Anita Jurow-Janßen

Toxicus


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weiter. „Ich muss zu einem Kunden von Dad. Tut mir leid, aber ich bin schon spät dran.“

      Sanne hielt ihm die Zeitung entgegen.

      „Das musst du lesen“, sagte sie. „Stell dir vor, am Bahndamm in der Nähe vom Schützenweg hat man sie gefunden. Sie wurde aber wahrscheinlich nicht dort umgebracht. Lies selbst!“

      Bens Blick wurde neugierig. Er nahm ihr die Zeitung aus der Hand und überflog die Zeilen.

      „Ist ja unglaublich“, sagte er. Seine Hand strich dabei nachdenklich über sein Kinn.

      „Aber sei bitte nicht böse, ich muss trotzdem los. Ich habe einen wichtigen Termin. Wir können heute Abend darüber reden, okay?“

      „Glaubst du, das könnte was mit Birgit zu tun haben?“, fragte Sanne.

      „Ich weiß nicht. Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Aber wie gesagt, ich muss los.“

      Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund. „Soll ich dich zu Hause absetzen?“, fragte er.

      „Nein, nein, ist schon gut. Wir sehen uns heute Abend. Fahr mal los!“

      Ben war schon fast im Auto, als sie ihm hinterherrief: „Wann soll ich denn kommen?“

      „Nicht vor acht!“

      Die ersehnte Gemütlichkeit war für Sanne gelaufen. Während sie eine heiße Dusche nahm, versank sie in Grübeleien um den alten und den neuen Fall. Der Regen prasselte immer noch gegen die Fensterscheiben. Ihre Eltern waren noch nicht zu Hause, sodass sie sich selbst eine Kanne Tee aufbrühte, die sie mit in ihr Zimmer nahm. Ihr Blick streifte über ihr Bücherregel und sie erblickte die weiße Pappbox, in der sie alles, was sie über das Verschwinden von Birgit gesammelt hatte, verwahrte. Sie musste auf einen Stuhl steigen, um die Schachtel herunterzuholen. Aufgeregt kramte sie die Zeitungsartikel hervor, die mit der Sache zusammenhingen. War Birgit vielleicht auch vergiftet worden? Sie musste herausfinden, wie weit der Fall der Fremden schon aufgeklärt war. Ihr fiel Sebastian ein, der in Birgit verknallt gewesen war und ebenfalls versucht hatte, sie zu finden. Damals hatten sie zusammen recherchiert, aber letztendlich war alles erfolglos geblieben. Es waren einige Jahre vergangen und Sebastian war bei der Polizei gelandet. Sie wusste nicht, ob seine Ausbildung schon beendet war, denn sie hatten sich aus den Augen verloren. Sie würde ihre Freundschaft wieder aufleben lassen und sie nutzen, um an Informationen über den aktuellen Todesfall heranzukommen. Seine Handynummer hatte sie noch gespeichert. Sie versuchte sofort, ihn zu erreichen. Seine Mailbox sprang an.

      „Hallo Sebastian, ich bin’s, Sanne. Bitte melde dich bei mir! Wenn’s geht, noch vor acht.“

      Sanne hatte die Zeitungsartikel auf ihrem Bett verteilt. Sie setzte sich im Schneidersitz dazu, um eventuell etwas zu entdecken, was sie übersehen haben könnte. Es führte aber nicht die geringste Spur zu Schlangen oder zu Gift. Gar nichts. Nach einer ganzen Weile klingelte ihr Handy. Schnell griff sie danach. Sie sah, dass der Anrufer Sebastian war und spulte ihr Anliegen ohne Punkt und Komma herunter.

      „Hallo, Sebastian! Ich hab den Artikel über den Mord in der Zeitung gelesen. Weißt du was darüber? Könnte Birgits Verschwinden etwas damit zu tun haben? Vielleicht ist sie ja auch vergiftet worden und wir sind nur nicht darauf gekommen.“ Sie hielt einen Moment inne. „Sorry! Ich bin so aufgeregt. Ich wollte nicht unhöflich sein.“

      „Guten Tag, liebe Susanne. Danke, mir geht es gut. Es ist dir aber sicher klar, dass ich dir darüber keine Auskunft geben darf, oder?“

      Sebastians Worte kamen langsam und klar. Sanne schrumpfte unter seinen Worten buchstäblich zusammen. Wie sollte sie das jetzt noch hinbekommen?

      „Ent… Entschuldigung“, stammelte sie. „Eigentlich weiß ich das ja. Aber du denkst doch sicher auch noch an Birgit. Vielleicht hängen die Fälle ja zusammen.“

      „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wie gesagt, ich kann zu dem neuen Fall nichts sagen. Ich darf nicht. Ich stehe kurz vor der Abschlussprüfung und ich habe nicht vor, mir das zu verscherzen.“

      „Natürlich nicht. Das verstehe ich. Tut mir leid. Aber vielleicht können wir uns trotzdem mal wieder treffen. Über alte Zeiten quatschen, du weißt schon.“

      Eine Pause verstrich. Es folgte ein kurzes hartes Lachen.

