Andy Hermann

Wo ist deine Heimat?


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ihrem Leben.

      Irgendwie fand Vera, das könnte endlos so weitergehen. Doch bald waren sie vor ihrer Villa angekommen und Ali meinte beeindruckt: „Wow, in so einem Schloss wohnst du.“

      Vera war peinlich berührt, denn sie dachte, eine solche Villa würden sich Alis Eltern vermutlich nie leisten können.

      „Halb so wild, das Haus ist uralt, nur außen frisch gestrichen.“

      „Du brauchst dich nicht zu verstecken, ich sehe doch, was ich sehe, den Garten, die Doppelgarage, den gepflegten Rasen und die Sonnenschirme, deine Eltern müssen reich sein.“

      „Nein, nur wohlhabend, wir sind nicht reich, da gibt es ganz andere Villen“, wollte Vera ihren Luxus entkräften.

      „Ich wäre auch gerne so reich“, entgegnete Ali entwaffnend ehrlich.

      Dann verabredeten sie sich für den nächsten Tag wegen der Fahrradreparatur und Ali verabschiedete sich von Vera auf höflichste Art und Weise, so richtig altmodisch.

      Vera schob ihr kaputtes Rad möglichst rasch und unauffällig in den Schuppen hinter dem Haus, wo die Räder und Gartengeräte aufbewahrt wurden und beschloss, möglichst nichts über Ali, den Unfall und die missglückte Tennisstunde zu Hause zu erzählen.

      Kapitel 3

      Ali hatte Wort gehalten und am nächsten Morgen das Rad von Vera mit einem kleinen Lieferwagen abgeholt. Ali war schon neunzehn und hatte den Führerschein. Er arbeitete nebenbei bei seinem Vater im Betrieb mit, wollte das Abitur aber irgendwann nachholen.

      Sein Vater hatte einen kleinen Bäckerladen von seinem Vater, Alis Großvater, geerbt und diesen mit viel Fleiß und Geschick zu einer Bäckereikette mit zwanzig Filialen, verstreut im Großraum Hamburg, ausgebaut.

      Alis Großvater war in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aus Ostanatolien mit einem Gastarbeiterkontingent nach Deutschland gekommen und hatte als Arbeiter bei einer der großen Hamburger Werften begonnen. Vom einfachen Hilfsarbeiter hatte er es bis zum ausgebildeten Schweißer geschafft. Dann konnte er gesundheitlich nicht mehr, sein Rücken machte Probleme, er musste den gut bezahlten Schweißer Job aufgeben und erwarb mit seinem letzten Geld einen in Konkurs gegangenen Bäckerladen samt Backstube.

      Da er zwar Schweißen gelernt hatte, aber nach zwanzig Jahren in Deutschland kaum Deutsch sprach, war der Bäckerladen nur für türkische Kunden interessant.

      Aber in der Nachbarschaft gab es inzwischen genug türkischstämmige Einwanderer und das Geschäft blühte rasch auf.

      Seine Frau, die er aus Anatolien hatte nachkommen lassen, war ihm dabei eine große Hilfe. Seine beiden Söhne und seine beiden Töchter halfen ebenfalls im Laden tatkräftig mit, so dass bald die Kunde in der Straße lief, bei ihm gebe es das beste türkische Fladenbrot und die süßesten Ciloglu und Halawa, eine Art süßen Aufstrich, weit und breit.

      Hassan, als ältester Sohn und Vater von Ali, übernahm schließlich den Laden, als sich der Großvater zur Ruhe setzte und baute ihn mit viel Geschick und auch durch seine Verbindungen in der türkischen Community zu der ansehnlichen Bäckereikette aus, die es heute gibt.

      Hassan hatte ein Gespür für das Geschäftliche, obwohl er nur die Bäckerlehre bei seinem Vater gemacht hatte. Aber er konnte schon besser Deutsch und mit dem Magistrat verhandeln, wenn es um die Genehmigung für weitere Filialen ging. Seinen Bruder und seine beiden Schwestern hatte er im Betrieb angestellt, aber Entscheidungen traf nur er alleine, denn er war ja jetzt der Familienälteste.

      Ali war der älteste Sohn von Hassan und sollte natürlich einmal den Betrieb übernehmen, zeigte aber wenig Lust dazu. Er wollte viel mehr die Welt sehen und andere Länder kennen lernen.

      Sein Vater wollte ihn im Geschäft sehen, das war praktischer, als nutzlos in der Welt herumzustreifen. Als Kaufmann könne er helfen, den Bäckereibetrieb größer zu machen, neue Filialen zu gründen und das Vermögen der Familie zu mehren.

      Das alles und noch vieles mehr erzählte Ali Vera, wenn sie sich heimlich trafen. Denn es war eine merkwürdige Art von Beziehung zwischen den beiden entstanden.

