Susanne Albers

Ich durfte alles und habe oft teuer bezahlt


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ums Verrecken keine Ahnung davon, ich fand mich total toll … „Lolli, du Epiarsch“ entfuhr es meinem Mund. Und das andauernd beim Streit. Meine Mutter hörte es, auch zu ihr sagte ich mal: „Mama Du bist ein Epi“ als ich mein Zimmer aufräumen sollte. Sie meckerte nicht, sie wusste ja nicht, was das war.

      Bis zum ersten Anfall von mir …

      Ich bekam ein mega schlechtes Gewissen. Oh Gott, was hast du nur all die Jahre Schlimmes gesagt, dachte ich mir. Und nun das: ich bin ein Epiarsch.

      Ich glaubte ernsthaft, das ist die Strafe Gottes … ach was … glaubte … irgendwie glaube ich es immer noch. Ein ganzes Kinderleben lang stritt ich mich mit den Worten: „Du Epi, Du Blöder“ und jetzt ereilt mich der Zorn Gottes und ich bin selber zum Epi geworden.

      All die Jahre vergingen und nie fand Dr. Blumenbach einen Herd oder sonstigen pathologischen Befund in meinem EEG. Woher sollte ich es also haben? Diese Epilepsie? Im Kopf bei mir ist alles okay sagt das CT und heute MRT.

      Meine späteren Ärzte sagten, dass die Untersuchungsmethoden noch nicht soweit sind, auch diese Mini Anfallsauslöser in meinem Gehirn zu finden seien. Okay, fürs Erste glaube ich Ihnen. Jedoch werde ich mich auch weiter an meine Kindersünde „Du Epi“ erinnern.

      Und wenn ich mich dann einmal wieder an damalige Zeiten erinnere, stelle ich heute fest, dass ich meinen Frieden mit Gott geschlossen habe. Wenn es gar nicht anders geht, schlage ich die Bibel auf, und lese den Zweiten Korintherbrief Kapitel 12:

       12,7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. 12,8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. 12,9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne. 12,10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

      5. Blau angelaufen, 3 Anfälle im Schlaf

      Nach und nach, immer in Hab Acht Stellung, normalisierte sich unsere häusliche Situation. Mit dem Schrecken davon gekommen war ich nicht, auch die Sorgen meiner Eltern um mich machten ja nur Pause bis zum nächsten Anfall. Ob man sich daran gewöhnen kann, weiß ich auch nicht. So Einiges kristallisierte sich jedenfalls heraus:

      Wir sprachen zuhause, im Familienkreis und näheren Freundeskreis offen über die Epilepsie. Wir verheimlichten nichts.

      Meine Mutter hatte einen prima Satz, an den ich mich noch heute immer wieder erinnere:

      „Susanne, du kannst ja machen, was du willst, aber wenn du meine Meinung dazu hören willst …“

       Damit war alles erklärt, es gefiel ihr nicht, was ich vorhatte.

      Uns allen war irgendwie klar, dass Dieses oder Jenes für mich gefährlich ist. Heutige „Helikoptereltern“ überbehüten ihr Kind. Meine Eltern ließen mir unglaublich viele Freiheiten und schränkten mich nicht ein. Das übliche, du darfst wegen des Flackerlichts nicht in die Disko, wurde zwar angesprochen, aber nicht reguliert oder als Gesetz geregelt. Wir waren alle sehr feinfühlig. Klar spürte ich, welche Sorgen sich meine Eltern machten, ich konnte ihre Befürchtungen erahnen, auch wenn es nie direkt und offen à la „du kannst bei nächsten Anfall sterben“ ausgesprochen wurde. Meinerseits – analog zum Kinderheimscenario „wir bringen dich wieder zurück“, war ich meinen Eltern gegenüber zunächst sehr rücksichtsvoll und war anfangs vorsichtiger.

      Die großen Anfälle hatten es auch wirklich in sich. Ohne jede Voranmeldung bin ich einfach so aufs Gesicht gestürzt ohne mir mit den Armen zu Hilfe zu kommen und fing an zu krampfen, zu zittern, urinierte, kotete nicht, biss mir auf die Zunge, stieß mich hier und da, alles wie aus dem nichts in den unmöglichsten Situationen. Wir sind nicht aus Vorsicht zuhause geblieben. Meine Eltern nahmen mich überall mit hin. Und so geschah es beim Familienfest, im Supermarkt, im Freibad, im Restaurant… wo auch immer, und natürlich auch im Schlaf. Meine Eltern hörten vom etwas entfernteren Elternschlafzimmer meinen Initialschrei im Kinderzimmer, kamen angelaufen und fanden mich mitten in der Nacht am Krampfen.