      „Vielleicht irgendwann. Wie gesagt. Ich stehe kurz vor dem Abschluss. Danach kannst du ja mal wieder anfragen.“

      Sanne ärgerte sich über seine Hochnäsigkeit, aber sie verkniff sich einen zynischen Kommentar. Stattdessen fragte sie: „Wann ist denn die Prüfung?“

      „Nächsten Monat.“

      „Okay, ich melde mich dann noch mal.“

      „Mach das.“

      „Verflucht! Ich habe es vermasselt. Typisch Sanne“, schimpfte sie mit sich selbst, nachdem sie aufgelegt hatte. Ihr war zum Heulen zumute.

      „Sanne, kommst du zum Abendessen?“

      Ihre Mutter rief und Sanne ging hinunter, ohne auch nur eine Spur von Hunger zu empfinden. Nach einer Weile des Schweigens erzählte sie ihren Eltern von dem Zeitungsartikel.

      „Kind, die Fälle müssen aber nicht zusammenhängen. Mach dich bitte nicht schon wieder verrückt damit!“, sagte ihre Mutter besorgt.

      Die Zeit nach Birgits Verschwinden hatte niemand in guter Erinnerung. Sanne war sich darüber im Klaren, dass ihre Eltern keine Lust hatten, das alles noch einmal mitzumachen, schon gar nicht, wenn es jetzt um eine Fremde ging.

      „Ich weiß“, erwiderte sie. „Aber ich kann einfach nicht anders.“

      „Was heißt das?“, fragte ihr Vater barsch. „Ich glaube, du solltest das der Polizei überlassen.“

      Sanne sah ihre Eltern prüfend an. Ihre Mutter starrte auf die Scheibe Brot, die sie gerade schmierte. Sanne bemerkte, wie ihre Hände zitterten. Der Blick ihres Vaters wanderte von der Mutter zu ihr und zurück. Sanne glaubte, Verzweiflung in seinen Augen zu sehen. Es ist wohl besser, sie mit diesem Thema in Ruhe zu lassen.

      Als Sanne sich auf den Weg zu Ben machte, hatte es aufgehört zu regnen und sie saugte die reingewaschene Luft tief in sich hinein. Würde Ben auch so abweisend reagieren wie ihre Eltern? Hoffentlich nicht! Ihre Eltern hatten genau wie sie selbst eine lange Leidensphase hinter sich, die nicht nur mit Birgits Verschwinden, sondern vor allem auch mit ihrer, Sannes, Gesundheit zusammenhing. Das anfängliche Abnehmen konnte niemand als glückliche Fügung werten. Nicht ihr Körper war das eigentliche Problem, sondern die tiefe Depression, in die sie nach Birgits Verschwinden stürzte und die von keiner Birgit mehr aufgefangen werden konnte. Mit einer kurzfristigen Einweisung in eine psychosomatische Klinik und der aufopfernden Hilfe von Ben konnte ihre Krankheit besiegt werden. Sie hatte zudem großes Glück gehabt, an einen verständnisvollen, aber sehr zielgerichteten Professor zu geraten, der auch das Problem Fettsucht in Angriff nahm. Es war schon bald ihr eigener Wunsch, sich der strapaziösen Fettabsaugung und den weitreichenden Folgen zu unterziehen. Das alles war nur möglich gewesen, weil ihre Glücksgefühle wegen Ben so überwältigend waren, dass sie jeden Schmerz zu ertragen bereit war. In dieser Zeit kämpften Ben und sie gemeinsam gegen das Gefühl der Machtlosigkeit an. Sie versprachen sich, das Ziel, Birgits Verschwinden aufzuklären, niemals aufzugeben.

       Ben ist seiner Schwester viel näher als meine Eltern. Er wird sicherlich immer noch bereit sein, jede neue Spur zu verfolgen, die uns weiterbringt. Inzwischen sind aber so viele Jahre vergangen, dass ich mich frage, ob es uns beiden wirklich guttut, alles wieder aufzuwühlen.

      Tief in diese Zweifel versunken kam sie bei der Villa an. Als sie endlich mit Ben in seinem Zimmer saß, las er sich den Artikel noch einmal durch. Sie selbst hatte es inzwischen gefühlt zwanzigmal gemacht.

      „Was denkst du?“, fragte sie, und sah Ben mit erwartungsvoll funkelnden Augen an.

      „Na ja,“ sagte er, „viel kann man daraus nicht lesen.“

      Sanne erzählte von ihrer Kontaktaufnahme