Andy Hermann

Wo ist deine Heimat?


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fingerte ihr Smartphone aus der Tasche um ihre Mutter anzurufen, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie den Laden finden sollte, in dem das Traumkleid ihrer Mutter hing. Anke hatte das viel zu vage beschrieben. „Irgendwo auf der zweiten Galerie“, hatte sie gesagt.

      „Nimm die Rolltreppe und komm herauf“, war die Antwort ihrer Mutter, „Ich kann dich von oben schon sehen, wo bleibst du nur so lange.“

      Anke machte Stress, das war das einzige, was sie an ihrer Mutter hasste. Da hatte sie sich nach einem langen Schultag mit der überfüllten S-Bahn ins Zentrum gequält und zerging hier fast vor Hitze, und dann noch Vorwürfe. Das Leben war nicht fair. Ober ihr konnte sie nur Weihnachtsdekoration sehen, ihre Mutter war nicht auszumachen.

      Sie wollte die Kleideraktion rasch hinter sich bringen und drängte auf der Rolltreppe an vielen Leuten vorbei nach oben. Erste Etage, und hinüber zur anderen Rolltreppe, zweite Etage und dann stand sie unvermittelt vor ihrer Mutter, die auf ein Kleid in einer Auslage deutete und statt einer Begrüßung sagte: „Na, wie gefällt es dir, ist es nicht wunderhübsch, es passt perfekt zu dir.“

      Genau in der Mitte der Auslage einer teuren Boutique hing ein wunderschönes gelbes Ballkleid mit Spitzenbesatz und einem eng geschnittenen tief dekolletierten Oberteil aus gelbem Satin.

      „NEIN“, entfuhr es Vera, „KEIN GELBES KLEID“!

      Ein Gedankensplitter an ein gelbes Minikleid stieg in ihr hoch, sie wusste nicht warum, bekam aber plötzlich die Panik. Dieses Gelb vom Ballkleid war genau dasselbe, wie von dem Minikleid, dass sie in einem kurzen Flash Back deutlich vor sich sah. Ein Gefühl von Tod und Sterben durchflutete sie, ihr Verstand setzte völlig aus.

      „Weg, nur schnell weg“, war der einzige Gedanke, der in ihrem Kopf war. Die Unlogik ihres Verhaltens drang nicht in ihr Bewusstsein.

      Sie drehte sich ruckartig vom Ballkleid und ihrer Mutter weg und begann zu laufen, während ihre Mutter ihr fassungslos nachsah und rief, „Vera, was hast du, wir können ja auch ein anderes Kleid kaufen, wenn du so dagegen bist“. Doch Vera hörte nicht, was ihre Mutter rief, sondern rannte unbeirrt weiter und rempelte dabei einige Leute, die ihr im Weg standen, unsanft beiseite. Völlige Panik hatte sie erfasst.

      Hier oben auf der zweiten Etage war das Gedränge nicht ganz so schlimm, wie unten im Erdgeschoss, so dass Vera schon etliche Meter zurückgelegt hatte, als eine mächtige unsichtbare Faust sie von hinten erfasste und ihre Beine mit Wucht nach vorne geschleudert wurden. Sie verlor das Gleichgewicht, wurde mitgerissen und als die Druckwelle verebbte, krachte sie mit dem Hinterkopf auf den Steinboden und verlor das Bewusstsein. Den dumpfen Knall der Explosion hatte sie nicht mitbekommen.

      Kapitel 2

      Es ist ein unbeschwerter Sommer und es sind Ferien. Eineinhalb Jahre vor den Ereignissen in der Shopping Mall radelte Vera durch die engen winkeligen Gässchen von Othmarschen, einem Hamburger Villenvorort.

      Die Sonne schien heiß, doch unter den schattigen alten Bäumen, die es hier überall gab, war es angenehm kühl und fast ein wenig zu schattig.

      Vera war zu spät dran, sie war zum Tennis verabredet und hatte sich mit ihrem Tablet in der Zeit vergoogelt und in ihrer Community zu lange Messages getauscht. Zuerst Tennisstunde und dann eine Partie mit Marie, ihrer besten Freundin. Und der Tennislehrer schätzte es gar nicht, wenn sie zu spät kam. Da könnte sie sich wieder etwas anhören, von wegen Pünktlichkeit.

      Sie beeilte sich mächtig und trat kräftig in die Pedale. Sie sah nicht nach links und rechts, als aus dem Schatten eines Quergässchens ein anderer Radfahrer wie aus dem Nichts von rechts auftauchte, und seitlich in ihr Vorderrad krachte.

      Dessen Geistesgegenwart war es zu verdanken, dass sie beide nicht zu Sturz kamen, da er Vera gesehen hatte, und eine veritable Notbremsung hinlegte, die aber erst in Veras Vorderrad ihr Ende fand.