      3x kamen sie fast zu spät, mein Kopf war unter dem Kopfkissen bereits blau angelaufen, sie drehten mich um, schüttelten mich, als der Anfall bereits vorbei war, dann setzte meine Atmung wieder ein. Weitere zwei Male später kam der Hausarzt Dr. Brunswig nachdem ihn mein Vater mitten in der Nacht verständigte und reanimierte mich. Zu der Zeit war ich etwa 13 – 15 Jahre alt. Meine Anfälle dauerten im Schnitt jeweils 2o Minuten.

      Und alle EEGs waren danach bei Dr. Blumenbach ohne Befund.

      6. Kind im Gitterkäfigbett

      Ich persönlich kannte ja nur meine Anfälle vom Hören Sagen. Ich hatte noch nie einen epileptischen Anfall gesehen. Das sollte sich ändern. Zur genaueren Diagnostik schickte mich Dr. Blumenbach ins Städtische Klinikum Lüneburg auf die Kinderstation. Der Aufenthalt war unglaublich nachhaltig für mich.

       Neben mir lag ein etwa 4 jähriges Kind in einem vollvergitterten Kinderbett auf Rollen. Es sah aus wie ein Käfig, war es auch, der Junge konnte drin stehen. Kaum hatte ich dieses Kind entdeckt, bekam es einen großen Anfall. Ich erschrak zutiefst. So sehe ich also aus, wenn ich 1 - 2x im Monat so einen Anfall habe. Der Junge tat mir unendlich leid. Darüber vergaß ich in dem Moment meine eigenen Anfälle. Aber es verhielt sich anders, als ich vermutete. Schon nach etwa 2 Minuten war der Anfall des Kleinen vorbei, er schaute kurz auf und spielte dann weiter. Die Schwester kam, ich berichtete ganz aufgeregt, was vorgefallen war und sie bejahte, ja, sie wüsste das. Ich solle aber nicht erschrecken, in ca. 15 Minuten käme der nächste Anfall bei dem kleinen Jungen. Und so geschah es auch den ganzen Tag. 4 Grand Mal Anfälle in der Stunde. Ich war fassungslos einerseits – übermütig andererseits, dass es mir doch so gut ging.

       Und ab diesem Aufenthalt wurde ich angstfrei. Aus meinen eigenen Anfällen machte ich mir nicht mehr so viel. Übermut ist wirklich das richtige Wort. Aber es war sehr gefährlich.

      7. Hamburg 1982, Alsterdorfer Anstalten bei Prof. Funke

      1982 las meine Mutter einen Artikel in der Zeitung mit einem Interview mit Herrn Prof. Funke aus den Alsterdorfer Anstalten über das Thema Epilepsie. Sie musste sofort an mich und meine ausweglose Situation denken. Meine Mutter war ein außerordentlich lebhafter Mensch; immer auf den Beinen, immer eine gute Idee.

       So dauerte es nicht lange, dass sie einen Termin zur Sprechstunde bei Prof. Funke für mich in Hamburg (eine Autostunde von Bardowick) ausmachte. Sie brauchte aber eine Überweisung von Dr. Blumenbach für mich. Dabei geriet sie ins Stolpern. Dr. Blumenbach war mit der Konsultation überhaupt nicht einverstanden, Zähneknirschend übergab er ihr schließlich die Überweisung.

       Herr Prof. Funke, die große Epilepsie Koryphäe nahm sich tatsächlich Zeit für uns. Meine Mutter war glücklich, ich skeptisch. Da ich aber nun überhaupt nichts zu verlieren hatte, im Gegenteil, bin ich freudig mitgegangen.

       Er nahm sich Zeit für uns, hörte geduldig zu, machte noch ein EEG von mir und sah es durch. Prof. Funke kritisierte meine Medikation. Er schlug Leptilan (Valproinsäure) vor. Leptilan war Anfang der 1980er sehr vielversprechend auf den Markt gekommen. Herr Dr. Blumenbach solle es mir verschreiben, Prof. Funke gab uns einen Arztbrief mit. Natürlich war Herr Dr. Blumenbach von diesem Medikamentenwechsel überhaupt nicht angetan, verschrieb es aber.

       Vom Leptilan nahm ich an Gewicht so einige Kilo zu. Außerdem hatte es Einfluss auf meine Monatsblutung. Die Regel blieb aus. Oh Schreck, ich hatte schon einen ersten Freund, kann das sein? Schwanger? Die Alarmglocken schellten. Auf in die Apotheke, Schwangerschaftstest kaufen.

       Der 1. Test war positiv, der 2. auch, der 3. negativ. Oh je oh je… auf zur Gynäkologin. Große Untersuchung, Entwarnung, nicht schwanger.

       Und in den folgenden