Anita Jurow-Janßen

Toxicus


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was? Kann ich mir genau vorstellen!“

      „Ja, ich war zu aufgeregt“, gab sie kleinlaut zu.

      „Aber ich werde dranbleiben. Er ging doch früher immer ins Amadeus. Vielleicht macht er das ja immer noch. Lass uns doch am Freitag einfach mal hingehen … oder Samstag … wie du lieber willst. Vielleicht haben wir Glück und er ist da. Was meinst du?“

      Ben sah sie wenig begeistert an. „Ich glaube, das solltest du allein machen. Du kennst ihn besser. Wenn ich mit auftauche, sagt er bestimmt gar nichts. Du musst ihn in ein Gespräch verwickeln.“

      „Genau das habe ich vor. Aber es wird nach meinem gescheiterten ersten Versuch wohl nicht so einfach werden.“

      Am Freitag machte Sanne sich auf den Weg zur Bar Amadeus. Sebastian war nicht da. Auch am Samstag nicht. Sie sah sich ungeduldig um, enttäuscht dass er nirgends zu entdecken war. Nach einer Weile fragte sie Onno, der hinter der Theke stand, ob Sebastian immer noch Stammgast sei.

      Onno grinste sie mit dem Versteherblick an. „Wenn er nicht gerade Dienst hat, ist er oft hier. Aber das ist in letzter Zeit eher selten. Ich glaub, er hat bald Prüfung. Er hat so was gesagt. Aber so gut kenne ich ihn auch nicht.“

      Sanne wollte ihn noch weiter ausfragen, aber er hatte sich schon abgewandt und war mit dem Bedienen anderer Gäste beschäftigt. Enttäuscht machte sie sich auf den Weg zu Ben. Wie sollte sie an Bastis Dienstplan herankommen? Sie musste es wohl einfach immer mal wieder versuchen, ihn hier anzutreffen. Vielleicht hatte sie ja irgendwann Glück.

      Sanne spürte schon lange, dass es an der Zeit war, sich von ihren Eltern abzunabeln. Aber immer wieder hatte sie das Thema vor sich hergeschoben, weil sie nicht wusste, wie ihr das Alleinsein bekommen würde. Als dann plötzlich Gilda, eine neue Kommilitonin in der Uni, auftauchte und fragte, ob sie nicht zusammenziehen könnten, war sie gleich hellhörig geworden. Es war eigentlich nur so scherzhaft dahergeredet gewesen. Gilda stand vor dem schwarzen Brett und fluchte so laut, dass Sanne es gehört hatte. Sie ging auf Gilda zu und fragte, ob sie helfen könne. Gilda wäre ihr vor Freude fast um den Hals gesprungen, als sie erwiderte, sie würde darüber nachdenken. Sie hatten sich verabredet und so war der Plan gewachsen.

      Natürlich, Sannes Eltern waren immer für sie da und liebten sie sehr. Sie wusste das. Aber seit sie wieder angefangen hatte, Birgits Verschwinden zu erforschen, herrschte eine angespannte Atmosphäre in der Familie. Ihre Eltern hatten Angst, ihre Tochter könnte sich mal wieder in die Sache hineinsteigern und erneut seelisch krank werden. Aber Sanne wusste in ihrem Innersten, dass etwas ganz Schlimmes mit Birgit passiert war. Daher würde sie keine Ruhe geben, bis der Fall aufgeklärt war. Ihre Eltern sahen sie skeptisch an, als sie ihnen verkündete, dass sie ausziehen wolle.

      „Und wie willst du das finanzieren?“, fragte ihr Vater mit dem Das-kannst-du-doch-gar-nicht-Blick.

      „Ich werde mit einer Kommilitonin zusammenziehen. Wir teilen uns die Kosten. Wenn es nicht reicht, ziehen wir eventuell auch zu dritt zusammen. Ich muss es noch genau durchrechnen.“

      „Weißt du denn schon, mit wem?“, fragte ihre Mutter erstaunt.

      „Ich habe euch doch von Gilda erzählt, die erst vor Kurzem nach Oldenburg gezogen ist. Sie hat mich gefragt.“

      Ihre Eltern sahen sich in die Augen, und Sanne wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich schon mit diesem Thema auseinandergesetzt hatten.

      „Na gut. Wenn du unbedingt willst. Wir können dir monatlich etwas beisteuern“, sagte ihr Vater.

      Sanne stutzte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie gab regelmäßig Nachhilfe und da sie auch das Kindergeld für sich in Anspruch nehmen durfte, dachte sie, mit einer oder zwei Freundinnen zusammen könnte ihr Geld reichen. Jetzt hatte sie den Eindruck, dass ihre Eltern nicht abgeneigt waren, sie loszuwerden, und das schmerzte auch irgendwie. Aber der dauernde Streit um Birgits Verschwinden und jetzt auch noch der neue Fall mit der Toten aus der Zeitung, das war wohl zu viel für sie. Sie wollen einfach nur ihre Ruhe haben. Sie sah ihre Mutter versöhnlich an, die erstaunlich ruhig am Tisch saß und ihrem Vater an den Lippen hing. Sanne hatte noch die Worte im Ohr, die ihre Mutter vor nicht allzu langer Zeit zu ihr gesagt hatte:

