Susanne Albers

Ich durfte alles und habe oft teuer bezahlt


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diejenigen, die dort mit dem Auto fuhren, waren fast ausnahmslos unsere eigenen Eltern. Innerhalb von zwei Minuten waren wir im Wald, auf dem Feld, oder an einem Teich der sich Bühringsmoor nannte und konnten machen was wir wollten.

       Für uns war zum Beispiel eine typische Einschränkung: "Wenn ihr im Wald Baumhäuser oder Höhlen bauen wollt, dann dürft ihr keine Nägel in die Bäume schlagen". Außerdem gab es die Auflage, nicht zu nahe an Klein - Bühringsmoor heranzugehen, weil dort eine echte und in dem Sinne gefährliche Moorlandschaft war. Wenn wir abends nach Hause sollten, dann sagten uns unsere Eltern: "Du kommst dann nach Hause, wenn Lolli's Mutter ihn rein ruft". Das funktionierte total prima, denn die Stimme der besagten Mutter reichte kilometerweit.

       Und zur Entlastung der einzelnen Mütter haben wir an einem Tag im Garten von Familie X gespielt und am nächsten Tag war dann der Garten von Familie Y dran.

       Sicherlich haben wir uns genauso gestritten, wie alle anderen Kinder auch, aber unsere Eltern hatten dafür einen prima Trick bereit. Wenn ich zu meiner Mutter ging und herumzeterte, dass Annette mich geärgert hatte, bekam ich als Antwort: "geh zu Annette und vertragt Euch wieder". Als ich erwachsen war, habe ich sie mal gefragt, warum sie niemals Partei ergriffen hat. Darauf antwortete sie: "Ich bin doch nicht blöd, ihr habt Euch doch schon lange wieder vertragen, während wir uns dann mit den Nachbarn streiten."

       So hätte die Kindheit bis zur Jugend und zum Erwachsen werden für mich weiter gehen können. Dem war aber nicht so:

       Im Sommer 1976 waren Annette und ich mit etwa 10 christlichen EC-Jungschar Kindergruppen während der Pfingstferien zu einem Zeltausflug in der Lüneburger Heide. Am frühen Morgen eines der ersten Tage sagte Annette zu mir, dass während der Nacht etwas Beängstigendes und Merkwürdiges mit mir geschehen sei. Ich hätte mich mitten in der Nacht krampfend und keuchend um die Zeltstange in der Mitte des Zeltes gewunden; dabei sei Speichel aus meinem Mund geflossen und ich hätte mich sehr komisch verhalten, fast so, dass man Angst bekommen könnte. Annette sei davon aufgewacht. Ich konnte mir das nicht erklären, habe es kaum geglaubt. Es sollte ein Geheimnis bleiben, wir wollten niemandem davon erzählen, weder den Gruppenleitern, noch unseren Eltern.

       Das war dann also mein 1. Anfall. Da dieser Pfingstausflug aber noch viele weitere, schöne Überraschungen parat hielt, dachte ich kaum noch daran, obwohl Annette besorgt schien, und beteiligte mich an den Gruppenaktivitäten. Es war doch alles so aufregend und schön.

       Es dauerte nicht lange. Ich hatte mich gründlich getäuscht, ja es fast vergessen, denn schon kamen weitere Anfälle, dieses Mal in Gegenwart meiner Eltern.

       Ab dem Moment setzte in unserer kleinen Familie für einige Momente die Schockstarre ein.

       Meine Eltern waren in höchster Sorge und brachten mich zum Hausarzt Dr. Brunswig, dessen Praxis etwa 3 km von unserem Haus entfernt war. Er war ein außerordentlich umsichtiger Arzt, der meine Eltern über das Nötigste aufklärte und ihnen empfahl, mit mir zum Neurologen und Psychiater Dr. Blumenbach ins 10 km entfernte Lüneburg zu fahren. Hier darf man nicht vergessen, dass wir das Jahr 1976 schreiben, in einem 4000 Einwohner Dorf namens Bardowick, dass in seiner Urstruktur vom Gemüseanbau lebt und wo sich seit Kriegsende weiteres Gewerbe angesiedelt hat.

       Ein Kind – ja ein vor 10 Jahren adoptiertes Kind – zu haben, das Anfälle hat, das war sehr schwer zu verkraften.

      2. Adoption

      Meine "richtige" Mutter, Wiltraud jetzt G. früher M. geb. S. aus Adendorf brachte mich am 13.2.1965 um 21:00 Uhr im Krankenwagen zur Welt und gab mich anschließend sofort zur Adoption frei. Mein richtiger Vater heißt Klaus W. und kommt aus Winsen/Luhe. Mein Vater hat 2 eheliche Kinder, die Constanze und Andreas heißen, und ein weiteres uneheliches Kind mit dem Namen Thorsten W. gezeugt.

