

      „Wieso weißt du dann so wenig darüber?“

      „Jetzt hör auf, Wurbelschnurps!“ schnauzte sie ihn mit einem Male an. Einmal mehr wurde ihr ihre eigene Unzulänglichkeit bewusst. Tiefe Beschämung erfasste sie. Schmerzende Beschämung, die sie zu verbergen suchte. „Ich kann doch nicht alles wissen!“ setzte sie patzig verstockt hinzu.

      „Nein. Das musst du auch nicht“, erwiderte der Wurbelschnurps. Er sagte es