Anita Jurow-Janßen

Toxicus


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wollte sich schon davonmachen, als er die Haustür hörte. Sein Herz schien stillzustehen, als er in Richtung Haus sah. Birgit kam schnellen Schrittes auf ihn zu. „Da bin ich also“, sagte sie.

      „Hallo“, begrüßte er sie unsicher. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“

      „Will sehen, was du mir zu bieten hast“, sagte sie ohne Umschweife.

      „Na, dann komm!“

      „Wohin gehen wir überhaupt?“

      „Ist ein ganzes Stück aus Oldenburg raus. Wir können mit dem Bus fahren.“

      Birgit sah ihn zögernd an. Zweifel standen in ihrem Gesicht. Niemand wusste, was sie vorhatte, noch nicht einmal Sanne.

      Sie trottete neben Ronny her bis zur Bushaltestelle, ohne ein Wort zu sagen. Auch er schwieg. Es dauerte nur einen Moment, bis der Bus kam und sie einstiegen.

      „Ist ja ’ne Weltreise“, brach sie das Schweigen. Sie hatten die Innenstadt hinter sich gelassen und Birgit war immer unruhiger geworden. „Wohin fahren wir überhaupt?“

      „Sind gleich da, wirst schon sehen.“

      Als sie ausstiegen, standen nur noch vereinzelt Häuser an der Straße. Nur wenige schienen bewohnt zu sein.

      „Hier war ich noch nie“, sagte Birgit mehr zu sich selbst, während sie sich immer wieder umsah.

      „Ist nicht mehr weit“, sagte Ronny, der ihre Verunsicherung spürte. Er schlängelte sich durch eine kleine Häusergruppe hindurch zu einem Hinterhof. Am Ende stand eine kleine Baracke, auf die er jetzt zügig zuging. Birgit folgte zögernd.

      „Wohnst du jetzt etwa hier?“ Ihre Stimme wollte nicht richtig gehorchen.

      „Nein, aber hier ist die Überraschung. Ich habe mir nur eine Bude eingerichtet, in der ich mich meistens aufhalte. Meine Eltern ahnen nichts davon. Sie sind kaum zu Hause und wissen nie, wo ich gerade bin.“

      „Aber dann brauchst du doch diese Bude nicht, wenn sie nie da sind.“

      Ronny sah sie geheimnisvoll an. „Sie wissen nichts von meinen Freundinnen, und sie dürfen es auch nicht wissen.“

      Birgits Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen. Was mache ich hier? Was meint er mit Freundinnen? Ihre Schritte wurden immer langsamer.

      Ronny bemerkte ihre Unsicherheit. „Gleich ist es so weit. Du wirst staunen. Komm!“

      Birgit sah sich noch einmal um. Weit und breit war niemand zu sehen. Ronny hatte die Tür inzwischen aufgeschlossen und sah sie erwartungsvoll an. „Na, nun mach schon.“

      Zögernd ging sie durch die Tür.

      2. Kapitel

      Kurz nach der Geburtstagsfeier musste Ronny das Gymnasium für immer verlassen. Er hatte zu viel versäumt und kam weder mit den Schülern noch mit den Lehrern wirklich zurecht. Sein ständiges Schwänzen war letztlich aber der Grund für den Rausschmiss gewesen.

      Die Sache mit Birgit hatte ihn endgültig aus der Bahn geworfen. Birgit war tot. Es war zwar ein Unfall gewesen, Ronny konnte sich aber nicht verzeihen, wie es dazu gekommen war. Nach dem furchtbaren Unglück in seiner Baracke, das Birgit ihr Leben gekostet hatte, fand er überhaupt keine Ruhe mehr. Seine Trauer um Birgit hatte er seit dem schrecklichen Ereignis immer wieder zu verdrängen versucht. Oft wachte er nachts schweißgebadet auf, weil sie ihm im Traum erschien. Tagsüber irrte er umher und entwickelte gegen alles und alle einen zerstörenden Hass. Er brachte seine Eltern schier zur Verzweiflung.

      Nachdem Birgit Ronnys abenteuerliche Behausung am Rande von Oldenburg endlich betreten hatte, war sie nicht nur überrascht, sondern geradezu begeistert von seinen ungewöhnlichen Freundinnen gewesen. Ronny hätte vor Freude am liebsten einen Luftsprung gemacht, als er spürte, wie angetan sie von Anabelle war. Er wollte ihr die drei weiteren Schlangen zeigen, stellte aber mit Entsetzen fest, dass die grüne Mamba, die Namensvetterin von Birgit, fehlte. Die Klappe ihres Terrariums stand einen winzigen Spalt offen. Wie hatte das passieren können? Birgit, die nicht wusste, wie viele Schlangen Ronny besaß, konnte nichts von der Gefahr ahnen, in der sie sich befand. Ronny verschwieg es ihr, weil er befürchtete, dass sie sofort das Weite suchen würde. Um das zu verhindern, ging er mit ihr und Anabelle zu seiner Sitzecke und schaute wie nebenbei unter die Kissen, die verstreut auf dem Sofa lagen. Er konnte jedoch keine Schlange entdecken. Mit bemüht unbefangenem Ton schwärmte er von Anabelle und wie toll es sich anfühlte, wenn man mit ihr Hautkontakt hätte. Seine Augen ließ er währenddessen in seiner Behausung umherschweifen, ohne dass Birgit es merkte. Wo kann sie bloß sein? Ich darf mich nicht verrückt machen. Es wird schon nichts passieren. Ich muss einfach nur die Nerven behalten.

      Er überredete Birgit, ihren Pullover auszuziehen und Anabelle selbst zu spüren. Birgit schaute ihn etwas skeptisch an, der Reiz des Neuen war aber offensichtlich so groß, dass sie tatsächlich ihren Pullover auszog und nun im BH auf dem Sofa saß. Ronny konnte jetzt den Blick nicht mehr von ihr lassen. „Du hast einen wunderschönen Hals“, schwärmte er. Seine Stimme war dunkel und verführerisch.

      Birgit, die mit Anabelle beschäftigt war, lächelte, als sie sagte: „Findest du?“

      „Du bist so wunderschön wie …“ Er stockte. Beinahe hätte er Birgit verraten, dass sie Ähnlichkeit mit der entwichenen grünen Mamba hatte.

      „Wie denn? Was meinst du?“, fragte Birgit und sah ihm erwartungsvoll in die Augen.

      Er wandte den Blick ab. „Na ja, wie meine Schlangen eben. Ich hoffe, du bist über den Vergleich nicht böse.“ Birgit lachte. Ronny, der durch Birgits offensichtliche Begeisterung für Anabelle immer mutiger wurde, setzte sich neben sie und sagte: „Leg dich ruhig hin. Ich lege dir Anabelle auf den Bauch. Das ist das Größte überhaupt. Du wirst sehen.“

      Birgit, die eine enge Jeans trug, die den Bauchnabel frei ließ, bekam sofort eine Wohlfühlgänsehaut, als Anabelle auf ihr lag und anfing, sich zu schlängeln.

      Ronny passte auf, dass Anabelle sich nicht davonmachte. Er nutzte die Gelegenheit, Birgits Bauch mit seiner Hand zu streicheln. Er wusste nicht, ob Birgit das merkte, oder ob sie dachte, es wäre einzig und allein Anabelle, die ihr die Glücksgefühle bescherte. Ronny zog seinen Pullover aus und legte sich zu ihr. Das Sofa war breit genug für sie beide. Er legte sich ein paar Kissen unter den Kopf und schob auch eins unter Birgits Kopf. Er lag etwas höher und konnte ihr Gesicht von oben betrachten. Wie er sie begehrte! Er konnte seine Erregung kaum zügeln und hatte Angst, dass sie es bemerken würde.

      Dann geschah das Unglaubliche. Die grüne Mamba schlängelte sich unter Birgits Kissen hervor. Ronny, zu Tode erschrocken, wollte sie mit seinen Händen greifen, aber sie hatte schon zugeschlagen und Birgit in den Hals gebissen. Birgit schrie laut auf. Ihr Körper zuckte, sie starrte Ronny aus weiten Augen an. Die Farbe ihrer Haut hatte sich grünlich verfärbt, oder sah es nur so aus, weil die Mamba über ihren Körper schlängelte und sich davonmachte? Ronny war aufgesprungen und blickte hilflos auf Birgits Körper, konnte sehen, wie sie verkrampfte und ihre Augenlider offensichtlich nicht mehr schließen konnte. Sie wollte etwas sagen, war aber nicht mehr in der Lage. Sie versuchte, sich zu erheben und nach Ronny zu greifen. Ihre Arme versteiften auf halben Weg, sie fiel zurück und blieb regungslos liegen.

      Ronny stand mit verzerrtem Gesicht neben ihr, die Schultern hochgezogen, die Arme schwer wie Blei und unfähig, irgendwie einzugreifen. Von Panik erfüllt grübelte er, was er tun sollte. Er sah die grüne Mamba auf dem Fußboden und starrte diese voller Wut an. Schließlich rannte er los und holte die Stange, mit der er die Giftschlagen üblicherweise fixierte. Sie stand wie immer neben den Terrarien. Als er zurückkam war die Mamba verschwunden. Verzweifelt rannte er im Zimmer umher und versuchte, sie zu finden. Er blieb vor Birgit stehen und sah, dass ihr Körper immer noch zuckte. Sie rang offensichtlich mit dem Tode. Er wandte den Blick wieder ab und seine Augen schweiften erneut durch den Raum. Nirgends war etwas von der Schlange zu sehen. „Wo bist du, du verfluchte Mamba? Was hast du angerichtet?“ Ronny gab dem Sessel einen Tritt, schmiss den anderen mit beiden