Anita Jurow-Janßen

Toxicus


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ein schlechtes Gewissen. Ronny hatte an der Hauswand der Schule gelehnt und sie und ihre Freundin beobachtet.

      Das Gefühl, Außenseiter zu sein, kannte sie nur zu gut. Dass sie nirgends ausgeschlossen wurde, hatte sie nur Birgit zu verdanken. Anfangs machten alle Klassenkameraden wegen ihrer Fettsucht einen großen Bogen um sie, und das tat weh.

      Auf dem Rückweg in ihr Klassenzimmer sprach sie Birgit auf Ronny an. „Meinst du nicht, dass wir ihn auch hätten einladen sollen? Er sah so traurig aus. Ich glaube, er hat mitbekommen, dass er nicht dabei sein soll.“

      Birgit sah sie empört von der Seite an und blieb abrupt stehen.

      „Spinnst du? Der hat sie doch nicht mehr alle. Der hätte mir gerade noch gefehlt.“

      Sanne erschrak. Mit einer derartigen Abwehr hatte sie nicht gerechnet.

      „Aber er tut mir leid. Er ist sicher sehr unglücklich. Sonst wäre er nicht so ein Außenseiter.“

      Birgits Augen waren immer größer geworden. „Außenseiter? Ein Spinner ist der. Und ein Spanner noch dazu. Er hat vor unserem Haus gestanden und in mein Zimmer geglotzt. Und du nimmst den auch noch in Schutz!“

      „Was? Das hast du mir ja gar nicht erzählt.“

      „Ich hab es nicht so wichtig genommen.“ Birgit war weitergelaufen und sah sie etwas schuldbewusst von der Seite an. „Es war ja auch nur ein Mal. Ich hab es wohl vergessen dir zu sagen. Tut mir leid. Ist aber auch schon eine Weile her.“

      Sanne war jetzt stehen geblieben und sah Birgit ungläubig hinterher. „Vergessen?“ rief sie. „Wie lange ist das her? Wann war das?“

      Birgit drehte sich um. „Weiß ich nicht mehr so genau. Komm jetzt! Nicht sehr lange. Ich will ihn jedenfalls nicht auf meiner Party haben.“

      „… Aber … war der das, der schon mal auf der Auffahrt stand? Du weißt, als Ben jemanden gesehen hat?“

      „Kann sein. Hab ich auch schon dran gedacht. Aber wissen tue ich es nicht. Ist mir eigentlich auch egal.“

      „Sag mal! Das ist doch nicht egal. Frag ihn, was das soll!“

      „Du spinnst. Der kann mich mal.“

      „Aber …“ Sanne sah Birgit fassungslos an. „Hast du wenigstens mit Ben darüber gesprochen?“

      „Wieso mit Ben? Der geht mir doch so schon jeden Tag auf den Keks.“

      „Und deine Eltern? Wissen die das?“

      „Quatsch. Was sollen die denn schon machen? Die Auffahrt ist so lang. Wenn jemand hinläuft, ist der doch längst verschwunden.“

      „Vielleicht hätten sie die Polizei informiert.“

      „Das fehlte noch. So ’n Aufwand für den Spinner.“

      „Bist du denn sicher, dass Ronny das war?“

      „Klar bin ich sicher. Ich hab ihn genau erkannt. Er hatte ein Fernglas dabei. Der kann doch von da aus genau in mein Zimmer glotzen. Ich hab extra die Gardinen aufgezogen, damit er merkt, dass ich es weiß. Ich hab mich in Pose gestellt.“

      Birgit kicherte. Sanne sah sie mit aufgerissenen Augen und offenem Mund an.

      „Ich glaub, du bist verrückt geworden.“

      Birgit umfasste Sannes Schultern und zog sie an sich, so weit das bei ihrem Umfang möglich war.

      „Nur keine Panik“, sagte sie lachend.

      „Was soll der mir schon tun?“

       ***

      Ronny machte sich auf den Weg zu Lukas Schröder. Sein Fahrrad war kaputt und er fluchte, weil er laufen musste. Bei der Hitze kam ihm der Weg in die Innenstadt von Oldenburg, in der Lukas mit seinen Eltern wohnte, doppelt so lang vor. Er überlegte, wie er Lukas überreden könnte, ihn zu Birgits Party mitzunehmen. Nachdem er an Lukas’ Wohnungstür geklingelt hatte, öffnete dessen Mutter und er fürchtete einen Augenblick, dass Lukas nicht zu Hause wäre. Aber sie begrüßte ihn freundlich und schickte ihn in Lukas’ Zimmer. Lukas sah überrascht von seinem Schreibtisch auf, als er plötzlich vor ihm stand.

      „Was machst du denn hier?“, fragte er etwas unfreundlich.

      „Hi, Lukas! … Na ja, ich will nicht lange rumreden, du bist doch auf Birgits Fete eingeladen und … ich muss unbedingt mit.“

      „Wieso, bist du nicht eingeladen?“

      „Nee, wohl nicht, sonst würde ich nicht fragen. Aber … ich bin scharf auf die Kleine. Kannst du mich nicht einfach mitnehmen?“

      Lukas sah wenig begeistert aus. „Also, ich weiß nicht … Wie soll das gehen?“, fragte er.

      „Weiß ich noch nicht so genau. Aber ich muss unbedingt mit.“

      „Nee, also, das kann ich nicht machen.“

      „Was heißt das? Du bist mir noch etwas schuldig. Vergessen?“

      Lukas sah Ronny aus den Augenwinkeln an. „Du meinst wegen der Natter?“

      „Genau. Du warst so scharf darauf, eine zu bekommen, und ich habe dir eine besorgt. Obwohl deine Eltern das nicht wollten“, ergänzte er. „Was ist überhaupt aus der Kleinen geworden?“

      „Ich hab sie im Schuppen versteckt. Mein alter Herr hat’s noch nicht geschnallt. Das darf er auch nicht. Er würde ausrasten.“

      „Ist mir auch eigentlich schnuppe, wie du das mit der Schlange hinkriegst. Jedenfalls habe ich noch was gut bei dir.“

      „Ich hab ja auch nichts dagegen, dass du mitkommst. Aber wie soll ich Birgit das erklären?“

      „Brauchst du nicht. Hauptsache, ich komme mit rein.“

      Lukas zögerte. Er sah Ronny unsicher an.

      „Na gut. Irgendwie wird das schon gehen. Aber dann musst du mir noch eine Viper besorgen oder eine andere Giftschlange.“

      Ronny atmete auf. „Geht in Ordnung. Ich werde sehen, was sich machen lässt.“

       ***

      Die lange Auffahrt, der Eingangsbereich sowie das ganze Haus erstrahlten in einem so prunkvollen Licht, dass jeder Gast erst einmal stehen blieb und tief Atem holte, bevor er sich auf die Villa zubewegte. Die ganze Familie Giese und Sanne Schönewald hatten Stunden gebraucht, um überall Lampions aufzuhängen und Girlanden zu verteilen. Am Nachmittag sah es so aus, als ob sich ausgerechnet heute die Sonne nicht mehr blicken lassen würde, aber rechtzeitig zum Abend hatten die Wolken sich verzogen und das frühe Abendlicht der Sonne konkurrierte mit den unzähligen Lampen. Es dauerte lange, bis Sanne und Birgit jeden Gast begrüßt und die zahlreichen Geschenke entgegengenommen hatten. Mittlerweile war die Party in vollem Gange und weder Birgit noch Sanne hatten die Sache im Griff. Birgits Eltern, Christa und Ferdinand Giese, hatten sich auf Drängen ihrer Tochter ins Obergeschoss zurückgezogen. Ihr Vater ging nur ab und zu nach unten, um sich einen Überblick zu verschaffen. Es hatte ein paar Tage zuvor heftige Diskussionen mit Birgit gegeben, da ihre Eltern sich eigentlich den ganzen Abend unter die Gäste mischen wollten. Aber Birgit sagte, das wäre doch einfach nur peinlich. Niemand würde sich wohlfühlen, wenn es nach Kontrolle riechen würde. Letztendlich war Ben derjenige gewesen, der den Streit geschlichtet hatte. „Ich bin doch dabei“, hatte er gesagt. „Ich werde aufpassen, dass nichts passiert. Ihr könnt ganz beruhigt sein.“

      Birgit hatte ihn dankbar angesehen. Das erste Mal, dass sie ihm einen wirklich liebevollen Blick zuschickte. In Bens Augen war eine irritierte Verwunderung zu erkennen gewesen. In Birgits Elternhaus war es in letzter Zeit häufig zu Diskussionen gekommen, weil Birgit zunehmend aufsässig wurde und sich nicht an die Regeln hielt, die ihre Eltern ihr auferlegten. Durch den vollkommen durchorganisierten Haushalt der Gieses war es bisher möglich gewesen, sich wenigstens einmal am Tag zusammenzusetzen, um wichtige Dinge zu besprechen, und wenn es Probleme gab, gemeinsame Nenner zu finden. Aber seit einiger