      „Du hättest zur Polizei gehen sollen. Es wäre sicher eine gute Kommissarin aus dir geworden. Wahrscheinlich hättest du den Fall Birgit und den der Toten aus der Zeitung schon längst gelöst.“

      Seit Sanne mit Ben zusammen war – und wahrscheinlich auch deshalb, weil sie eine „normale“ Figur bekommen hatte – war ihr Selbstbewusstsein so weit gewachsen, dass sie sich zutraute, allein oder mit einer Freundin zusammenzuleben. Als sie noch unter der Fettsucht litt, hätte sie sich ein Leben ohne ihre Mutter nicht vorstellen können. Ihre Eltern und ihr Bruder Erik hatten immer zu ihr gehalten. Aber mit Freundinnen war es so eine Sache gewesen. Unter ihren Blicken hatte sie sich immer unsicher gefühlt. Die einzige Freundin, der es offensichtlich nie etwas ausgemacht hatte, sich mit ihr zu zeigen, war Birgit gewesen. Und genau dafür würde sie ihr auch über ihr Verschwinden oder ihren Tod hinaus ewig dankbar sein. Nicht selten hatte sie daran gedacht, sich etwas anzutun. Birgit hatte es immer gespürt, wenn es ihr schlecht ging. Sie hatte einen katzenhaften Instinkt und war immer zur Stelle gewesen, um sie aus ihren Nöten zu retten. Nach Birgits plötzlichem Verschwinden hatten ihre Eltern, ihr Bruder und nicht zuletzt Ben, der sie immer geachtet hatte, sie am Leben erhalten.

      Jetzt war es für Sanne an der Zeit, sich um ihre Angelegenheiten einzig und allein selbst zu kümmern. Sie liebte Ben, und sie würden sicher irgendwann zusammenziehen, aber das hatte noch Zeit. Bevor sie ihr Studium abgeschlossen hatte, wollte sie es auf keinen Fall. Bens Vater würde nicht dulden, dass er aus seinem Haus auszieht, und Sanne graute davor, in der verstaubten Villa zu wohnen. Sie wollte von niemandem abhängig sein, auch nicht von Ben.

      Es waren inzwischen zwei Monate vergangen, seit Sanne ihre Eltern in die Umzugspläne eingeweiht hatte. Mithilfe eines Dozenten von der Uni konnte sie ein Appartement finden, das zentrumsnah lag und dennoch bezahlbar war. Sicher, es war nicht gerade eine Luxuswohnung. Sie lag direkt unter dem Dach und die Räume waren klein. Aber insgesamt war sie groß genug für zwei. Gilda und sie hatten jede ein Zimmer für sich. Dahin konnten sie sich zurückziehen, wenn sie mal allein sein wollten.

      Sanne war glücklich. Sie hatte in Gilda eine neue Freundin gefunden. Fast jeden Dienstag aßen sie im Litfaß zu Mittag. Beide liebten Pasta und es gab an diesem Tag dort immer ein Spaghettigericht. Eines Tages, als beide in ein Gespräch über ihre Nachhilfeschüler vertieft vor einem Teller dampfender Spaghetti saßen, sah Sanne Sebastian ins Lokal kommen. Sie hätte sich beinahe verschluckt und Gilda musste lachen, weil eine Spaghetti noch aus ihrem Mund heraushing. Sanne hatte durch ihren Umzug in die Zweier-WG noch mehr Geld mit Nachhilfeunterricht verdienen müssen und keine Zeit gehabt, sich um Bastis Prüfungstermin und schon gar nicht um seinen Dienstplan zu kümmern.

      Nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hatte, freute sie sich, dass das Schicksal ihr Basti jetzt in die Hände spielte. Er sah sich gerade um, schaute ihr sogar ins Gesicht, drehte sich aber sofort wieder weg. Zuerst dachte Sanne, das wäre Absicht gewesen, aber dann fiel ihr ihre körperliche Veränderung ein. Basti hatte sie noch nie so dünn gesehen. Unwillkürlich musste sie grinsen. Was der wohl sagen würde, wenn er sie erkannte!

      „Wen starrst du denn so an?“, fragte Gilda.

      „Sebastian ist hereingekommen“, sagte Sanne leise. „Ich kann es kaum fassen.“

      „Was? … Der Sebastian?“, fragte Gilda.

      „Ja, der Sebastian. Genau der.“

      Sanne hatte Gilda von Birgits Verschwinden und ihren Recherchen darüber erzählt. Auch das verunglückte Gespräch mit Basti hatte sie ihr nicht vorenthalten. Gilda war sehr berührt gewesen, als sie merkte, wie sehr Sanne immer noch unter Birgits Verschwinden litt. Sie hatte versprochen, ihr so gut wie möglich bei der Suche nach der Wahrheit zu helfen. Gilda hatte Birgit nicht gekannt. Sie war aus Varel zugezogen, wo sie das Lothar-Meyer-Gymnasium besucht hatte, bevor sie ihr Studium in Oldenburg begann. Sie war zwei Jahre jünger als ihre neue Freundin Sanne. Immer wieder hatte sie diese wegen des mysteriösen Verschwindens