      Sie schlitterten mit ihren Rädern ineinander verkeilt schräg über die kleine Kreuzung und kamen erst beim Randstein zu stehen. Beide noch immer die Lenkstangen ihrer verkeilten Räder in der Hand, die Füße aber schon auf dem sicheren Boden.

      „Hast du keine Augen im Kopf, du hast Nachrang!“, rief der unbekannte Radfahrer heftig aus.

      Vera war so erschrocken, dass sie im ersten Moment gar nichts sagen konnte. Dann erst sah sie den Fremden an, der so unmittelbar und ganz nahe vor ihr stand, da die Kotschutzbleche sich ineinander verhakt hatten und noch keiner der beiden abgestiegen war.

      Es war ein hübscher junger Mann mit rabenschwarzem Haar mit einer angesagten Igelfrisur stilisiert, die den richtigen Kontrast zu seinem dunklen Dreitagesbart abgab. Das enganliegende Radtrikot verdeckte einen muskulösen und trainierten Oberkörper.

      Er sah Vera an, die sich nur rasch ein T-Shirt zur Radlerhose übergeworfen hatte, denn ihre Tennissachen hatte sie im Club, wie wenn er noch nie ein Mädchen so nahe gesehen hätte.

      Vera, die sich nun von ihrem Schreck erholt hatte, erkannte sehr rasch, dass sie Nachrang gehabt hatte und sah ihrerseits den jungen Mann groß an.

      „Tja, ich glaube, da habe ich nicht geschaut, …“, meinte sie schließlich verlegen.

      „Ich bin Ali“, entgegnete dieser und klang dabei auch recht verlegen.

      „Ich heiße Vera“, erwiderte sie und wunderte sich, wieso sie auf einmal so verlegen war.

      „Migrationshintergrund, na klar“, schoss es Vera politisch korrekt durch den Kopf. „Typischer südlicher Typ, etwas dunkle Hautfarbe, aber irgendwie nett“, dachte Vera weiter.

      „Du sprichst sehr gut Deutsch“, sagte sie, um irgendwas zu sagen.

      „Ich bin hier geboren“, erwiderte Ali mit leichten Unmut in der Stimme. „Mein Großvater ist aus der Türkei eingewandert, schon mein Vater ist hier geboren.“

      „Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen, es hätte ein Kompliment sein sollen.“

      Noch immer standen sie über ihre Räder gezwungenermaßen viel zu nahe zusammen. Vera überlegte, wie sie jetzt ohne peinliche Verrenkungen von ihrem Rad runterkäme ohne an Ali anzustreifen, da die Räder so ineinander verhakt waren, dass sie sie nicht auseinanderbekämen, ohne vorher abzusteigen.

      Beide machten einige hilflose Versuche abzusteigen, ohne den jeweils anderen zu berühren, dann sahen sie sich an und mussten beide plötzlich lachen. Denn die Sache war ja zu komisch, wie sie da an der Straßenecke mit ihren Rädern verhakt standen und keinen Abstand einnehmen konnten. Wenn sie ein Bekannter so sähe, der würde sich was Schönes denken.

      Endlich schaffte es Ali, seinen Fuß über den Sattel zu schwingen, ohne Vera dabei zu streifen. Nun war es auch ein Leichtes für Vera, sich von ihrem Rad zu befreien.

      Nachdem sie ihre Räder getrennt hatten, ging es an die Schadensbesichtigung. Beide Vorderräder waren so kräftig verbogen, dass eine Weiterfahrt ohne Reparatur nicht möglich war. Und beide Räder waren bis eben fast fabrikneu gewesen.

      Vera dachte an ihr Taschengeld, das würde teuer werden. Zwei neue Vorderräder waren zu bezahlen.

      Aber von neuen Rädern wollte Ali nichts wissen, er habe einen Freund, der kenne jemanden in einer Fahrradwerkstatt, das sei kein Problem, die kriegen das hin.

      Denn er wollte Vera wiedersehen, hatte aber keine Ahnung wie, und so war ihm die Fahrradwerkstatt eingefallen.

      Vera wollte protestieren, aber warum, denn eigentlich wollte sie Ali auch wiedersehen, gestand sich den wahren Grund aber nicht ein.

      Die Tennisstunde war ohnehin schon gelaufen, zu Fuß würde sie es nicht schaffen und direkten Bus gab es keinen. Sie schickte eine SMS an den Tennislehrer, in der sie einen Fahrraddefekt angab. Für den konnte sie ja schließlich nichts.

      Ali hatte zur Elbe gewollt, um sich die großen Containerschiffe anzusehen, die dort ständig vorbeifuhren. Auf so einem Schiff wollte er einmal Offizier sein.

      Vera und Ali schoben ihre Fahrräder