      Die Fahrräder waren bald repariert und niemandem in Veras Familie war aufgefallen, dass ihr Vorderrad kaputt gewesen war. Doch sie hatte Ali danach wiedersehen wollen und ihn ganz direkt nach seiner Mobilnummer gefragt, was diesen heftig verwirrt hatte. Denn dass ein Mädchen die Initiative ergriff, kam in seinem Umfeld einfach nicht vor. Mädchen hatten schön brav zu Hause zu bleiben und zu warteten, bis sie an der Reihe waren und verheiratet wurden.

      Aber bei Vera war für Ali alles anders. Er freute sich darauf, mit ihr zusammen sein zu können und mit ihr einfach nur zu plaudern.

      So saßen sie in den Ferien einfach Nachmittage lang zusammen am Elbstrand und unterhielten sich. Vera erzählte von ihren Medizinplänen und Ali träumte davon, Schiffsoffizier zu werden. Naschmittags hatte er Zeit, denn sein Vater hatte ihn zur Auslieferung an die Filialen in den Morgenstunden eingeteilt, und da gab es ab späten Vormitttags nichts mehr zu tun. Alis Vater zeigte Verständnis, wenn sein Sohn nicht die ganze Zeit mit der Bäckerei zu tun haben wollte, das würde schon noch kommen, dachte er.

      Ein seltsamer Zauber hielt die beiden umfangen und das Herzklopfen, dass sie immer deutlicher spürten, wenn sie sich trafen, wollten sie so genau nicht deuten. Es blieb alles offen und unbestimmt, aber die Abstände ihrer Treffen wurden immer kürzer. Aber beide vermieden das Thema, wie es mit ihrer Beziehung weitergehen solle und gestanden sich ihre Verliebtheit noch nicht ein.

      Ali hatte das Gymnasium verlassen müssen, aber zum mittleren Schulabschluss, wie die mittlere Reife in Hamburg genannt wurde, hatte es gereicht. Die Lehrer wollten keine Türken haben, war seine feste Meinung. An ihm könne es nicht gelegen haben, er hatte ja sehr gute Noten in Deutsch, die haben die anderen Jungs mit Migrationshintergrund alle nicht gehabt. Aber alle fünf hatten gehen müssen, bei ihm war es wegen Mathe, Physik und Chemie gewesen. Das sind ja alles nur Nebengegenstände meinte Ali verächtlich.

      In diesem Punkt konnte ihn Vera mit ihrem Notenschnitt von 1,2 nicht verstehen. Lernen war für sie das halbe Leben und sie begriff seine Einstellung überhaupt nicht, ließ ihn aber bei seinen Ansichten.

      Ali meinte, das Abitur ja einmal in der Abendschule bei Bedarf nachholen zu können, aber für den Seeoffizier bei der Handelsmarine reiche auch die mittlere Reife, das wisse er. Ali war der erste seiner Familie, der die mittlere Reife geschafft hatte, was er nicht oft genug betonen konnte.

      *

      Hassan, Alis Vater hatte vor einem Jahr ein altes kleines Siedlungshäuschen irgendwo nördlich der Osdorfer Landstraße gekauft. Er wollte raus aus dem türkischen Viertel hinter dem Hauptbahnhof. Er wollte gesellschaftlich aufsteigen, da er ja inzwischen ein erfolgreicher Unternehmer war.

      Jetzt waren sie die einzige türkische Familie in ihrer Gasse, und Ali musste mit dem Bus weit fahren, wenn er seine alten Freunde treffen wollte. Früher hatten sie alle in derselben Straße gewohnt. An ihrer neuen Adresse kannten sie niemanden näher, auch nach einem Jahr gab es nur einige oberflächliche Bekanntschaften. Die Leute waren zwar alle freundlich, aber distanziert und es kam keine Herzlichkeit auf.

      Hassan vermisste sein türkisches Cafe am Hansaplatz, gleich um die Ecke zu seiner alten Wohnung. Jetzt war das nächste Lokal, wo Türken verkehrten, zwei Kilometer von seinem Haus weg. Aber es war OK, sie hatten jetzt ein Haus mit einem kleinen Garten und Hassan durfte sich stolz als Aufsteiger fühlen.

      Seine Frau hatte zu allem ja gesagt, und dem kleinen Bruder von Ali war es auch egal, dem gefiel einfach der Garten, wo Mutter begonnen hatte, Gemüse zu ziehen. Zum Ausgleich ging Hassan jetzt wieder öfter in die Moschee zum Freitaggebet. Da konnte man danach Tratsch und Klatsch austauschen und manchmal auch interessante Gespräche führen.

      Kapitel 4

      So war der Sommer rasch vorangeschritten und bald begann wieder die Schule. Vera würde dann keine Zeit mehr haben, Ali so häufig