       All das weiß ich seit 1989, weil mir das erst die Amtspflegschaft und danach das Standesamt in Lüneburg einfach so am Telefon erzählt haben. Seine Telefonnummer habe ich auch. Angerufen habe ich nie.

       Dann kam ich für die nächsten 10 Monate in Lüneburg ins Kinderheim Wilschenbruch.

       Zu der Zeit lagen ca. 20 Babys in einem großen Saal und wurden vielleicht von 2 oder 3 Schwestern betreut. Es gab einen Zeitplan zum Windeln wechseln und zum Füttern.

       Zum Kuscheln gab es keine Minute.

       Und wenn eines der Babys seine Windel vollgeschissen hatte, musste es warten, bis es laut Schwesternplan an der Reihe war.

       Was machte das Baby also wenn es seinem Unmut Luft machen wollte, denn in der eigenen Scheiße zu liegen ist immer unangenehm?

       Es schreit..........aber es kommt keiner...........die anderen Babys haben vermutlich ein ähnliches Problem....auch sie schreien......es kommt immer noch keiner....so eine Schwester kann ja nicht gleichzeitig bei jedem Baby sein.

       Und sie kommt auch nicht, um zu trösten, sondern kommt, weil sie ihren Job machen muss, also um die Windel zu wechseln.

       Und wenn es ans Essen geht, dann ist sie nur deshalb da, weil sie dem Baby die Flasche gibt.

       Woran ich überhaupt nicht denken mag, ist die Tatsache, dass in jener Zeit die Hände und Füße der Babys an den Gitterstäben festgebunden wurden.

       usw. usw. usw.

       Ich heule immer wieder, auch jetzt wenn ich darüber nachdenke, aber es war so, und ich kann nichts daran ändern.

       So erging es mir also die ersten 10 Monate meines Lebens, und das war meine frühkindliche Prägung.

       Dann kam es zur Adoption durch meine jetzigen Eltern.

       Plötzlich kehrte sich die Situation um. Ich war der Mittelpunkt, umhegt und umsorgt, geliebt und beachtet. Ich wurde nur einmal bis heute von meinem Vater geschlagen und zwar weil ich mit 8 Jahren dem Zahnarzt vors Schienenbein getreten habe.

       Meine Eltern warteten lange auf das erste Wort, welches ich sprechen können sollte. Erwartet wurde "Mama" oder "Papa". Ich entschied mich anders. Ich stand im Gitterbettchen und wollte raus. Meine ersten gesprochenen Worte waren nicht ein einzelnes Wort, sondern der Satz: "Mama bitte hole mich".

       Aus meiner Perspektive war also genau bis zu meinem 3. Lebensjahr alles im grünen Bereich.

       Denn dann kam es zu dem Moment, der mein gesamtes späteres Leben nachhaltig vorbestimmte und glaube mir bitte, es können noch 1 Mio. epileptische Anfälle oder geplatzte Aneurysmen kommen, die mein Gehirn vernebeln, aber das werde ich niemals vergessen:

       Ich saß im Alter von 3 Jahren mit Spielkameraden in der Sandkiste. Dann klaute ich einem Nachbarsjungen seine Sandform. Der fand das doof und wollte mich zurückärgern. Er sagte:

       "Und außerdem hast du gar keine richtigen Eltern, meine sind wenigstens echt, du bist nur ein Adoptivkind."

       Ich war völlig entsetzt und rannte zu meiner Mutter. Bis dato wusste ich nicht was das war, vor allem nicht, dass ich es war.

       Ich erzählte meiner Mutter also, was derjenige gesagt hatte.

       Und sie hat aus heutiger Sicht überaus klug reagiert. Sie erzählte mir in den liebevollsten und schillerndsten Worten wie das war, wie sie mich ausgesucht hatten und schließlich zum Heiligen Abend 1965 auf einem blütenweißen Kissen in ihr Haus trugen, wie toll das war, wie glücklich meine Eltern waren, gerade mich gefunden zu haben und dass ich natürlich ihr richtiges Kind sei. Dann ging sie zum Schrank, zeigte mir (3 jährig) die Geburts- bzw. Adoptionsurkunde und sagte:

       "Siehst Du Susanne, wir sind Deine richtigen Eltern und das haben wir sogar schriftlich."

       (p. s. soweit ich weiß lebt meine richtige Mutter noch. Einmal wollte ich sie kennenlernen, nahm mit Hilfe eines Psychologen all meinen Mut zusammen und habe bei ihr geklingelt, mich vorgestellt und meinen Wunsch geäußert, sie kennenlernen zu wollen. "Das haben Sie ja jetzt getan" war ihre Antwort. Und dann schloss sie ihre Haustür wieder zu. Das ist alles was ich von ihr weiß.)

       Für mich als Dreijährige war alles klar, supertoll und so rannte ich wieder zurück in die Sandkiste, verschränkte meine Arme in den Hüften und stellte mich breitbeinig vor diesen Nachbarsjungen. Dann sagte ich: